Clara Zetkin 19100710 Eine Pflicht internationaler Solidarität

Clara Zetkin: Eine Pflicht internationaler Solidarität

(Juli 1910)

[“Die Gleichheit”, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 4. Juli 1910. Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 466-472]

Der modern aufgeputzte, blutstarrende russische Zarismus hat sich zu einem neuen Verbrechen angeschickt. Er will die politische Selbständigkeit Finnlands meucheln. Nicht als siegreicher Eroberer zerstampft er mit ehernen Sohlen die Rechte eines bezwungenen Volkes; als heimtückischer Eidbrecher zerreißt er feierlich beschworene Verträge, die Finnland seit 1809 als einem russischen Großfürstentum ein selbständiges, verfassungsgemäßes staatliches Leben zusichern.

Alle Verfassungsgesetze und Bürgschaften dafür, die Nikolaus II. noch im November 1905 mit heiligem Eid anerkannt und im Juli 1906 aufs Neue bestätigt hat, sollen durch ein Manifest dieses selben Monarchen in wertlose Papierfetzen verwandelt werden. Am 27. März des laufenden Jahres erklärte dieses Dokument absolutistischer Herrlichkeit mit dürren Worten, dass den russischen Staatsbehörden die Entscheidung über alle Fragen des politischen, des staatlichen Lebens in Finnland zustehen soll. Bis jetzt war die Regierung des Zaren, der zugleich finnischer Großfürst ist, durch die Verfassung des Landes an die Mitwirkung des Parlamentes gebunden. Nach dem Manifest aber wird dieses zur Rolle eines bedeutungslosen provinziellen Verwaltungsorgans erniedrigt, das lediglich auszuführen hat, was das zarische Regiment befiehlt. Die Verfassung, die politische Selbständigkeit verflüchtigen sich also zu Schall und Rauch, sie werden Worte ohne Inhalt.

Nichts als heuchlerischer Schein, gepaart mit blutigem Hohn ist es, dass der finnische Landtag aufgefordert wurde, ein “Gutachten” über die beabsichtigte Neuordnung der Dinge abzugeben, sich mithin als politischer Machtfaktor selbst das Todesurteil zu bescheinigen. Soweit sich das Parlament Finnlands mit dem absolutistischen Machwerk beschäftigt hat, warf es dem meineidigen Herrscher das Manifest zerrissen vor die Füße. In den verschiedenen Stadien der parlamentarischen Verhandlung wurde es einstimmig unter Berufung auf Recht und Gesetz als verfassungswidrig zurückgewiesen. Das Parlament ist fest entschlossen, seinen Widerstand gegen den Vorstoß fortzusetzen und das Volk zum Kampfe für seine politische Selbständigkeit aufzurufen.

Denn die Regierung des Zaren wird mit kaltem, verächtlichem Lächeln auf die Entscheidung der Volksvertretung pfeifen. Sie kann sich für ihre Gewaltpolitik auf die dritte Duma berufen — ein Muster von Parlament nach dem Herzen aller Reaktionäre, das wesenseins mit der preußischen Geldsack- und Herrenvertretung ist. Ihre Mehrheit hat dem Regierungsentwurf bereits jubelnd zugestimmt. Die “echt russischen Leute” sind dabei ebenso nicht achtend über die vorliegenden Sympathieerklärungen westeuropäischer Politiker für Finnlands Selbständigkeit und die Gutachten der Staatsrechtslehrer über sein verfassungsmäßiges Recht hinweggestampft wie über den Widerspruch der gemäßigt liberalen Kadetten und den schärfsten Protest der sozialdemokratischen Fraktion, die grundsätzlich ablehnte, über die verfassungsbrüchige Vorlage auch nur zu verhandeln. Nun hat noch der russische Reichsrat das Wort, und die Widerstände, die sich in ihm gegen die Regierungsvorlage regen sollen, sind keinesfalls dauernde Bürgschaften für die politische Unabhängigkeit des Landes der tausend Seen. Es ist nicht das erste Mal in neuerer Zeit, dass das Henkerregiment des russischen Zaren die finnische Selbständigkeit würgen will. Bereits 1899 sollte die russische Reichsgesetzgebung auch auf Finnland ausgedehnt und damit dort jede freiheitliche Entwicklung, jede Regung des erwachenden Klassenlebens der ausgebeuteten Volksmassen erstickt werden. Bobrikow kam als Väterchens Stellvertreter ins Land und suchte auf dem Verwaltungswege, unterstützt von Gefängnis, Sibirien und dem Galgen, “Ordnung” zu stiften. Um jeden Widerstand zu brechen, beseitigte er 1901 das 1878 geschaffene Militärgesetz, nach dem die Finnen nur in ihrem eigenen Land zu Kriegsdienst verpflichtet waren. Das Bobrikowsche Regiment des weißen Schreckens wurde durch den erfolglosen bürgerlichen Terror patriotischer Attentate beantwortet. Die zum Militär ausgehobenen jungen Männer streikten, sie weigerten sich, ihr Vaterland zu verlassen und Dienst zu tun. Der Ausbruch des russisch-japanischen Krieges und sein Verlauf strafften dem Widerstand des finnischen Volkes die Muskeln. Die russische Revolution erst trug ihn seinem Höhepunkt und Sieg entgegen, und es war das junge finnische Proletariat, das unter Führung der Sozialdemokratie die entscheidende Schlacht für die politische Selbständigkeit Finnlands schlug. Im unvergesslichen Oktober 1905 trat es kämpfend an die Seite der russischen Arbeiter, und die nämliche Waffe, mit der diese den Absolutismus aufs Haupt schlugen — der Massenstreik erwies sich auch in seiner Hand als befreiendes Schwert.

Der Absolutismus musste auf der ganzen Linie vor der siegreichen Revolution kapitulieren. Zähneknirschend beschwor er in Russland die Konstitution; kleinlaut musste er in Finnland die Diktatur zusammenbrechen lassen; die Ukase der Vergewaltigung wurden zurückgezogen, die beamteten Schergen verschwanden. Die finnische Arbeiterklasse aber hatte nicht bloß über den äußeren Gewalthaber triumphiert, sondern auch über ihren inneren Feind: die besitzenden und bevorrechteten Klassen. Der Generalstreik trotzte dem ständischen Landtag einer ganz verrotteten, mittelalterlichen Körperschaft — eine Verfassungsänderung ab, die zusammen mit Versammlungs-, Vereins- und Pressefreiheit, zusammen mit Einkammersystem und Proporz das demokratischste Wahlrecht der Welt für beide Geschlechter brachte.

Die Sozialistische Arbeiterpartei Finnlands hat mit dem anvertrauten Pfunde der politischen Rechte und Freiheiten im Interesse der Ausgebeuteten gewuchert. Sie vergaß nicht, dass die Revolution es in ihre Hände gelegt hatte und dass es durch den Klassenkampf und für den Klassenkampf nutzbar gemacht werden musste. Die Massen des arbeitenden Volkes zu sammeln, ihnen die sozialistische Erkenntnis zu bringen und sie wehrtüchtiger zum Kampfe gegen den äußeren und inneren Feind zu machen: das war ihre stete Sorge. Mit ihrer sozialistischen Aufklärungs- und Organisierungsarbeit unter dem Proletariat der Berg- und Hüttenwerke, der Holzbearbeitungs-, Papier- und Textilfabriken, kurz, der aufblühenden Großindustrie wie der handwerksmäßigen Betriebe, unter der bäuerlichen Lohnarbeiterschaft wie den armseligen Kleinpächtern ging ein zähes Ringen um soziale Reformen im Landtag Hand in Hand.

Dem tatkräftigen Drängen der Partei verdankt Finnland Gesetze, welche die Arbeitszeit in den Bäckereien auf 48 Stunden wöchentlich festsetzten und die Nachtarbeit daselbst verboten, welche den landwirtschaftlichen Arbeitern und Kleinpächtern Schutz brachten, das Schulwesen förderten usw. Es gelang ihm, andere Reformen durchzusetzen, die indessen noch ihrer Sanktion durch den Herrscher warten: so ein Kommunalwahlgesetz, dessen Grundlage trotz mancher Beschränkungen das allgemeine, gleiche Wahlrecht beider Geschlechter ist, ein Arbeiterschutzgesetz, welches das Verbot der gewerblichen Kinderarbeit ausspricht, die Nacht- und die Frauenarbeit einschränkt, die 60-stündige Maximalarbeitswoche für bestimmte Betriebe vorsieht usw. Die Partei war unermüdlich, eine gründliche soziale Fürsorge für Mutter und Kind, die Ausgestaltung der Fabrikinspektion, die Förderung der Volksbildung usw. anzuregen. Sie war im Parlament die Seele der schärfsten Opposition gegen jeden Einbruch des zarischen Regiments in die verbrieften Rechte der Nation, sie schritt draußen im Lande den Massen im Kampfe gegen dieses Regiment als treue Führerin voran.

Dreimal verfügte der Zar die Auflösung des finnischen Landtags in der Absicht, den Parlamentarismus in Verruf zu bringen und die steigende Welle der sozialistischen Bewegung zurückzudämmen. Jedoch jedes Mal trug eine stärkere Stimmenzahl mehr sozialdemokratische Abgeordnete in die gesetzgebende Körperschaft. Mit rund 315.000 Stimmen erklärten sich in diesem Jahre nicht weniger als 40 Prozent aller Wähler für die Sozialdemokratie und sicherten ihr 86 von 200 Mandaten. Kurz, in der geringen Spanne Zeit, die seit 1905 verstrichen ist, hat die Sozialistische Partei Finnlands eine bewunderungswürdige Summe von Arbeit geleistet und in stetem Kampfe gegen zwei Fronten — Kapitalismus und Absolutismus — bemerkenswerte Erfolge erzielt, eindringliche Beweise dafür, wie sehr die niedergeworfene Revolution in Russland trotz alledem den Boden gelockert, welche Fülle strotzender Kräfte, vorwärts treibender Impulse sie in den Massen ausgelöst hat.

Die besitzenden und ausbeutenden Klassen Finnlands aber zitterten vor den kernhaften Äußerungen des neuen geschichtlichen Lebens. Daher bekundeten die bürgerlichen Parteien zunächst einen weit größeren Eifer, die vorwärts drängenden Massen der Werktätigen zurückzuwerfen, als die drohende russische Gewaltherrschaft rückhaltlos zu bekämpfen. Durch kleine Konzessionen wähnten sie die Freundschaft des Zarismus für ihr Land und die eigene Sicherheit erkaufen zu können. Erst der offene Rechtsbruch, die brutale Gewaltpolitik in der Militärfrage peitschte sie zu entschlossenem Widerstand empor. Die russische Regierung trumpfte mit der Forderung auf, Finnland solle jährlich 10 bis 20 Millionen finnische Mark für den russischen Militarismus steuern. Wie der Landtag darauf mit einem entschiedenen Nein antwortete, so weigerte sich der sonst so dienstwillige bürgerliche verwaltende Senat, die geheischte Steuer aus dem Staatsschatz des Landes zu entnehmen. Dieser Raub war das Werk zarischer Kreaturen, mit denen die Regierung den Senat besetzte. Nun soll ein für allemal mit dem Selbstbestimmungsrecht Finnlands aufgeräumt werden. Diese Entwicklung der Dinge hat die ganze finnische Nation zum Kampfe für ihre staatliche Unabhängigkeit zusammengeführt, hat die bürgerlichen Parteien neben die Sozialdemokratie gestellt.

Lassalle hat es der deutschen Arbeiterklasse mit klassischer Klarheit ins Bewusstsein geschrieben, dass Verfassungsfragen nicht Rechtsfragen sind, wohl aber Machtfragen. Der russische Zarismus schert sich den Teufel um die Rechtstitel der finnischen Nation, um die Rechtsverwahrungen der zünftigen Gelehrten. Wie könnte er dicht vor seinen Toren eine Verfassung dulden, die dem eigenen “angestammten” Volke unaufhörlich die gebrochenen konstitutionellen Schwüre ins Gedächtnis zurückruft, eine Verfassung, die einer freiheitlichen Entwicklung die Wege ebnet? Und muss er diese Verfassung nicht ganz besonders darum hassen, weil sie heute als Geschöpf der Revolution lebt, weil sie ihm eine bohrende Erinnerung an die Schande seiner tiefsten Demütigungen ist, eine schreckensvolle Mahnung an aufziehende künftige revolutionäre Gewitter? So wird er seine ganze Macht, die das Gold der ausländischen Kapitalistenklassen gefestigt hat, zur Niederzwingung Finnlands einsetzen. So bleibt aber auch das Schicksal dieses Landes unauflöslich mit dem der Revolution in Russland verknüpft. Welches immer der nächste Ausgang des ungleichen Kampfes sein mag, den das finnische Volk heldenmütig und opferbereit für seine nationale Freiheit aufnimmt, wie die Polen, Armenier und alle Völker, die der moskowitischen Knute untertan sind, wird es diese Freiheit letzten Endes und auf die Dauer nur aus den Händen der Revolution empfangen. Indem die Revolution eines Tages wieder wild und prächtig aufsteht, um mit gewaltigem Arm das Richtschwert gegen den Absolutismus zu zücken, wird sie zur Befreierin aller geknechteten Nationen.

Angesichts dieser Zusammenhänge ist die Verpflichtung des Proletariats aller Länder um so zwingender und weittragender, mit allen verfügbaren Mitteln den Freiheitskampf der finnischen Nation zu stärken, dessen Hauptträger die revolutionäre Arbeiterklasse ist. Proletarier und Proletarierinnen Deutschlands, gedenkt der ringenden Brüder und Schwestern im hohen Norden! Bekundet, dass ihr kämpfend wie sie sehnsüchtig der Stunde harrt, wo in Russland die Revolution reisiger wiederkehrt!

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