Clara Zetkin 19171130 Der Kampf um Macht und Frieden in Russland

Clara Zetkin: Der Kampf um Macht und Frieden in Russland

(November 1917)

[Frauen-Beilage der Leipziger Volkszeitung, 30. November 1917., Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. I, S. 770-777]

Abermals sind die Blicke der friedenssehnsüchtigen Völker der ganzen Welt auf Russland gerichtet, und das mit einer leidenschaftlicheren Spannung als je zuvor. Dauer und Verschärfung des entsetzlichen Weltkrieges haben in allen Ländern das Friedensbedürfnis gesteigert, und das gewaltige revolutionäre Geschehen in Russland rückt die Möglichkeit eines baldigen Friedens in greifbare Nähe. Vorausgesetzt, dass die Kriegführenden den Frieden wollen, weil sie ihn wollen müssen.

Wie im März hat sich in Russland wieder die Revolution in furchtbar-prächtiger Kraft erhoben. Die nämliche und doch nicht dieselbe. Abermals wird die Umwälzung von dem sozialistisch geführten Proletariat der großen Industriezentren, einem erheblichen Teil der Bauernschaft, des Kleinbürgertums und des Heeres getragen. Jedoch in ihrem Ziel und in ihren Wegen zum Ziel geht sie mit klarer Entschlossenheit weit über die Februarrevolution hinaus. Diese zwang zwar die russische Bourgeoisie, den liberalisierenden Semstwoadel inbegriffen, ihr Ideal eines wohl frisierten bürgerlichen Staatsstreichs fahren zu lassen, der lediglich das Regierungsruder in andere Hände gelegt hätte, und sich mit süßsaurer Miene in eine Zerschmetterung des Zarismus zu schicken, der sich als trefflicher Schirmvogt des Kapitalismus bewährt hatte. Allein, sie blieb eine bürgerlich-politische Revolution, die sich in der Hauptsache darauf beschränken sollte, Russland in die freieste demokratische Republik der Welt umzuschmelzen, sicherlich auch das eine Aufgabe von gewaltigster geschichtlicher Bedeutung.

Um inmitten der Bürden und Schrecken des Weltkriegs und der Lage, die er für Russland geschaffen, dieses Ziel zu erreichen und damit günstige Bedingungen für den proletarischen Klassenkampf, fanden sich der rechte, opportunistisch gerichtete Flügel der russischen Sozialdemokratie, die Menschewiki, und der rechte Flügel der Sozialrevolutionäre nicht nur mit der kleinbürgerlichen und bäuerlichen Demokratie zusammen, sondern auch mit der liberalen Bourgeoisie, die in der Kadettenpartei ihre politische Vertretung hat. Beide sozialistische Gruppen waren überzeugt, dass bei der gesellschaftlichen Struktur und dem Entwicklungsgrad der Wirtschaft in Russland die Massen des Proletariats und der Bauernschaft allein nicht die Macht besäßen, das Erbe der Revolution zu verwalten und mit ihm zu wuchern. Nur vom Zusammenwirken aller Gesellschaftsschichten erwarteten sie den dauernden Triumph der Revolution und ihr schöpferisches Ausleben. So folgte den stürmischen Märztagen ein Honigmond der vermählten ”demokratischen Kräfte” Russlands ohne Klassenkämpfe großen Stils. Nach der Sprengung aller alten politischen Fesseln erhoben sich die verschiedenen Klassen der russischen Gesellschaft nicht im elementaren Ringen widereinander, sondern — ein geradezu beispielloser Vorgang in der Geschichte — sie wirkten in Harmonie einträchtig zusammen. Der kapitalistische Leu ließ das proletarische Lamm friedlich neben sich weiden. So schien es, und nicht wenige nahmen ihres Herzens Wünsche, dass dem so sein möge, für schlichte, echte Wirklichkeit. Politisch fand die Lage, die die Februarrevolution hinterlassen, in den einander ablösenden vorläufigen Koalitionsregierungen ihren Ausdruck. Wie immer die Parteigruppierungen und die Personen in ihnen wechselten, zwei Grundzüge waren ihnen allen gemeinsam. — Ihre Heimatpolitik stand im Zeichen der Verbindung von revolutionärer Demokratie und Bourgeoisie, von Sozialisten verschiedener Fraktionen und Kadetten; die Außenpolitik wurde von dem Bündnis zwischen Russland und den imperialistischen Westmächten beherrscht. So blieb nach dem Herrscherwort des internationalen Imperialismus auch im Russland der Revolution national vereint, was durch unversöhnliche Klassengegensätze geschieden ist, und international getrennt, was durch unzerstörbare Klassensolidarität zusammengeschweißt werden sollte.

Aber die Klassenngegensätze lassen ihrer nicht spotten. Sie lassen sich nicht wegdisputieren durch die gelahrtesten Perücken, nicht wegschmeicheln durch die geriebensten Realpolitiker, nicht bändigen durch die fauststärksten Büttel und Schergen, nicht fortdeklamieren durch demokratische Schönrednerei. Solange sie nicht durch die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln überwunden sind, stellen sie sich immer und immer aufs Neue breit, vierschrötig in die Geschichte und machen ihr Recht geltend. Ausstände, Hungerkrawalle, Bauernunruhen, Einschränkung und Durchbrechung der kaum beschworenen politischen Freiheiten, Aufhebung von Fortschritten, von deren Verkündung die Luft noch zitterte: all das und vieles mehr kündete, dass trotz aller Huldigungen vor der revolutionären Demokratie in Russland die Klassengegensätze sich weiter in Klassenkämpfen auswirken mussten.

Das Bündnis zwischen revolutionärer Demokratie und Bourgeoisie wurde, je länger, je mehr, zur Bindung zur Fessel für die revolutionären Kräfte des Landes. Die Erneuerung, der Wiederaufbau der Verhältnisse auf höherer Stufe schien in weite Fernen zu entrücken. Keine durchgreifenden sozialen Reformen zugunsten von Proletariat, Bauernschaft und Kleinbürgertum. Sogar die Sicherstellung des politischen Erbes der Februarrevolution durch eine konstituierende Versammlung von Monat zu Monat verschleppt. Keine entscheidende Tat, um die Forderung der revolutionären Demokratie zu verwirklichen: Friede ohne Annexionen und Entschädigungen, mit verbürgtem Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Gewiss: Die erlösende Tat war unter den gegebenen Umständen besonders schwer. Ihre Wirkung durfte nicht sein, den Imperialismus der einen kriegführenden Staatengruppe auf Kosten der andern zu stärken und damit die Ansätze demokratischer Entwicklung unter den Kürassierstiefel reaktionärer Gewalten zu bringen. Allein, die Wirkung musste unter dem Gesichtswinkel der politischen Weiterentfaltung der Dinge betrachtet werden, und von dort aus gesehen erscheint der Friede als das einzige Erfolg verheißende Mittel zur Überwindung des Imperialismus aller Staaten, der Friede, der eine unerlässliche Vorbedingung dafür ist, dass die Revolution Russland von Grund aus umzupflügen und umzuschaffen vermag.

Mit steigender Erbitterung, ja Verzweiflung, erlebten die breitesten russischen Massen, dass eine vorläufige Regierung nach der andern fortfuhr, für imperialistische Weltmachtgelüste das Blut und den Schatz des Volkes zu vergeuden. Und die tausendgestaltige Not dieser Massen schrie gen Himmel. Ein Umschwung vollzog sich in der Stimmung, der Auffassung der Arbeiter, Bauern und Soldaten, deren Organisationen — die Sowjets, die Arbeiter- und Soldatenräte — das Rückgrat der revolutionären Demokratie sind. Es deuchte ihnen verderblich, die politische Macht noch länger mit der Bourgeoisie zu teilen, als Gebot der Stunde erschien ihnen, die ganze Regierungsmacht in die eigene Hand zu nehmen. Mit dieser Erkenntnis triumphierte die Losung, die der linke Flügel der russischen Sozialdemokratie, die Partei der Bolschewiki, von Anfang an vertreten hat. Die Führung in den Sowjets ging von den gemäßigten auf diese radikalen Sozialisten über, deren Einfluss durch den gleichgerichteten linken Flügel der Sozialrevolutionäre, der Internationalisten, gestärkt wird. Auffassung ist Wille, und Wille ist Tat geworden.

Der Riesenschatten der Revolution stand ihr vorauseilend über Petersburg, als im Juli das hauptstädtische Proletariat sich erhob, um die damalige vorläufige Regierung zu zwingen, den Fuß am Mal der proklamierten Friedensformel zu halten. Mit Gewaltmaßregeln blutig niedergeworfen, wie sie der Zarismus nicht anders hätte ersinnen können, setzte es dennoch die Ausschiffung führender Imperialisten aus der Regierung durch sowie eine genauere Erklärung der Friedensformel, die dem kriegverlängernden diplomatischen Auslegespiel einen Riegel vorschieben sollte. Und nun ist Anfang November die Gewaltige selbst reisiger wiedergekehrt. Von den Losungen der Bolschewiki beseelt und geleitet, hat zuerst der Petersburger Sowjet dem arbeitenden Volk die Fahne der Rebellion gegen die Regierung Kerenskis voran getragen. Der Kongress aller russischen Arbeiter- und Soldatenräte übernahm sie aus seinen Händen und machte sie zu der seinigen, zum allgemeinen Banner. Die Regierung der Koalition zwischen revolutionärer Demokratie und imperialistischer Bourgeoisie ist nicht mehr.

Die Bolschewiki haben in kühnem Ansturm ohnegleichen ihr Ziel erreicht. Die Regierungsgewalt ist in den Händen der Sowjets. Die revolutionäre Diktatur des Proletariats ist Ereignis oder richtiger: die Diktatur des werktätigen Volks, denn um das Industrieproletariat der großen modernen Wirtschaftszentren Russlands, der Kristallisationsachse revolutionärer Kräfte, gruppieren sich Bauern und Kleinbürger in Arbeitsbluse und Waffenrock. Das Idyll der Revolution als Werk aller Gesellschaftsschichten ist ausgeträumt. Im harten Bürgerkrieg muss die revolutionäre Demokratie um die Behauptung der Macht ringen.

Stellen diese Tatsachen nicht alles auf den Kopf, was wir gelernt und gelehrt haben über die Entwicklungsreife der gesellschaftlichen Dinge und der Menschen als unerlässliche Vorbedingungen solchen ”Umsturzes”, wie er im Osten die Welt zu verändern verspricht? Und muss die ”Rückständigkeit” der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands und die seiner Volksmassen, muss die Spannung zwischen geschichtlicher Wirklichkeit und geschichtlichem Ziel nicht von vornherein die Erhebung der Bolschewiki zum Zusammenbruch verurteilen und damit die Revolution selbst? So meinen nicht nur Sozialisten des Auslandes, so meinen die gemäßigten Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre Russlands selbst ... Russland ist zu drei Vierteln ein agrarisches Land, spärlich und weit auseinander liegend sind die großen Zentren kapitalistischer Industrie mit einem modernen Proletariat. Die Verkehrsverhältnisse stecken überwiegend in den Kinderschuhen. Die Proletarier selbst stehen noch zum guten Teil im Banne bäuerlichen Empfindens und Denkens. Die breitesten Massen sind Analphabeten, ohne starke Organisationen mit wohlgefüllten Kassen, ohne politische Schulung durch Wahlzettel, Wahlkampf und Parlamentsreden. Welch leichtfertiger Frevel, unter diesen Umständen die Diktatur des Proletariats zu wollen!

Das klingt bestechend, ist aber nach unserer Meinung nicht stichhaltig, so wenig wir die gesteigerten, die ungeheuren Schwierigkeiten leugnen, die in den angedeuteten Verhältnissen beruhen. Die ”notwendige Reife” der Dinge und der Menschen zur Revolution ist eine Formel, die durch die geschichtliche Wirklichkeit Inhalt und Leben empfängt, und diese geschichtliche Wirklichkeit lässt sieh nicht in das Schema F pressen. Der historische Materialismus ist keine Sammlung fertiger Rezepte für soziale Ärzte, Kurpfuscher und Apotheker, Er ist bisher das vollkommenste Werkzeug zur Erforschung und Durchleuchtung, zum Verständnis des geschichtlichen Werdegangs der Menschheit. Die Entwicklung der Wirtschaft und der gesellschaftlichen Dinge in Russland muss an sich selbst und darf nicht an den Vorbildern der Länder alter europäischer Kultur gemessen werden. Diese Entwicklung fasst in vieler Hinsicht Asien, Europa und Amerika zusammen. Und wenn das russische Volk nicht durch die Schule jener Kultur gegangen ist, die in Mittel- und Westeuropa in der Hauptsache das Werk des zünftigen städtischen Bürgertums gewesen ist die bildende Kunst und namentlich die Baukunst als sozialste aller Künste erweist das sinnenfällig —‚ so ist es dafür auch nicht mit all den bürgerlichen Traditionen und Bindungen beschwert, die bei uns die Entschließungen der Massen mit des Gedankens Blässe ankränkeln. Doch davon abgesehen und vor allem: Die Dinge und Menschen sind reif zur Revolution, wenn breite Volksschichten bestimmte Zustände als unerträglich empfinden; wenn sie nicht mehr an den Willen und die Fähigkeit übergeordneter Gesellschaftsmächte glauben, die unerträgliche Last von ihnen zu nehmen; wenn sie nur noch auf die eigene Kraft vertrauen, von der Empfindung durchglüht:

Der alte Urstand der Natur kehrt wieder

Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht.”

Unter den Scharen auf die sich Cromwell stützte, war die Zahl der Psalmen singenden Analphabeten gewiss sehr groß, und die wenigsten Stürmer der Bastille dürften ”gebildet” genug gewesen sein, später auch nur den Père Duchesne1 zu lesen. Die russischen Proletarier und Bauern sind reif zur Revolution, zum Kampfe für die Eroberung der Staatsmacht weil sie die Revolution, die Staatsmacht wollen und den Kampf nicht scheuen.

Eroberung der ganzen politischen Macht im Reiche, Eroberung der Staatsmacht, das besagt eines. Die Revolution kann sich nicht damit begnügen, Russland politisch umzuwälzen, sie muss auch wirtschaftlich und sozial mit dem Hammer philosophieren, auf dass Neues erstehe. Der soziale Inhalt dieser Revolution ist eine Lebensnotwendigkeit. Die Regierung der Sowjets will der Bauernschaft den Grund und Boden, will der Arbeiterklasse die Kontrolle über die industrielle Gütererzeugung übergeben, Umwälzungen das, denen Berge von Schwierigkeiten entgegenstehen, die aber auch der Erhebung der Bolschewiki die höchste geschichtliche Tragweite verleihen, für Russland selbst wie für die ganze Welt. Die wichtigste Vorbedingung für die Durchsetzung des revolutionären Programms ist der Friede. Die revolutionäre Regierung erstrebt ihn getreu der Auffassung, die die Bolschewiki seit Kriegsausbruch konsequent in die Massen getragen haben:

Das Proletariat Russlands steht in unversöhnlichem Gegensatz nicht bloß zum Imperialismus der Mittelmächte, sondern zum Imperialismus aller Staaten, Russland inbegriffen. Das Proletariat Russlands ist in inniger Solidarität verbunden nicht bloß mit den Arbeitern der Ententemächte, sondern mit den Arbeitern der ganzen Welt, die Arbeiter der Mittelmächte inbegriffen.”

Von dieser Auffassung geleitet, ist die revolutionäre Regierung Russlands entschlossen zum Frieden und hat die ersten Schritte zu einem Waffenstillstand getan, ohne sich durch die Geheimverträge verpflichtet zu fühlen, mit denen der russische Imperialismus Land und Volk an den Kriegswagen des westeuropäischen Imperialismus gekettet hat.

Welches aber auch immer für den Augenblick der Ausgang des kühnen Kampfes der russischen Arbeiterklasse um die Macht und für den Frieden sein mag: er wird nicht umsonst gewesen sein. Dieser Kampf wird tiefe, unverwischbare Spuren in die Geschichte graben, und nicht nur von seinem Sieg, den die Proletarier aller Länder leidenschaftlich wünschen, von der bloßen Tatsache, dass er war, wird neues, schöpferisches Lehen ausstrahlen.

1 Von Hébert herausgegebene radikale Zeitschrift während der französischen Revolution


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