Clara Zetkin 19181113 Ein Jahr proletarischer Revolution in Russland

Clara Zetkin: Ein Jahr proletarischer Revolution in Russland

(November 1918)

[Frauen-Beilage der ”Leipziger Volkszeitung” vom 13. November 1918. Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. II, Berlin 1957, S. 43-54]

In diesen ereignisreichen Tagen hat sich zum ersten Mal das geschichtlich ewig denkwürdige Datum des Ausbruchs der proletarischen Revolution in Russland gejährt. Von den kühn und opferbereit geradeaus vorwärts stürmenden Bolschewiki geführt, haben sich vor einem Jahr die Sowjets, die revolutionären Organisationen der Arbeiter, Bauern und Soldaten, zu Herren des russischen Staates gemacht. Ihre Losung war: ”Die ganze Macht den Sowjets!” Die Staatsmacht wurde den Händen der so genannten reinen Demokratie entwunden einer Koalition von bürgerlich-liberalen, fortschrittlichen Parteien und den Sozialdemokraten und Sozialrevolutionären der Rechten und ging an die revolutionäre Demokratie über, an die frei gewählte Vertretung der Arbeiter, Bauern, Soldaten und Matrosen. Und das zu dem großen Ziel, die tief erschütterte, aus den Fugen getriebene Wirtschaft und Gesellschaft Russlands auf sozialistischer Grundlage neu aufzubauen und damit den breitesten arbeitenden Massen des russischen Volkes, den Arbeitern und armen Bauern, volle soziale Freiheit, ganzes Menschentum zu verbürgen.

Die proletarisch-sozialistische Revolution die Oktober- oder Novemberrevolution genannt, je nachdem man nach altem russischem oder nach westeuropäischem Kalender rechnet war die konsequente Weiterentwicklung und Steigerung der Februar- beziehungsweise Märzrevolution. Aber gerade indem sie das war, musste sie in Gegensatz zu dieser treten, musste sie sich nach Charakter und Ziel von ihr unterscheiden, dem logischen Gesetz entsprechend, dass Quantität in Qualität umschlägt, dass das Maß Eigenschaft, dass ein Mehr ein Andres wird. Die Februarrevolution hatte dem Zarismus, dem alten absolutistischen Herrschaftssystem, den Garaus gemacht. Wenn auch in der Hauptsache von den städtischen Proletariern getragen, war sie bürgerlichen Wesens geblieben. Sie ging um die Verwirklichung bürgerlicher politischer Ziele, denn sie sollte der politischen Demokratie das Tor öffnen. Nebenbei hatte sie auch die Aufgabe, soziale Reformen im Rahmen dessen zu bringen, was mit der bürgerlichen, der kapitalistischen Ordnung verträglich ist und notwendig scheint, um das nicht besitzende Volk einigermaßen in Sättigung und Ruhe zu halten. Das alles unter den verwickelten, verwirrenden und erschwerenden Umständen, die der Weltkrieg mit seinem Inhalt und seinen Ereignissen für Russland geschaffen hatte und schuf.

Verschiedene Regierungen lösten einander ab. Auf die bürgerlich-liberale Regierung, die von den rechtsgerichteten Sozialdemokraten und den Sozialrevolutionären von außen her beraten, gestützt, kontrolliert wurde, folgte nach dem Aufstand der Petrograder Arbeiter die demokratisch-sozialistische Koalitionsregierung Kerenski, an der die oben genannten revolutionären Parteien Teil und Verantwortung hatten. Und das Ergebnis? Dass mit jedem Tage das Erbe der Revolution mehr vertan wurde. Die Regierungen erwiesen sich außerstande, auch nur die bürgerlich-politischen und reformerischen Ziele der Revolution festzuhalten und zu verwirklichen. Sie brachten nicht den Willen, die Stärke auf, die vornehmste Voraussetzung dafür zu schaffen: das russische Volk aus der Hölle des Weltkrieges zum Frieden zurückzuführen und alle gesellschaftlichen Kräfte auf die Erneuerung Russlands, auf seinen freiheitlichen Aufbau zu konzentrieren. Der stolze Strom der Revolution drohte zu versanden und zu versumpfen. Jedoch in dem Maße, als eine Revolution aufhört, ”revolutionär” zu sein, in dem Maße, in dem sie ihre Ziele preisgibt, erstarken die Mächte der Gegenrevolution. Am Ende des Honigmonds der ”reinen Demokratie” stand die Diktatur vor Russlands Tür, die Militärdiktatur Kornilows im Dienste eines kaum modernisierten Zarismus, die Bourgeoisdiktatur Kerenskis im Dienste der besitzenden Minderheit.

Die Sozialisten der Linken, die Bolschewiki, erkannten das Gebot der Stunde und gehorchten ihm. Sie riefen das Industrieproletariat, die arme Bauernschaft auf den Plan und führten die Sowjets zur Eroberung der Staatsmacht. So durften, so konnten sie sich nicht darauf beschränken, der Revolution bürgerlich-politische und reformerische Aufgaben zu stellen. Sie mussten ihr proletarisch-sozialistische Losungen geben, mussten ihr das größte Ziel unserer Zeit setzen: die Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus. Der grundsätzliche Bruch mit der Vergangenheit war da, als proletarisch-sozialistische Revolution reckte sich die Revolution in ihrer ganzen riesenhaften Größe empor. Zum ersten Mal in der Geschichte ergriffen breite Massen des werktätigen Volkes unter sozialistischer Führung die Staatsmacht in einem großen Reich, und das zu dem Zwecke, sie im Klasseninteresse der Ausgebeuteten und Unfreien für den Aufbau der Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage zu gebrauchen. Ein Unterfangen von beispielloser Größe und Kühnheit. Namentlich in einem Lande wie Russland, das der Kapitalismus noch nicht einheitlich umgepflügt hat, wo ein buntes Nebeneinander kapitalistischer und vorkapitalistischer Wirtschaftsformen und gesellschaftlicher Verhältnisse besteht. Namentlich in dem gegebenen Augenblick, wo dieses Land aus tausend tiefen Wunden blutete, die ihm der Krieg geschlagen, wo die verderbensschwere Erbschaft des Imperialismus auf Reich und Volk lastete. Millionen der kräftigsten, leistungsfähigsten Männer waren seit Jahren der Wirtschaft, der Kulturarbeit entzogen. Ungezählte deckten als Erschlagene die Schlachtfelder, kehrten als Krüppel und Sieche in die Heimat zurück, das wirtschaftliche Getriebe war vollständig desorganisiert, der Hunger schrie durch das Land. Es bleibt der unvergängliche geschichtliche Ruhm der Bolschewiki, Aug in Auge mit den ungeheuersten Schwierigkeiten nicht vor der Pflicht zurückgewichen zu sein: als Sozialisten zu handeln, als Sozialisten in einer Zeit zu handeln, wo die früher voranschreitenden sozialistischen Parteien das rote Banner entweder verräterisch vor den wehenden Kriegsfahnen des nationalen Imperialismus gesenkt hatten oder aber der Kraft und des Vertrauens ermangelten, es kühn auftretend den Massen voraus zu tragen. Es bleibt der unsterbliche Ruhm des jungen russischen Proletariats, unter dieser sozialistischen Führung sein Herzblut darangegeben zu haben, den Imperialismus in die Knie zu zwingen, den Kapitalismus durch den Sozialismus zu überwinden.

Als die Bolschewiki mit ihrer proletarischen Elitetruppe die Staatsmacht eroberten, als sie diese in die Hände der Sowjets legten, erklangen die düstersten Prophezeiungen, von sorgender Liebe und bänglicher Bewunderung eingegeben wie von giftigem Hass und feigem Kleinmut. Bei der ”Unreife der Verhältnisse und Menschen” in Russland müsse die Sowjetregierung binnen acht oder vierzehn Tagen fortgefegt werden. Nicht viele sagten ihr eine Lebensdauer von acht Wochen voraus. Und mit der Regelmäßigkeit von Schillers Mädchen aus der Fremde, wenn auch ohne dessen Reiz, sind die Ankündigungen ihres sicheren ”demnächstigen Sturzes” periodisch wiedergekehrt. Doch siehe dal Das so oft sterbend gesagte Sowjetrussland lebt heute noch und kann den Jahrestag der stolzen Schilderhebung des Proletariats, seiner Eroberung, begeben. Wie viel Mächte sind seither zusammengebrochen, die unsre Zeit zu beherrschen, die dem Wandel der Zeit zu trotzen schienen. Der Bund der Zentralstaaten, der eine Welt bezwingen und erobern sollte, hat sich in zusammenhanglose, ohnmächtige Teile aufgelöst. Die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie ist ein chaotischer Trümmerhaufen, aus dem sich unter heftigen Zuckungen und Kämpfen kraft des Selbstbestimmungsrechts der Völker nationale Republiken herausbilden. Der angriffslustige, eroberungsgierige deutsche Imperialismus, der in Brest-Litowsk in überquellendem Machtgefühl mit der Faust auf den Verhandlungstisch schlagen, mit dem Schwert Russland unter das kaudinische Joch eines unerhört harten Friedens zwingen konnte: dieser Imperialismus liegt erschöpft, überwunden am Boden und muss von dem nicht minder machthungrigen und gewalttätigen Imperialismus der Entente das gleiche Schicksal entgegennehmen, das er der demobilisierten sozialistischen Räterepublik bereitete. Das Sowjetrussland aber lebt, es arbeitet, es kämpft, auf dass der Sozialismus aus einer Gesellschaftstheorie zur Gesellschaftspraxis werde. Arbeitend, kämpfend hat es die geschichtliche Berechtigung der proletarisch-sozialistischen Revolution vorigen Jahres, hat es seine geschichtliche Existenzberechtigung erwiesen. In ihrem Zeichen wird Russlands Zukunft stehen, wird sie erblühen, auch wenn der ”Bolschewismus” morgen kämpfend unterliegen würde. Rasselnd müsste sich das sozialistische Russland in die Höhe richten, riesiger müsste es wiederkehren.

Wahrhaftig: Nicht aus der Umstände Gunst erklärt sich die Lebensdauer der bolschewistischen Macht, der sozialistischen Räterepublik. Eine Lebensdauer, die erstaunlich lang ist für eine Periode der Revolution, wie sie durch den Weltkrieg unfreiwillig genug eingeleitet wurde. Denn in solchen Perioden Wägen die Stunden und Tage Jahre und Jahrzehnte des trägen Laufs der geschichtlichen Evolution auf. In winzigen Spannen Zeit drängt sich das Werk, die Entwicklung langer Evolutionsabschnitte zusammen. Über Nacht wird möglich, wird Tat und Wirklichkeit, was Jahrzehnte hindurch Wolkenkuckucksheimerei dünkte. Im Zeitalter der Großen Französischen Revolution hat es Hölderlin in diesen Worten gesagt:

Mit ihrem heil‘gen Wetterschlage,

Mit Unerbittlichkeit vollbringt

Die Not an einem großen Tage,

Was kaum Jahrhunderten gelingt.”

Das Sowjetrussland hat ”allen Gewalten zum Trotz sich erhalten”. Es hat ein Jahr gedauert kraft seiner Leistungen, kraft seines ehrlichen, leidenschaftlichen, opferbereiten Willens, den Schatz der Revolution zu erhalten und zu mehren, die Entwicklung mit stürmischem, raschem Wellenschlag vorwärts zu treiben zum Sozialismus.

Nur selige Träumer konnten wähnen, dass der Revolution die Zauberkraft eignen würde, mit einem Schlage die Gesellschaftsordnung des Sozialismus zu schaffen. Diese wird sogar in Ländern mit so genannter geschichtlicher Reife kein Eintagswerk sein, sondern die Frucht eines zielbewusst gesteuerten und geleiteten Entwicklungsprozesses. Wie viel mehr erst in Russland mit seinen gegebenen historischen Umständen. Aber die Revolution schafft die Voraussetzungen für eine großzügige, tatsächlich-sozialistische ”Realpolitik”. Sie ermöglicht es, die ganze Staatsmacht einzusetzen zur Niederwerfung und Überwindung der Widerstände, die sich der Umwandlung der Gesellschaft in eine sozialistische entgegenstellen, wie auch zur planmäßigen Förderung aller Entwicklungstendenzen und Entwicklungserscheinungen, die auf diese Umwandlung hinzielen. Die Sowjetregierung der Arbeiter und Bauern hat in diesem Sinne die Staatsmacht bald als aufbauende Kelle gebraucht, um für die Herbeiführung des Sozialismus zu wirken. Sie hat nicht mit einem kühn-phantastischen Federstrich über Nacht die fix und fertige sozialistische Ordnung einführen wollen. Sie hat aber vom ersten Tage ihrer Macht bis heute getan, was ihr möglich und notwendig schien, um das Werden dieser Ordnung zu beschleunigen und zu unterstützen.

Sie ist sich bewusst geblieben, dass die brennende Reform der Agrarverhältnisse nicht mit der Enteignung des Großgrundbesitzes und seiner Aufteilung unter den landhungrigen Bauern beendet sein kann und darf, sondern dass sie damit erst recht anfängt. Sie bemüht sich, durch die verschiedensten Maßnahmen die russische Agrarwirtschaft auf eine höhere Stufe der Leistungs- und Ertragsfähigkeit zu heben. Nicht zuletzt auch durch die Errichtung vorbildlicher kommunistischer ”Agrargemeinden”, die den Bauern einen großen Anschauungsunterricht wissenschaftlich-technisch fortgeschrittener rationeller Wirtschaft erteilen sollen und die damit gleichzeitig für die Zügelung und Überwindung des kleinbäuerlichen Eigentumsfanatismus und Egoismus durch das Prinzip der Gemeinsamkeit, Genossenschaftlichkeit wirken. In der Erkenntnis des Klassengegensatzes zwischen der ärmsten landwirtschaftlichen Bevölkerung und den reichen Bauern sucht sie tastend nach Mitteln und Wegen, die allseitigen Interessen der ersteren wahrzunehmen. Sie strebt danach, den Gegensatz zwischen Stadt und Land auszugleichen und durch eine starke Interessengemeinschaft abzulösen. Die Sowjetregierung ist darangegangen, das Finanz- und Bankkapital, den Auslandshandel sowie diejenigen Industrien zu nationalisieren, in denen, wie in der Textilindustrie, der chemischen Industrie usw., der Kapitalismus wichtige Vorbedingungen dafür erzeugt hat. Sie hat den Achtstundentag zur Norm gemacht, die Arbeitszeit, die Lohn- und sonstigen Arbeitsbedingungen geregelt und hat namentlich die Gewerkschaften zu mitbestimmenden und kontrollierenden Organen der Gesellschaft für die industrielle Produktion und Wirtschaft erhoben. Sie ist drauf und dran, einen durchgreifenden Arbeiterschutz und ein weit spannendes Netz wirksamer sozialer Fürsorgeeinrichtungen zu schaffen, die insbesondere auch den Interessen von Mutter und Kind gerecht werden. In großzügiger Weise sucht sie die Volksbildung von unten auf bis zur Spitze der Hochschulen auf der Grundlage neu aufzubauen, die den Forderungen der modernen Erziehungswissenschaft entspricht. Wenn die ganze Staatsmacht des Volkes sein soll, so muss ihm auch ganzes Wissen, ganze Bildung werden.

Die Revolution hat in den Sowjets den werktätigen Massen die politische Form geschaffen, ”unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen kann”, die Organe, die im Dienst ihres Selbstbefreiungswerks stehen, die Organe wirklicher Demokratie. Jedoch es ist Russlands Arbeitsvolk — wie den Brüdern und Schwestern andrer Länder nicht vergönnt, seine Befreiung unter den idealsten Bedingungen zu vollziehen; es bleibt dafür an die raue Wirklichkeit der Bedingungen gebunden, die da sind. Unter den gegebenen Umständen hätte das Sowjetrussland nicht schöpferisch sein, ja nicht leben können, ohne die Diktatur des Proletariats, der armen Bauernschaft. Sie war, sie ist zur Zeit noch unvermeidlich als Gebot der Selbstbehauptung, des Selbstschutzes der Revolution gegen die Konterrevolution, die tückisch im Dunkeln schleicht, dir in die Straßen tritt, um Sowjetrussland an die Kehle zu springen. Dieses musste in der Notwehr mit dem Hammer, mit dem Schwert ”philosophieren”, Gewalt gegen Gewalt stellen. Von den Feinden der Revolution hängt es letzten Endes ab, dass diese Übergangszeit zur vollen Demokratie möglichst kurz und möglichst milde sei, denn die Revolution selbst ist auf Recht und nicht auf Gewalt gerichtet. Marx hat mit der ihm eigenen Gabe scharfer Charakterisierung die Gewalt eine Lokomotive der Geschichte genannt,1 nicht ihr Ziel.

Es ist ein gewaltiges, ein stolzes Werk, auf das Sowjetrussland, seine Regierung nach einem Jahre Revolution zurückblicken können. Seine Spuren können nun und nimmer aus der Geschichte des proletarischen Befreiungskampfes getilgt werden. Dieses Werk wirkt lebensspendend, schöpferisch weiter. Soll damit gesagt sein, dass es in allen seinen Einzelheiten vollkommen, unanfechtbar, beispielgebend sei? Mitnichten! Auch von ihm wird gelten, was nach Marx vom Wesen proletarischer Revolutionen untrennbar ist: Nämlich, dass sie sich nicht mit einem ungeheuren Schlag unter Brillantfeuerwerk durchsetzen, dass sie abgebrochen und wieder aufgenommen werden, dass sie sich unaufhörlich selbst korrigieren, Versäumtes nachholen, Verfrühtes zur Seite schieben.2 Trotz alledem und alledem wird das Sowjetrussland beispielgebend bleiben an revolutionärer Kühnheit und Energie, an unermüdlicher zäher, selbstverleugnender Arbeit, womit es darum ringt, dafür kämpft, dass der Sozialismus Wahrheit und Tat werde. Marx hat in der Adresse des Generalrats über die Pariser Kommune jubelnd die .Anläufe begrüßt, die, wie das Verbot der Nachtarbeit in den Bäckereien, in der Richtung einer sozialistischen Ordnung lagen. Zwergenhaft erscheinen diese Anläufe neben dem Riesenwerk der russischen Revolution. An dem Weltproletariat ist es, seine jubelnde Würdigung dieses Werkes in solidarisches Handeln umzusetzen!

Und das Weltproletariat steht auf, um zu handeln. Endlich! Die verlachte, verhöhnte, beschimpfte Überzeugung unseres Freundes Lenin tritt uns heute, zu Fleisch und Blut verkörpert, in revolutionären Volksmassen entgegen. im Gefolge der proletarischen Revolution Russlands schreitet die Weltrevolution klirrenden Fußes über den Erdball. Wie innerhalb der Grenzen des alten Österreich-Ungarns so stellen in Deutschland die breitesten Massen der Scheindemokratie Potemkinscher ”Volksregierungen” die Demokratie der sozialistischen Republik gegenüber. Die politische Macht geht an frei gewählte Arbeiter- und Soldatenräte über, die das organisatorische Rückgrat, die revolutionären Kader der Volksbewegung sind. Das russische Beispiel hat gezündet, wenn auch langsam.

Die russische Revolution war eine Lehrmeisterin fruchtbarer Erkenntnisse für die Proletarier aller Länder, war eine starke, unerbittliche Ruferin zum Kampf, ”in dem ein Hüben und Drüben nur gilt”. Sie hat im Weltproletariat den Glauben an den Sozialismus und seinen Sieg in naher Zeit wie das Selbstvertrauen in die eigene Kraft belebt und gestärkt. Dieser Glaube und dieses Selbstvertrauen waren mit dem Ausbruch des Weltkrieges durch den Verrat vieler sozialistischer Parteien und Gruppen in den einzelnen Ländern erschüttert worden. Sie hatten aufgehört, treibende Kräfte des proletarischen Klassenkampfes zu sein. Vor der bluttriefenden Macht des Kapitalismus schien der Sozialismus in weite, nebelhafte Zukunftsfernen entflohen. Vor der Leiber und Seelen zermalmenden Gewalt der Maschinerie des Militarismus hatte sich das Selbstvertrauen der besitzlosen Massen scheu und feig geduckt. Sie ließen sich von kurzsichtigen oder überzeugungslosen Führern irreführen hinüber ins Lager des Imperialismus, statt die Führer voranzutreiben zum Sozialismus. Als Gebot der Stunde erschien die Unterwerfung unter die Macht des Kapitalismus, das Paktieren mit ihm; das Voranstellen nationalistischer Losungen angeblicher ”Landesverteidigung” statt sozialistischer Ziele; das Erlisten und Erbetteln winziger Zugeständnisse, armseliger politischer und wirtschaftlicher Trinkgelder.

Wie ein Sturmwind, der erstickende Dünste und verhüllende Nebelmassen verjagt, haben die russische Revolution und die Entwicklung der Sowjetrepublik gewirkt. Sie haben durch die überzeugende Macht von Tatsachen bewiesen, dass der Sozialismus nicht auf den Schlachtfeldern des Imperialismus verröchelt ist, dass er lebt und zielsetzend, wegweisend die Geschicke der Völker zu bestimmen vermag. Vorausgesetzt, dass die Völker wollen, dass sie handeln. Die überzeugende Wucht von Tatsachen hat in Russland bewiesen, dass die grauen, verachteten Massen der Besitz- und Namenlosen eine unwiderstehliche, siegreiche Macht sein können, wenn sie ihr Auge fest, unverrückbar auf das Ziel des Sozialismus gerichtet halten, wenn sie ihren Willen unerschütterlich an dieses Ziel setzen, wenn sie mutig und opferbereit für dieses Ziel handeln.

So hat die bolschewistische Revolution Russlands dem Klassenkampf des Proletariats in allen Ländern neuen starken Odem gegeben, hat den Willen und die Kraft erhöht, womit breite Massen für ihre eigenen Ziele eintreten, hat ihren Geist über einzelne kleine Tagesaufgaben hinaus auf das große, dauernde Ziel ihres Ringens gelenkt. Und mit dem allem hat sie das durch den Schlachtenlärm des Weltkriegs betäubte Bewusstsein von der internationalen Solidarität des Weltproletariats geweckt und geklärt. Sie ist zur unvergleichlichen Mahnerin an die Losung geworden: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Die russische Herbstrevolution und der Bestand, das Wirken der Sowjetrepublik sind entscheidende Faktoren für den Prozess der Selbstbesinnung und Selbstbehauptung der Proletarier, der unter den Schrecken und Wirrnissen des Weltkriegs endlich in Fluss gekommen ist. An Sowjetrusslands heiliger revolutionärer Glut hat sieh der Kampfwille des Volkes der Arbeit neu entzündet.

Die verflossene zentrümlich-fortschrittlich-sozialdemokratische Regierung für Volkstäuschung wies der ”bolschewistischen” Botschaft der russischen Räterepublik wegen angeblich ”umstürzlerischer Umtriebe” die Tür, unter geradezu frenetischem Jubel der bürgerlichen Demokratie und der gönnerhaften Zustimmung der Abhängigen Sozialdemokraten, die totes Paragraphenwerk über die lebendige Pflicht des sozialistischen Handelns stellten. Genosse Joffe und seine Mitarbeiter dürften Moskau noch nicht erreicht haben, als über den Schlachtschiffen in Kiel, Hamburg, als in Lübeck und andern Städten die rote Fahne entfaltet wurde und Arbeiter- und Soldatenräte nach ”bolschewistischem Muster” die militärische und politische Macht in die Hand nahmen. Der geschwächte, verfemte, verfluchte ”Bolschewismus” schreitet hocherhobenen Hauptes durch die Straßen der bedeutendsten Städte und Industriezentren. Die kapitalistischen Regierungen der einander bekriegenden Staaten schickten sich an, durch eine Neuauflage der berüchtigten Heiligen Allianz das sozialistische Sowjetrussland abzuwürgen, in der Hoffnung, damit das ”rote Gespenst” zu bannen. An dem Weltproletariat ist es nun, durch die Weltrevolution zu handeln. Das sozialistische Sowjetrussland hat seine Pflicht heldenmütig getan, die Proletarier aller Länder müssen die ihre tun. Inmitten des revolutionären Wetterns und Flammens dieser Tage grüßen wir unsere russischen Freunde, grüßen wir Sowjetrussland in der Hoffnung solchen Geschehens. Der Weltkapitalismus mit seinem freiheitsmörderischen Trachten muss durch die neue sozialistische Internationale des revolutionären Kampfes, der revolutionären Tat überwältigt werden.

2Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefasst, die Ekstase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer erfasst die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen

Hic Rhodus, hic salta!

Hier ist die Rose, hier tanze!

(Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 8, S. 111-207, hier S. 118)



Kommentare