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Clara Zetkin 19050922 Redebeitrag zum Massenstreik

Clara Zetkin: Redebeitrag zum Massenstreik

(22. September 1905)

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten in Jena vom 17. bis 23. September 1905, S. 323-25]

Ich kann mich für das Amendment Legiens nicht erklären, weil ich seine Begründung nicht zu teilen vermag, dass nämlich die Erklärung unter Umständen sei der Massenstreik ein proletarisches Kampfesmittel, anzusehen sei als ein Konzession an den Anarcho-Sozialismus. Ich stehe im Gegenteil auf dem Standpunkt, dass der politische Massenstreik im schärfsten Gegensatz steht zu der Empfehlung des Generalstreiks, wie sie von den Anarcho-Sozialisten betrieben wird. (Sehr richtig!) Der Umstand, dass die Vertreter dieser Idee zur Begeisterung so viele Proletarier entflammen konnten, die bis jetzt mit uns zusammen auf dem Boden des Klassenkampfes unsre Schlachten geschlagen haben, scheint mir bedeutsam als ein Symptom. Innerhalb breiter Proletariermassen wird das Bedürfnis empfunden, unter dem Druck der geschichtlichen Situation, unter der zunehmenden Verschärfung des Klassenkampfes, unter der fortschreitend reaktionären Gestaltung unseres gesamten politischen Lebens, eine Antwort auf die Frage zu suchen: stehen uns außerhalb, neben den bereits erwähnte und erprobten Kampfesmitteln des gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampfes unter bestimmten Ausnahmesituationen noch andere Kampfesmittel zu Gebote?

Aus dieser Situation heraus sind nicht nur die Irrungen und Wirrungen des Anarcho-Sozialismus zum Teil hervorgegangen, aus diesem Bedürfnis heraus ist es überhaupt zu verstehen, dass sowohl die gewerkschaftlichen wie politischen Organisationen nicht um die Frage der Erörterung des politischen Massenstreiks herumgekommen sind. Für mich gibt es nichts wichtigeres, als den politischen Massenstreik, wie er auch von der Sozialdemokratie als Kampfesmittel des Proletariats akzeptiert werden kann, in reinlicher Scheidung von der Idee des Anarcho-Sozialismus loszulösen. Genosse Schmidt hat freilich hier die Auffassung vertreten, als ob der Massenstreik, wie er von Bebel befürwortet wurde, eine Halbheit bedeutet, während der vom Anarcho-Sozialismus propagierte Generalstreik das konsequente Kampfesmittel sei. Ich finde in dieser Auffassung eine große Unklarheit. Das Proletariat kann wohl in einer gegebenen revolutionären Situation, die von seinen Todfeinden heraufbeschworen wurde, mächtig genug sein um geplante Attentate zurückzuweisen durch einen Massenstreik. Aber es braucht durchaus noch nicht über die gesamte politische Macht zu verfügen, die erforderlich ist, um die kapitalistische Wirtschaftsordnung aus den Angeln zu heben. Her liegt seitens unseres Genossen Schmidt nicht nur eine Unklarheit vor betreffs der Rolle, welche die Quantität der Macht spielt, über die das Proletariat verfügen muss, sondern noch eine weit wesentlichere Verwirrung der Begriffe in Bezug auf das ganz verschiedene Wesen des politischen Massenstreiks und des anarchistischen Generalstreiks. Während der politische Massenstreik die Konzentration der jeweilig verfügbaren politischen, wirtschaftlichen geistigen, sittlichen Macht des Proletariats auf ein ganz bestimmtes, eng begrenztes Augenblicksziel fordert, will der anarchistische Generalstreik mittels der allgemeinen Arbeitsniederlegung die ganze kapitalistische Ordnung aus den Angeln heben oder auch einzelne ihrer wesentlichen Institutionen, wie z.B. den Militarismus, wie es Domela Nieuwenhuis gefordert hat. Dieser Standpunkt übersieht vollständig, dass wir die sozialistische Gesellschaftsordnung nicht nach unserem Belieben einführen können, wie wir einen Hut umkrempeln lassen, sondern dass wir die sozialistische Gesellschaftsordnung erst dann durchsetzen können, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse den erforderlichen Reifegrad erlangt haben. Er abstrahiert von allen konkreten, geschichtlichen Bedingungen des proletarischen Befreiungskampfes und verkennt den inneren, organischen Zusammenhang, der besteht zwischen dem letzten großen revolutionären Entscheidungskampf und der langsamen, stufenweisen Hebung des Proletariats durch die tagtägliche Arbeit, den tagtäglichen Kampf auf allen Gebieten des proletarischen Klassenlebens. Und weil das der Anarcho-Sozialismus wie der Anarchismus überhaupt übersieht, hat Genosse Robert Schmidt vollständig Unrecht, wenn er meint, Bebel habe sich einer Inkonsequenz schuldig gemacht. (Sehr richtig!) Der politische Massenstreik steht aber auch insofern in schroffstem Gegensatz zur Auffassung des Anarcho-Sozialismus vom Generalstreik, weil er seiner Ansicht ins Gesicht schlägt, dass es ein allein selig machendes Kampfesmittel des Proletariats gebe. (Sehr richtig!) Die Erklärung, dass der Massenstreik unter dem Drucke revolutionärer Situationen ein proletarisches Kampfesmittel sein könne, das zur Anwendung kommen müsse, ist vielmehr eine weitere Durchlöcherung der Theorie von alleinseligmachenden Kampfesmitteln überhaupt. Sie besagt, dass der geschichtlichen Entwicklung entsprechend auch Parlamentarismus und Gewerkschaftsbewegung nicht solche Kampfesmittel sind und dass sie unter bestimmten Umständen durch andere, wirksamere Methoden des Klassenkampfes ersetzt werden müssen. Der Massenstreik ist ein weiteres Kampfesmittel in der Reihe der bisher bewährten Kampfesmittel, nicht bestimmt, sie zu verdrängen, sondern um eventuell ihrer Gebrauch erst zu ermöglichen, zu sichern oder auch fruchtbar zu machen. (Sehr richtig!) Angesichts der Tendenzen, welche die Reaktion hat, den Standpunkt des Herrseins im eigenen Hause nicht nur innerhalb der einzelnen Betriebe, sondern auch im politischen und sozialen Leben mit aller Brutalität und Skrupellosigkeit zu vertreten, kann der politische Massenstreik unter bestimmten geschichtlichen Voraussetzungen eine Notwendigkeit werden, um den Arbeitern den bisherigen Boden des gesetzlichen Kampfes zu erhalten und zu schützen. Nun allerdings müssen wir damit rechnen, dass die herrschenden Gewalten diesen Boden der Gesetzlichkeit selbst nicht respektieren werden. Da bekenne ich mich nach wie vor zu der Auffassung, dass das Proletariat sich durch die Zwirnsfäden der bürgerlichen Gesetze nicht unter allen Umständen für gebunden halten darf. (Sehr richtig!) Die bürgerliche Gesetzlichkeit ist schließlich nichts als die in bindende juristische Normen gebrachte Gewalt der besitzenden und herrschenden Klassen. (Sehr richtig!) (Der Vorsitzende gibt zum zweiten Mal das Zeichen, dass die Redezeit abgelaufen ist.) — Bei den anderen ist auch dreimal geklingelt worden. (Große Heiterkeit.) Ich sage, wir müssen damit rechnen, dass die bürgerlichen Klassen jederzeit die Maske des gesetzlichen Kampfes gegen uns fallen lassen und mit brutaler Gewalt gegen uns ankämpfen, und da meine ich: Auf einen Schelm gehören anderthalbe. Wenn die Reaktion russisch mit uns reden will, dann wird auch das Proletariat russisch antworten können. (Lebhafter Beifall.) Die Voraussetzung dafür ist das geklärte und tief verwurzelte Bewusstsein seiner revolutionären Macht, der aus reifer Erkenntnis geborene zielklare Wille, diese Macht durchzusetzen, die Hingabe an die Überzeugung, welche kein Opfer scheut. Wir müssen es als unsere Aufgabe betrachten, den granitnen Felsen der revolutionären Macht des Proletariats im Bewusstsein der Massen zu schaffen durch unaufhörliche Agitation und Aufklärungsarbeit. (Stürmischer Beifall.)

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