Clara Zetkin 19200802 Amnestie für die revolutionären politischen Gefangenen!

Clara Zetkin: Amnestie für die revolutionären politischen Gefangenen!

(Rede im Reichstag, 2. August 1920)

[“Verhandlungen des Reichstags, 1. Wahlperiode 1920”, Bd. 344, 16. Sitzung, Berlin 1921, S. 548f., Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band II, S. 240-242]

Meine Damen und Herren! Die Behandlung der Amnestiefrage hat zum großen Teil eine merkwürdige Erscheinung gebracht. Nämlich ein Waschen der bürgerlichen Familienwäsche., die während des Kapp-Lüttwitz-Putsches — wie soll ich mich parlamentarisch ausdrücken — nicht ganz fleckenlos geblieben ist. Das gilt sowohl für die Vertreter der Monarchie wie für die Vertreter der bürgerlichen Demokratie.

(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Ich hoffe, dass die Massen draußen aus den Enthüllungen, Feststellungen, Erklärungen, Gegenerklärungen usw. ihre richtigen Schlussfolgerungen ziehen werden.

Was die Frage der Amnestie selbst betrifft, so haben die meisten Reden, die wir gehört haben, offensichtlich einen Zweck: Durch mehr oder weniger schön klingende Redensarten, durch mehr oder weniger stichhaltige Scheingründe zu verhüllen, dass, von der äußersten Linken gesehen, die meisten Parteien hier überhaupt keine allgemeine politische Amnestie wollen.

(Sehr richtig ! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.) Die Parteien verlangen Amnestie, soweit es sich um die Vertreter ihrer besonderen Parteipolitik, ihrer besonderen Partei- und Klassenziele handelt, aber nicht eine allgemeine Amnestie. Meiner Überzeugung nach gibt es entweder eine allgemeine politische Amnestie, oder wir haben in Wirklichkeit keine politische Amnestie, sondern nur den Schein einer solchen, nur einen Bettelalmosen einer Amnestie.

(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Meiner Überzeugung nach kann eine solche Amnestie nicht Halt machen vor den Schranken und Bestimmungen über den so genannten Hochverrat. Was heißt Hochverrat in Zeiten der Revolution? Bestrebungen zum Sturz einer Regierung, Bestrebungen zur Einsetzung einer anderen Regierung. Solche Bestrebungen werden, wenn sie Erfolg haben, Recht und Gesetz.

(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Haben sie keinen Erfolg, dann heißen sie Hochverrat. Es sollten Parteien, die sich des geschichtlichen Inhalts, des Wesens unserer Zeit bewusst sind, sich nicht an solche Schranken halten. Aber auch in der Praxis sind die Schranken, wie sie in verschiedenen Anträgen hier gezogen werden, heute vollständig gegenstandslos. Denn diejenigen, die von den bürgerlichen Demokraten, die von den Mehrheitssozialisten Hochverräter genannt werden, sind ja in Wirklichkeit nicht bloß amnestiert, sondern bereits belohnt.

(Sehr richtig! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Die verkappten Kappisten sind heute an der Macht; darüber wollen wir uns nicht täuschen.

(Erneute Zustimmung bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

In Wirklichkeit richtet sich der Widerstand gegen eine allgemeine politische Amnestie auch gar nicht gegen die Parteigänger der äußersten Rechten, nein, gegen einen großen Teil — ich darf sagen, gegen den größten Teil — der revolutionären Vorhut der deutschen Arbeiterschaft.

(Sehr wahr! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten)

In die Amnestie sollen einbegriffen werden jene Arbeiter, die leichtgläubig und vertrauensselig sich damit begnügten, die Sache der bürgerlichen Demokratie, die Sache der Bourgeoisie gegen die Überreste der feudalen Gewalten,

(Sehr gut! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten)

gegen den Halbabsolutismus zum Siege zu führen. Von der Amnestie sollen ausgeschlossen sein jene Arbeiter, die die bürgerliche Demokratie zur proletarischen Demokratie machen wollten, die die halbe, die bürgerliche Revolution, zur ganzen, zur sozialen Revolution weiter zu treiben gedachten. Für sie sollen die Kerkertore geschlossen bleiben. Die Vertreter der alten Welt, die Vertreter der kapitalistischen Ausbeutungs- und Herrschaftsgewalt, sind im Kampfe zunächst die Sieger geblieben. Sie dünken sich die Sieger, aber der Mangel an Siegergroßmut in der Amnestiefrage beweist, dass sie in Wirklichkeit nicht die Stärke und die Sicherheit der Sieger haben.

(Lebhafte Zustimmung bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Sie zittern vor den Niedergerittenen, sie fürchten die Überwundenen.

(Sehr wahr! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten)

Deshalb sollen für diese die Kerkertore geschlossen bleiben. Wir fühlen mit den Opfern Ihrer Klassenjustiz, Ihrer Stand- und Ausnahmegerichte; wir fühlen mit den Angehörigen dieser Opfer. Aber wir trauen ihnen allen die Kraft zu, aus ihrer Überzeugung heraus auch ihr hartes Los zu tragen. Und wir wissen: Die Zeit wird kommen,

(Sehr wahr! bei den Unabhängigen Sozialdemokraten)

wo, ganz gleich, was Sie heute beschließen oder was ein anderer Reichstag beschließt, die Revolution die Kerker öffnen wird.

(Lebhafte Zustimmung bei den Unabhängigen Sozialdemokraten.)

Die Revolution wird mehr tun, sie wird die Gräber öffnen, die Ihre Stahlbehelmten mit Leichen füllten. Rächer werden aus ihnen hervorgehen, nicht in Ihrem kleinen polizeitechnischen Sinne, sondern in jenem großen geschichtlichen Sinne, dass Männer und Frauen dastehen werden, die in klarer Erkenntnis, mit stahlhartem Willen und in glühender Opferfreudigkeit alles daransetzen, auch das Leben, um die Sache des Proletariats und mit ihr die Sache der Menschheit zum Siege zu tragen.

(Lebhafter Beifall bei den Unabhängigen Sozialdemokraten)

Kommentare