Clara Zetkin 19181122 Die Revolution und die Frauen

Clara Zetkin: Die Revolution und die Frauen

(November 1918)

[”Die Rote Fahne” vom 22. November 1918. Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. II, Berlin 1957, S. 55-60]

Gestern noch wurde im Reichstag, in den Landtagen einzelner Bundesstaaten, in vielen Gemeinden feierlich beschworen, dass wir Frauen nicht ”reif” seien, als gleichberechtigte Staatsbürgerinnen mit den Männern zusammen zu wirken. Gestern noch ”unreif”, um über die Anstellung eines Nachtwächters zu Buxtehude mit zu entscheiden, sind wir heute für ”reif‘ erklärt worden, als gleichberechtigte Wählerinnen und Gewählte die wichtigsten Entscheidungen für die Gestaltung des politischen Lebens, der wirtschaftlichen Zustände zu fällen.

In der Tat! Auch die Frauen haben mittels eines demokratischen Wahlrechtes die grundlegenden Gesetze über Staatsform und Staatseinrichtungen mitzuschaffen, die das Werk der geplanten konstituierenden Nationalversammlungen im ”weiteren” und ”engeren” Vaterland sein sollen, deren Hauptaufgabe aber nach den Wünschen der besitzenden Klassen es sein würde, unter der trügerischen Losung: ”Sicherung der Demokratie” die politische Macht den Händen der proletarischen Massen zu entwinden und den Weg zur wirklichen, vollen Demokratie zu versperren.

Auch in Frauenhand soll die Entscheidung liegen über die Frage: bürgerliche Republik oder sozialistische Republik; mit anderen Worten: politisch-formal gemilderte Klassenherrschaft der Aneigner des gesellschaftlichen Reichtums oder die ganze politische Macht für die Erzeuger des gesellschaftlichen Reichtums? Grundsätzliche großzügige sozialistische Politik, um ”das alte, morsche Ding”, den kapitalistischen Zwangsstaat und die kapitalistische Ausbeutungswirtschaft, ”umzuhämmern” in die sozialistische Ordnung einer Gesellschaft von Gleichen und Freien, oder aber grundsatzlose bürgerlich-proletarische Harmonie- und Konzessionspolitik, um durch politisches und wirtschaftliches Flick- und Stückwerk die kapitalistische Gesellschaft zu halten? Auch die Frauen werden über diese Lebensfragen für das deutsche Volk zu entscheiden haben, und es gilt dabei, die politische Reife der Frauen zu beweisen!

Denn das dürfen die deutschen Frauen nie vergessen. Ihre politische Gleichberechtigung ist ihnen nicht geworden als Siegespreis ihres Kampfes, sondern als Geschenk einer Revolution, die von proletarischen Massen getragen wurde und daher auf ihre Fahne auch volle Demokratie, ganzes Volksrecht schreiben musste. Ganzes Recht auch für die Frauen! Sind wir Frauen nicht Volk, die Hälfte des Volkes und infolge der dem Imperialismus geopferten Millionen Männer mehr als je die größere Hälfte des Volkes? Und sind wir Frauen in der erdrückenden Mehrzahl nicht schaffendes Volk, das den materiellen und kulturellen Reichtum der Gesellschaft mehrt? Zum schaffenden Volk gehört die Fabrikarbeiterin wie die Angestellte und Lehrerin, die Kleinbäuerin, aber auch die Hausfrau, die mit ihrer persönlichen Fürsorge und Arbeit das Heim der kleinen Leute aufbaut und erhält, gehört vor allem die Mutter, deren Wirken den Wert aller Werte bilden hilft: ein Geschlecht, gesund und stark an Leib und Seele, dessen Tätigkeit den Menschheitsschatz bereichern wird. Außerhalb der großen Schwesternschaft schaffender Frauen stehen nur jene Damen, die ohne pflichtgemäße eigene Tätigkeit auf Kosten ausgebeuteter fremder Arbeit leben und statt Mehrerinnen nichts als Verzehrerinnen gesellschaftlicher Güter sind.

Die Revolution hat den schaffenden Frauen ihr Bürgerrecht gebracht, ohne danach zu fragen, ob sie in ihrer Mehrheit dieses Recht gefordert, ob sie für seinen Besitz gekämpft haben. Sie hat das tapfere Ringen ihrer Vorhut als Bürgschaft gelten lassen für die Fähigkeit, den Willen aller, Bürgerpflicht zu erfüllen.

Nun gilt es für die Frauen, ihre Dankesschuld der Revolution zu bezahlen und das in sie gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen. Seien wir stolz und kühn! Empfangen wir nicht, ohne zu geben, lassen wir uns nicht durch die Gespenster der Vergangenheit schrecken, stürmen wir entschlossen vorwärts, der Zukunft entgegen.

Die Revolution ist bedroht. Überall im Reiche kriechen die Mächte der Reaktion, der Gegenrevolution aus den Schlupfwinkeln hervor, in die der eherne Tritt revoltierender Massen sie gescheucht hatte. Die besitzenden Klassen beginnen sich zu sammeln und zu rüsten, um dem werktätigen Volk die kaum eroberte politische Macht wieder zu entreißen. Ihre Sachwalter in der Presse, in den öffentlichen Verwaltungen, in den von der Revolution beiseite geschobenen Parlamenten treten auf den Plan.

Die Konservativen entdecken ihr demokratisches Herz, und die bürgerlichen Demokraten werden sich bewusst, dass sie konservativ wirken müssen, dass jenseits der Grenze bürgerlicher Klasseninteressen das demokratische Prinzip vor der kapitalistischen Praxis abdanken muss. Die verkappten Feinde der revolutionären Macht des Proletariats sind gefährlicher als ihre offenen Gegner. Die bürgerliche Demokratie als papiernes Formelrecht soll die lebendige proletarische Demokratie abwürgen, zu deren Verwirklichung die Revolution einen ersten Schritt getan hat.

Die Forderung nach konstituierenden Nationalversammlungen für das Reich und die Einzelstaaten ist das Feigenblatt für den Vorstoß, die politische Macht für die besitzenden Klassen zurückzuerobern. Teilung der politischen Macht zwischen allen Schichten und Klassen des gesamten Volkes, wie harmlos und ideal, wie gerecht und demokratisch hört sich das an!

Allein, das Lammgewand verhüllt den Wolf. Das Proletariat hat entweder die ganze politische Macht, um sie an die Verwirklichung seines Endziels zu setzen: Überwindung des Kapitalismus durch den Sozialismus oder es hat keine Macht dazu, hat nur den Splitter der Macht, Reformen durchzusetzen, die die kapitalistische Ordnung nicht gefährden, sondern stützen. Eine Teilung der Macht zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie läuft stets auf die bürgerliche Klassenherrschaft hinaus, bleibt verhüllte, leicht geminderte Klassendiktatur der Besitzenden und Ausbeutenden.

Das Trümmerfeld der kapitalistischen Ordnung, das der Weltkrieg geschaffen, fordert gebieterisch den Aufbau der Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage, wenn nicht das arbeitende Volk an Leib und Seele verderben soll. Der Sozialismus — nicht als Gesellschaftstheorie als Gesellschaftspraxis ist das Gebot der Zeit. Die Aufgaben, die gestellt werden durch die Lebensmittel- und Rohstoffbeschaffung, durch Demobilisation, Arbeitsvermittlung, Arbeitslosenfürsorge, Wiedereinrichtung der aus Rand und Band geratenen Wirtschaft, können nur durch sozialistische Losungen bewältigt werden, ohne dass die breitesten Volksmassen Opfer unerträglicher Zustände werden. Der Kern des Kampfes um die politische Macht ist der Kampf um die Wirtschaftsordnung der Gesellschaft. Wer die Niederwerfung des Kapitalismus, das Erstehen des Sozialismus will, der darf nicht zulassen, dass die politische Macht des arbeitenden Volkes durch die politische Macht der Besitzenden gelähmt wird. Er muss die ganze Macht für des Proletariats Riesenhand fordern. Der politische Umsturz, der Throne und Bürokratensessel zerschmettert hat, er muss zum wirtschaftlichen Umsturz werden, der dem Kapitalismus das Ende bereitet. Die Revolution muss erhalten und weitergetrieben werden!

Dieses Ziel ist das der Frauen, die sehnsüchtig ihre volle Befreiung erwarten. Alle Härten und Schrecken, die dem Volk der Hand- und Kopfarbeitenden drohen, wenn der ausbeutende und knechtende Kapitalismus an der Herrschaft bleibt, werden erdrückend, zermalmend auf den Frauen lasten. Nur die Revolution kann sie von traurigstem Geschick erretten: eine Revolution, die von politischen zu wirtschaftlichen Zielen vorwärts stürmt.

Proletarische Frauen haben die ersten Schlachten der Revolution gegen Monarchie, Junkerherrschaft und Militarismus schlagen helfen. Die proletarischen Frauen müssen mit dafür sorgen, dass das Erbe der Revolution erhalten bleibt, die Errungenschaft der politischen Macht nicht angetastet werde.

Mögen sich die Frauen nicht darüber täuschen und täuschen lassen, dass volle Demokratie für sie nicht geschaffen wird, von der Rednertribüne konstituierender Nationalversammlungen die nur darauf hinauslaufen können, die kapitalistische Ordnung zu verewigen. Mögen sie sich bewusst bleiben, dass diese Demokratie in dem Boden einer sozialistischen Ordnung verankert sein muss, die mit Zertrümmerung des wirtschaftlichen Jochs der Arbeit den Gesellschaftsbürger in Wahrheit und Tat befreit.

An die Arbeit, Frauen, Proletarierinnen, damit diese Erkenntnis bis in das bescheidenste Dachstübchen dringt! An die Arbeit, damit diese Erkenntnis opferbereiter, tatkräftiger Wille werde! Kein Zagen vor den vorrückenden reaktionären Gewalten! Kein Paktieren mit falschen Freunden! Rüsten wir uns, die Gegner auf jedem Boden und mit allen Waffen zu bekämpfen. Bleiben wir eingedenk, dass der Frauen Recht in ihrer Macht als Schaffende ruht. Frauenarm ist heute stark genug, die Räder des Wirtschaftsgetriebes stillstehen zu machen, wenn Frauenwille das befiehlt. Kämpfen wir! Der Revolution — der Frauen Dank.

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