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Clara Zetkin 19090816 Der Generalstreik in Schweden

Clara Zetkin: Der Generalstreik in Schweden

(August 1909)

I.

[“Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, Nr. 23, 16. August 1909]

Die vorstehende Veröffentlichung der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften ruft die klassenbewussten Proletarier Deutschlands zur treuen Erfüllung einer selbstverständlichen Pflicht der internationalen Solidarität auf. Als Preisfechter der Ausgebeuteten aller Länder stehen die werktätigen Massen Schwedens im Generalstreik. Denn wenn sie sich auch zunächst ihrer eigenen Haut wehren, de ihnen ein ebenso profitgieriges als beschränkt-protziges Unternehmertum abziehen möchte, so dienen sie bei der Solidarität der Klassenlage und der Klasseninteressen, welche die Proletarier aller Länder verknüpft, doch damit auch dem Wohle, dem Befreiungskampf ihrer Brüder und Schwestern außerhalb Schwedens.

Es ist nicht das erste Mal, dass die schwedische Arbeiterklasse im Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und im Vertrauen auf ihre eigene Macht zur wuchtigen Waffe des Massenausstandes greift. Bereits 1902 hat sie diese unter Führung der Sozialdemokratie in einem kurzen Demonstrationsstreik erprobt, der einem politischen Zwecke, der Wahlrechtsreform, galt. In den wohl disziplinierten Anlauf errang sie damals einen halben Sieg. Noch zu schwach, die sozialdemokratischen Wahlrechtsforderungen durchzusetzen, war sie bereits stark genug, die reaktionären bürgerlichen Wahlrechtsanträge zurückzuschlagen und die ganze Frage in rascheren und kräftigeren Fluss zu bringen.

Nach sieben Jahren hat das schwedische Proletariat das gewaltige Schlachtschwert des Massenstreiks abermals gezückt. Heute unter Führung der zentralisierten Gewerkschaften im wirtschaftlichen Kampfe. Aus einem langwöchigen Konflikt zwischen den Arbeitnehmern und Arbeitgebern in der Herrenkonfektion und der Zelluloseindustrie ist er hervor gewachsen. Aber es hat sich bald gezeigt, dass hinter den Unternehmern dieser Gewerbegruppen das kapitalistische Ausbeutertum des ganzen Landes steht. Das will die Krise welche ohnehin die Lohnsklaven blutig geißelt, seinem maßlosen Beutebegehren nutzbar machen. Es trachtet danach, den Werktätigen die Errungenschaften wieder abzujagen, die sie mit Hilfe ihrer Gewerkschaften in der Zeit des flotten Geschäftsganges ertrotzt haben. Es möchte den Standpunkt des Herrseins im Hause mit Brutalität zur Geltung bringen und daher den Arbeitern und Arbeiterinnen jedes Mitbestimmungsrecht bei Festsetzung der Arbeitsbedingungen rauben. Vor allem aber steht sein Sinn nach der Weißblutung, der Zerschmetterung der Gewerkschaften. Eine seit Jahren schon geübte Aussperrungspraxis großen Stils soll sie herbeiführen. Das organisierte Unternehmertum wollte auch jetzt mit dieser Praxis auf den Plan treten. Die Gewerkschaften aber sind der Generalaussperrung mit dem Generalstreik zuvorgekommen. Der Kampf in zwei Industrien wurde zum erbitterten Ringen zwischen Kapital und Arbeit im ganzen Lande.

Die Parole der Gewerkschaftsvorstände: “die Hände von der Arbeit” ist mit bewundernswürdiger Einmütigkeit aufgenommen worden. Von etwa 530.000 Arbeitern, die in Schwedens Industrie, Handel und Verkehr beschäftigt sind, befanden sich in den ersten tagen nach der Proklamierung des Massenstreiks bereits 300.000 im Ausstand. Das sind viele Zehntausende mehr, als die dem Landessekretariat angegliederten Gewerkschaften umschließen, deren Gesamtmitgliederstand rund 162.000 beträgt, ja als in Schweden überhaupt gewerkschaftlich organisierte Arbeiter — 230.000 — gezählt werden. Die Losung der führenden zentralisierten Gewerkschaften hat also nicht nur alle Organisierten ohne Unterschied der Richtung ergriffen, sondern auch breite Massen der Unorganisierten gepackt, von denen sich täglich neue Scharen um das Banner des Streiks scharen. Und gerade diese Tatsache gehört zu den hervorstehendsten Zügen des Kampfes und wird von wesentlichem Einfluss auf seinen Ausgang sein. Ein Massenstreik, der mehr als ein Aufmarsch, eine drohende und warnende Schilderhebung sein soll, kann sich nicht auf die Kreise der Organisierten und Geschulten beschränken. Er muss über sie hinausgreifen, aber von ihnen — als den führenden Kerntruppen — Ziel, Richtung, Disziplin erhalten. Und diese Vorbedingungen eines entscheidenden Sieges in einem ersten Kampfe scheinen in Schweden erfüllt zu sein. Zu der glänzenden Einmütigkeit, mit welcher die werktätigen Massen wie ein Mann die Arme gekreuzt haben, gesellt sich eine musterhafte Disziplin. Die Posten und Vertrauensmänner der streikenden sichern die Ordnung besser, als die Beauftragten der Klassengesellschaft das tun könnten.

Die Streikleitung hatte wichtige Arbeitergruppen aus dem Kampfe ausgeschieden. So die Eisenbahner, die Arbeiter im Beleuchtungs- Straßenreinigungs-, Wasserversorgungsdienst alle Personen, die mit der Krankenpflege oder der Wartung lebender Tiere usw. beschäftigt sind. Dadurch sollte zum Ausdruck kommen, dass der Kampf sich gegen die organisierten Unternehmer und ihre Aussperrungstaktik richte und nicht gegen die bürgerliche Gesellschaft überhaupt Die bürgerliche Gesellschaft hat jedoch ihrerseits sofort bekundet, dass sie in den brutalen Scharfmachern sich selbst bedroht, dass sie sich mit ihnen solidarisch fühlt. Sie hat ihre Polizei und ihr Militär gegen die Ausständischen mobilisiert und ein “freiwilliges bürgerliches Schutzkorps” geschaffen, das auf Kosten der Arbeitgebervereinigungen gespeist, beherbergt und besoldet wird. Zum Schutze der Ordnung, so heißt es, zur Provozierung und Niederzwingung der Streikenden, so ist es. Die Lektionen der Tatsachen vom arbeiterfeindlichen Wesen der bürgerlichen Gesellschaft verfehlen ihre Wirkung nicht. In Stockholm rühren die Arbeiter in dem städtischen Gas- und Elektrizitätswerk die Hände nicht mehr, weil sie schlimmer wie Sträflinge bei der Arbeit militärisch bewacht wurden, die Eisenbahner und Buchdrucker wollen sich den Streikenden anschließen, und in mehreren Regimentern haben sich die Söhne des Volkes daran erinnert, dass das bunte Kleid sie nicht dem Leben ihrer Klasse entfremden darf. Soldaten stimmten die Internationale an und bezeugten durch andere Kundgebungen noch ihre Sympathie mit den Streikenden. In Ländern mit allgemeiner Wehrpflicht können die Ausbeutenden nicht ewig auf Bajonetten sitzen. Wenn die proletarischen Massen wissen und wenn sie wollen, werden sich auch die Proletarier in des “Königs Rock” darüber klar, wo der “innere Feind” steht.

In Fabriken und Werkstätten ruht die Arbeit, die Straßenbahnen haben den Verkehr eingestellt, keine Droschke, kein Auto, kein Lastwagen ist zu sehen, in den Häfen liegen Schiffe mit ungelöschten Ladungen und andere, die nicht befrachtet werden, die Zahl der Güterzüge nimmt immer mehr ab. Schon machen sich die Schwierigkeiten einer ausreichenden Versorgung der Städte mit Lebensmitteln bemerkbar, die Restaurants bleiben geschlossen oder speisen nur wenige, das Bürgertum denkt daran, sich Brot aus dem Ausland liefern zu lassen. Und in immer breiteren Wogen wälzt sich die Streikwelle über Schweden. Zur Zeit, wo wir schreiben, ist ihr Verebben noch nicht abzusehen. Mit jedem Zollbreit Land, das sie überflutet, mit jeder Stunde, in der sie weiterbrandet, nimmt sie einen Teil kapitalistischen Profits, kapitalistischen Herrendünkels und Herrenmacht mit fort. Weil der starke arm des Proletariats es will, weil sein klares Hirn es denkt!

Wer wollte es leugnen, dass der Kampf auch dem Proletariat tiefe Wunden schlägt? Ist es doch die Klasse der Hebenichts, die hungern muss, wenn ihre Hände feiern. Auch die stärkste und beste Organisation ist außerstande, die Träger eines so weit reichenden und tief furchenden Massenkampfes genügend vor Not zu schützen. Daher haben die Gewerkschaften für die Dauer des Generalstreiks ihre statuarischen Bestimmungen über die Unterstützung ihrer Mitglieder außer Kraft gesetzt. Sie appellieren an den Idealismus jedes einzelnen, der in Erkenntnis des hohen Preises, um den es geht, zu den härtesten Entbehrungen, den schmerzlichsten Opfern bereit sein muss. Alle verfügbaren Mittel werden aber konzentriert, um die furchtbarsten Schläge der Hungerpeitsche abzuwehren. Auch dazu bedarf es Riesensummen, die nur das Ergebnis der reichsten Betätigung internationaler proletarischer Solidarität sein können. Schon hat die organisierte Arbeiterklasse Norwegens den Kämpfern für die Dauer des Streiks jede Woche eine Unterstützung von 40.000 Kronen zugesichert, aus Dänemark werden ihnen wöchentlich etwa 30.000 Mark zufließen. Das deutsche Proletariat wird seiner ehrenvollen Tradition getreu mit seiner tatkräftigen Hilfe nicht hinter anderen Bataillonen der roten Internationale zurückstehen.

Noch weniger, als sich bereits jetzt alle Einzelheiten des riesenhaften Kampfes überblicken lassen, ist es möglich, über seinen Ausgang zu prophezeien. Aber wie immer dieser ausfallen möge: schon die Tatsache, dass dieser Massenkampf Wirklichkeit wurde, ist ein nicht wegzudeutelnder Erfolg. Er kündet die Reife der Erkenntnis, die Kraft des Wollens, das männliche Selbstvertrauen eines Proletariats, das gewiss noch in mancher bevorstehenden Schlacht geschlagen, das aber niemals in dem heiligen Kriege für seine Befreiung besiegt werden kann. Er erweist die Unvermeidlichkeit und Bedeutung des Massenstreiks, als der revolutionären Bewegungsform des Proletariats; er erweist sie in einer Zeit, wo kluge Rechenmeister der kleine Tageserfolge erklärten: “Lasst uns nicht von ihm reden, denn er bleibt Generalunsinn”. Das schwedische Proletariat empfängt die Spargroschen der internationalen Brüder, mit seinem Kampf eröffnet es ihnen dafür eine neue Fundgrube geschichtlicher Erkenntnisse. Seinem kühnen Wagen und kühlen Wägen der Dank der sozialistischen Internationale; seinem kühnen Wagen und kühlen Wägen der Sieg!

II.

[“Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, Nr. 24, 30. August 1909]

Ohne verblüffende Knalleffekte, ohne hitzige Schreie und Gesten, man ist fast versucht zu sagen in lautloser Stille spielt sich in Schweden das gewaltige Drama des Massenstreiks weiter ab. In ihm ringen die bedeutsamsten sozialen Leidenschaften unserer Zeit miteinander: der Goldhunger der kapitalistischen Ausbeuter und der Freiheitsdrang der Ausgebeuteten. Überwältigend tritt es dabei zutage, dass ungeachtet der Macht, der Herrschaftsstellung des Kapitals die ausgepresste, versklavte Arbeit die tragende, lebendige Kraft des wirtschaftlichen Lebens ist. Die gewerblich tätigen Proletarier Schwedens kreuzen in mannhafter Entschlossenheit die Arme, sie leihen nicht mehr ihre Muskeln und Nerven dem Dienst des kapitalistischen Profits, und siehe: die stolzen “Hauptleute der Industrie”, die “königlichen Kaufleute” mitsamt ihrem Stabe “höheren Personals, mitsamt den Reichtümern ihrer diebes- und feuersicheren Geldschränke, den sinnreichen Kraft- und Werkzeugmaschinen ihrer Betriebe sind ohnmächtig, den Gang des Wirtschaftslebens aufrecht zu erhalten und wie sonst glänzenden Gewinn in ihren Scheuern zu bergen. Gemessen an diesem Ereignis und seiner ruhigen Größe erscheint alles zwergenhaft, schal, was die Zeitungen aus den ränkereichen Kabinetten der Regierungen und den redereichen Sälen der noch tagenden Parlamente melden. Mit lebhaftem Interesse und tatbereiter Sympathie verfolgen die kämpfenden Proletarier den Riesenkampf. Und weit über ihre Kreise hinaus muss er die Augen der ausgebeuteten Massen auf sich ziehen. Ruft er doch den Verzagenden und Feigen zu: lernt eure Kraft kennen und einsetzen; den Gleichgültigen und Stumpfsinnigen: erwachet und ringet!

Seit wir in letzter Nummer über den Generalstreik schrieben, hat sich in der Lage nichts geändert. Der Kampf geht nun in der dritten Woche, und die Streikenden stehen wie die Mauern. In unverbrüchlicher Treue, die kein Wanken kennt, in eiserner Disziplin, die sich weder einschüchtern noch provozieren lässt, in ausdauerndem Opfermut, der vor keiner Entbehrung zurückschreckt. Diese nüchterne Tatsache erweist die materielle Macht der Streikbewegung und enthüllt ihre innere gesunde Kraft, welche erst die materielle Macht schafft und erhält. Wenn der gute Bürger frühmorgens zur kapitalistischen Profitmühe der zum Börsenspiel ging, gekräftigt durch belegte Butterbrötchen und die Nachricht, dass in Schweden der maledeite Aufstand eigentlich gar kein Generalstreik sei und vor dem Anfang vom ende stehe, so musste ihm schon abends sein Leibblatt de guten alten Rotspohn und die Stimmung mit der Meldung vergällen, dass die Bewegung trotz allem noch andauere. Und die nun vorliegenden Zahlen der amtlichen Streikstatistik sind ganz danach, sein Himmelhoch-jauchzend in Zum-Tode-betrübt zu verwandeln. Hat doch nach ihren Feststellungen das Heer der fast 300.000 Feiernden nur um 1344 abgenommen! Dabei hat diese Statistik von Anfang an keinen Anspruch darauf erheben dürfen, mit aller Gewissenhaftigkeit wirklich die Zahl der ausständigen bis zum letzten zu erfassen. Nur ganz vereinzelt sind kleine Grüppchen von Arbeitern und Arbeiterinnen willig gewesen, zu ihrer Beschäftigung zurückzukehren. Ihr käuflicher Sklavensinn hat die Welle der Streikbewegung weder aufzuhalten noch zu teilen vermocht. Sie ist seither in Stockholm und anderen Orten noch gewachsen und hat die Buchdrucker mit fortgerissen. Diese sprengten die Bindung durch ihren Tarifvertrag, weil er auch den Schein eines moralischen Rechts verloren hatte. Wurde ihnen doch von dem angeblich “neutralen” Unternehmertum im Buchdruckgewerbe angesonnen, durch den Druck der Schwindelnachrichten über das Abflauen und die Gräuel des Streiks den Scharfmachern Helfershelferdienste zu leisten. Soweit das saubere Geschäft der Verbreitung von gedruckten Tatarennachrichten über den Ausstand noch etwas klappert, sind es Prinzipale und Journalisten, welche als Streikbrecher hausieren.

Die organisierten Eisenbahner haben sich zwar mit Majorität für den Ausstand ausgesprochen, aber nicht mit der Dreiviertelmehrheit, welche ihr Statut für diesen Fall vorschreibt. Der Streik wirkt derart beschränkend auf den Güter- und Personenverkehr zurück, dass nur in Vierte des Personals hinreichen würde, ihn aufrechtzuerhalten. Angesichts dieser Sachlage erachten es die Eisenbahner für strategisch klüger, sich nur moralisch mit den Ausständischen solidarisch zu erklären und materiell in der Lage zu bleiben, diese unterstützen zu können. Denn wie andre Kategorien von Arbeitern, die nach der Losung der gewerkschaftlichen Landezentrale weiterschaffen, führen auch sie einen Teil ihres Verdienstes an die Streikkasse ab. Dem Geschwätz der bürgerlichen Presse entgegen, die nur die erhabene, ebenso billige wie einträgliche Auffassung versteht: jeder für sich und Gott für uns alle, sei hier noch eine Tatsache verzeichnet. Die Angestellten der schwedischen Gewerkschafts- und Parteiorganisationen beziehen in der Zeit des Massenstreiks kein Gehalt, und der Vorstand des Zentralverbandes der Konsumvereine hat deren Angestellte und Arbeiter aufgerufen, der Streikkasse ebenfalls ihren vollen Lohn zuzuführen.

Die Unternehmer haben sich bemüht, durch ein raffiniertes System von Lügen über die Wiederaufnahme der Arbeit hier und da die Reihen der Kämpfenden zu lockern. Sie haben sich angelegen sein lassen, sie mit den Judassilberlingen von Lohnerhöhungen von 5 bis 10 Prozent, Unterstützungen und Gewinnbeteiligung zu blenden. Ihren raffgierigen Herrschaftsgelüsten zuliebe hat der Staat auch den Schein seiner Neutralität im Kampfe zwischen Arbeit und Kapital zerrissen. Mit Missachtung der öffentlichen Sicherheit hat sein König die Automobile den Verpflichtung zur Nummernführung entbunden; hat seine Polizei die Fuhrwerksbesitzer zur Aufnahme des Betriebs gepresst, den Verkehr der Trams gestattet, geleitet von Kontrolleuren und Mitgliedern des bürgerlichen Schutzkorps in täuschender Straßenbahneruniform. In Widerspruch zu den Gesetzen haben seine Behörden in Stockholm, Göteborg und sonst wo noch den Arbeitern das Recht der Demonstration und der Redefreiheit zu beschränken versucht; unter Verhöhnung der Gebote der Menschlichkeit sind seine berittenen Schutzleute unter friedliche, wehrlose Frauen und Kinder gesprengt. Sein Militär ist zur Schussbereitschaft auf den “inneren Feind” kommandiert.

Die Liebesmüh der Lockungen und Tücken ist umsonst gewesen. An dem zielsicheren Rechts- und Machtbewusstsein der kämpfenden Proletarier wird auch der neueste vergiftete Pfeil abprallen, den das Unternehmertum durch Sklavenhände aus den eigenen Reihen auf sie abschießen ließ. Der Vorstand des liberal-christlichen Arbeiterverbandes hat seine Mitglieder zur Wiederaufnahme der Arbeit gerufen, mit der Begründung, “dass der Generalstreik jetzt eine solche Entwicklung erfahren habe, dass er ihn nicht mehr billigen könne.” Mit Hilfe der Kapitalisten gegründet und groß gepäppelt, um die ausgebeuteten zu teilen und zu beherrschen, liegt die Vermutung nahe, dass diese “gelbe” Organisation dem Kommando ihrer geheimen Führer gemäß sich nur an den Streik angeschlossen hat, um ihn verraten zu können, in der Hoffnung, die unorganisierten Arbeiter dadurch irrezuführen. Aber wie dem auch sei: jedenfalls vermag der kleine Stein dieser großen Schurkerei die Kraft der Streikwoge nicht zu brechen. Der liberal-christliche Arbeiterverband zählt kaum 8.000 Mitglieder, und nicht alle dürfte Einsichtslosigkeit oder “Nützlichkeitssinn” zu Verrätern machen.

Die bürgerliche Fabel von der “alles in allem” geringen Bedeutung des Streiks wird am sichersten durch die Wunden widerlegt, die er dem Wirtschaftsleben in Schweden schlägt. Landauf und landab liegen die Fabriken still, die Werkstätten stehen verödet, in Handel und Verkehr ist der Pulsschlag schwach und unregelmäßig. Der Frachtverkehr der Eisenbahnen war bereits in der zweiten Woche des Ausstandes um 54 Prozent gesunken, der Personenverkehr hatte sich bedeutend vermindert, und die Schifffahrt zeigte die gleichen Erscheinungen. Nach Berechnungen des norwegischen Genossen Puntervold haben in den ersten 10 Streiktagen die Staats- und Privatbahnen eine Verminderung ihrer Einnahmen um 3 Millionen Kronen erlitten, die Handelsschiffe 1½ Millionen Kronen. Die sonstige Jahresproduktion an Waren der schwedischen Fabrikindustrie zugrunde gelegt, ergibt sich für sie in diesen 10 Tagen ein Ausfall von 50 Millionen Kronen Produktionsertrag. Sie erhält nicht die halbe Million Kronen täglich zur Verzinsung des in ihr angelegten Kapitals, se wirft von den 50 Millionen keinen “Entbehrungslohn” für die Unternehmer ab, und diese müssen außerdem tagaus tagein ¼ Million Kronen an Ausgaben tragen, die der Kampf mit sich bringt. Der schwedische Staat ist — abgesehen von dem beträchtlichen Ausfall der Verkehrseinnahmen — mit zwei Millionen Kronen Aufwendungen für gänzlich überflüssige, ja schädliche polizeiliche und militärische “Sicherheitsmaßregeln” Leidtragender. Die Unternehmerpresse berechnet den Lohnausfall für die Arbeiter mit 855.000 Kronen täglich.

Diese Zahlen sind nicht bloß für den Umfang und die Wirkung des Generalstreiks kennzeichnend. Man füge dem goldig schimmernden Reigen der Riesensummen in Gedanken noch die Reichtümer hinzu, welche es den schwedischen Scharfmachen ermöglichen, in modischen Badeorte oder auf herrlichen Landsitzen von altem Silber und kostbarem Porzellan zu schwelgen, während die Streikenden vor kärglichen, vielleicht leeren Schüsseln sitzen! Auch den Begriffsstutzigsten muss dann eine Ahnung davon aufdämmern, wie märchenhaft ertragreich das Mühen der ausgebeuteten Habenichts ist, und welche geduldigen Lämmlein diese doch sind, dass sie nicht überall und stets mit ganz anderer Energie und Wucht für ihre Befreiung kämpfen. Außerdem: die nämlichen Kapitalisten, welche viele Zehntausende skrupellos aufs Pflaster warfen, um Konfektionsarbeiterinnen und Textilarbeiterinnen vom armseligen Verdienst abbrechen zu können; die nämlichen Kapitalisten, welche bei jedem Pfennig Lohnerhöhung und jedem dürftigen bisschen Arbeiterschutz händeringend den “Ruin der nationalen Industrie” beweinen, lassen sich in diesem Kampfe Millionengewinne entgehen, vergeuden Millionen. Warum? Weil sie, die gemeiniglich ebenso gute als die Arbeiter schlechte Rechner sind, sich das Herrenrecht unbeschränkter Ausplünderung der proletarischen Massen erhalten wollen. Ist das nicht von der anderen Seite her ein Beweis für deren Schätze schaffende Fruchtbarkeit und Macht?

In der dritten Woche nun schon existieren als Feiernde die, welche aus der Hand in den Mund zu leben gezwungen sind. Ein Geheimnis, ein Wunder fast dünkt es den Klugen, die nur mit den groben materiellen Triebkräften im Proletariat zu rechnen wissen. “Die umwälzende Praxis” — um mit Marx zu reden — hat wieder einmal wie schon in der russischen Revolution die Antwort auf eine Frage gegeben, die in der Theorie breit und heftig diskutiert wurde: wie können die Enterbten in den Tagen des Massenstreiks ihren Unterhalt fristen? Soweit es Armen möglich ist, Vorsorge für eine begrenzte Zukunft der Verdienstlosigkeit zu treffen, haben sich die schwedischen Proletarier auf den Ausstand vorbereitet. Denn schon längst empfanden sie das Bedürfnis nach einer großen Auseinandersetzung mit dem aussperrungstollen Scharfmachertum, und nur ungern fügten sie sich den zügelnden Losungen ihrer gewerkschaftlichen Führer, die in hochgespanntem Verantwortlichkeitsgefühl die Kräfte hüben und drüben wägend, den Zeitpunkt dafür hinausschoben. Als schließlich die Order zum Generalstreik fallen musste, deuchte sie den drängenden Massen eine Erlösung. Die Jahreszeit ist in Schweden den Kämpfenden günstig: überall fast beut sie auch den Besitzlosen Fische und auf dem Lande und in den kleineren Städten einen Reichtum an Beeren. Und das Entscheidende: die Streikenden und ihre Familien nehmen freiwillig und gern auf sich, wozu die Geldgier der Kapitalisten sie so oft zwingt: sie entbehren, sie darben. Zwei Wochen lang ist nicht von Unterstützung der Ausständigen die Rede gewesen. Jetzt erst greift die Streikkasse helfend ein, aber nur für die “Bedürftigen”. Der Triumph der gemeinsamen Sache liegt aber den kämpfenden Männern und Frauen mehr am Herzen als die Abwehr ihrer persönlichen Not. Ihr Wille steigt den stolz, steigert das Zartgefühl. Von 1.200 Mitgliedern einer Stockholmer Gewerkschaft haben sich nur 80 als unterstützungsbedürftig gemeldet Was müssen sie geduldet haben, um ihre Hand auszustrecken?

Aber trotz einer Opferwilligkeit, welche allein schon die schwedischen Kämpfer zu Helden erhebt, sind Riesensummen nötig, um ihnen ein Aushalten bis zum Sieg zu ermöglichen. Wir verzeichnen es daher mit freudiger Genugtuung, dass die klassenbewussten Proletarier Deutschlands durch die Tat bekunden, dass sie sich einer Erkenntnis und eines Willens mit ihren schwedischen Brüdern und Schwestern fühlen. Bis zum 21. August hatten sie fast eine halbe Million — rund 433.000 Mark — für den Kampf aufgebracht. Glänzend betätigt sich die Solidarität der Arbeiter im kleinen Norwegen mit seinen 2½ Millionen Einwohnern. Der Streikfonds hat von dort bereits über 114.000 Kronen erhalten; auch aus Dänemark sind ihm große Beträge zugeflossen. Die wortreichen französischen Syndikalisten haben dagegen bis jetzt nichts zur Unterstützung “der direkten Aktion” in Schweden getan, und die geldreichen englischen Trade Unions ließen den “rein gewerkschaftlichen Kampf” ohne Hilfe.

Wir haben bereits in der letzten Nummer darauf hingewiesen, dass der schwedische Generalstreik vor allem auch als großes geschichtliches Schulbeispiel die Sache des kämpfenden Weltproletariats ist. Noch ist die Zeit nicht gekommen, um alle de Erkenntnisse auszuschöpfen, die er in seinem gewaltigen fruchtbringenden Schoße trägt. Aber schon hat er hell und allen sichtlich bestätigt, was Genossin Luxemburg zuerst in ihrer Broschüre lichtvoll aufgezeigt hat: nämlich dass der Massenstreik in Zeiten höchster sozialer Spannungen die klassische Bewegungsform des Proletariats ist. Schon hat er ein anderes erhärtet: dass zielbewusster Wille im Proletariat die reichsten Springquellen ideeller und materieller Kräfte zu erschließen vermag, Kräfte, die sich nicht wägen und messen lassen, die sich aber in unwiderstehliche Macht umsetzen. Und so klingt es von dem gewaltigen Schlachtfeld des Klassenkampfes in Schweden zu den Heloten des Kapitals in der ganzen Welt herüber: Rüstet!

Gewerkschaftliche Rundschau (Auszug)

I. (Clara Zetkin, September 1909)

[“Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, Nr. 26, 27. September 1909]

Der Riesenkampf in Schweden ist seit Anfang September in ein neues Stadium getreten. Die Gewerkschaftsvorstände konnten eine Frontänderung beschließen, weil der Generalstreik bereits den kleineren Unternehmern gegenüber erreicht hatte, was sein Zweck war: die Lust an der Taktik der Massenaussperrungen gründlich zu dämpfen. Die vielen Rufe, die nach einem vermittelnden Eingreifen der Regierung aus der liberalen Partei ertönten, welche in Schweden die Partei des Kleinbürger- und Kleinbauerntums ist, brachten das deutlich genug zum Ausdruck. Das Bedürfnis nach Frieden wurde in den Kreisen der kleinen und mittleren Industriekapitalisten durch die Erkenntnis ausgelöst, dass ein längerer Kampf ihren sicheren Ruin bedeuten würde. So kam es am 1. September zwischen den Gewerkschaften und den Vereinigungen der Unternehmer, die nicht dem “Schwedischen Arbeitgeberverband” angehöre, zu einem Übereinkommen, nach dem die Arbeiter und Arbeiterinnen in den betreffenden Betrieben wieder an ihre Beschäftigung zurückkehrten. Etwa 100.000 Streikende wurden damit aus dem Kampf zurückgezogen, in dem zirka 70 Prozent der industriellen Gesamtarbeiterschaft Schwedens fünf Wochen lang ausgehalten hatten, ohne dass ein Abflauen, eine Fahnenflucht von Bedeutung eingetreten wäre. Und das ohne regelmäßige Unterstützung, mit einem unvergleichlichen Opfermut, mit einer heldenhaften Tapferkeit und mustergültigen Disziplin. Von den hunderttausend Darbenden, ja Hungernden war nur den Bedürftigsten materielle Hilfe zuteil geworden, und wer es irgend vermeiden konnte, der hatte willig das Äußerste an Not ertragen, um nicht zu den bedürftigen gerechnet zu werden Indem die Gewerkschaftsleitung das Gefechtsfeld beschränkte, erreichte sie zweierlei. Sie konnte die ganze Macht des Kampfes gegen den Arbeitgeberverband richten, die Organisation der großindustriellen Scharfmacher par excellence, die Seele der Aussperrungstaktik großen Stils. Sie nahm der Regierung jeden Vorwand für ihre gesetzwidrige Weigerung, vermittelnd in den Kampf einzugreifen Dieser ist seither von etwa 150.000 Arbeiter und Arbeiterinnen mit der Betätigung der alten hohen Tugenden weitergeführt worden. Und er hat bereits Erfolge erzielt: die Regierung hat endlich eine Vermittlungskommission ernannt, und der Arbeitgeberverband hat sich bedingungslos zum Unterhandeln bereit erklärt. Wenn man dieses Zugeständnis an die Macht der Arbeiterklasse richtig schätzen will, so muss man sich die ausgesucht arbeitertrutzige Haltung vergegenwärtigen, welche die Regierung betätigt hat. Geradezu schamlos offenherzig hat sie sich als die Regierung des Arbeitgeberverbandes erwiesen. Diesem zuliebe ist sie ebenso wenig vor Verdrehung des Sachverhalts wie vor brutaler Vergewaltigung von Recht und Gesetz zurückgeschreckt, kurz sie hat sich keine Gelegenheit entgehen lassen, um sich als de Regierung eines Klassenstaates zu erweisen. Wessen dieser fähig ist, das hat die Ausweisung des norwegischen Genossen Puntervold und die Verurteilung des Genossen Gustavson zu zwei Monaten Zuchthaus auch den Schwachsichtigsten gezeigt. Genosse Puntervold hatte sich durch seine wahrheitsgetreuen Berichte den Scharfmachern “lästig” gemacht, Genosse Gustavson das “verbrechen” begangen, in einer Demonstrationsversammlung die Eisenbahner zum Streik aufgefordert zu haben. Noch über die Gewalten des Klassenstaates hinaus hat der Massenstreik bestätigt, dass in dem Kampfe zwischen Arbeit und Kapital “ein Hüben und Drüben nur gilt”. Das liberale Blatt “Stockholmstidningen” setzte Knall und Fall die Kunstkritikerin vor die Tür, weil sie mit dem Fehler behaftet war, die Frau des Genossen Branting zu sein! Frau Branting hatte seit 17 Jahren für das Blatt geschrieben! — Das klassenbewusste Proletariat Deutschland darf und wird in der ehrenvollen Bekundung seines Solidaritätsgefühls nicht erlahmen. Es gilt, den tapferen Kämpfern und Kämpferinnen für das recht der Arbeit das Ausharren bis zu einem guten Ende zu ermöglichen.

II. (Dezember 1909)

[“Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, Nr. 5, 6. Dezember 1909, mit # gezeichnet, mir ist unklar wessen Kürzel das war]

Der Kampf der schwedischen Arbeiter hat ihnen letzten Endes doch noch Erfolg gebracht. In den Vergleichsverhandlungen, die von den Regierungsbeamten eingeleitet wurden, waren die Unternehmer wieder völlig bockbeinig. Sie mussten aber schließlich die Aussperrung in der Eisenindustrie aufgeben, die letzte, die faktisch noch bestand. Damit hatte die Massenaussperrungstaktik der Unternehmer ein völliges Fiasko erlitten. Die Landeszentrale der schwedischen Gewerkschaften übermittelte den deutschen Gewerkschaften telegraphisch den Dank der schwedischen Arbeiter für ihre reiche materielle Beihilfe. Nach der letzten Quittung sind den schwedischen Brüdern 1.283.161,60 Mark von deutschen Gewerkschaften zugegangen

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