Clara Zetkin 19180809 Frauenrecht in der neuen russischen Konstitution

Clara Zetkin: Frauenrecht in der neuen russischen Konstitution

(August 1918)

[Frauen-Beilage der Leipziger Volkszeitung, Nr. 30 vom 9. August 1918. ”Für die Sowjetmacht”, S. 63-72]

Die volle politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts in Russland war schon in den ersten Phasen der Revolution von den Liberalen und Demokraten bzw. von den koalierten Demokraten, den rechtsgerichteten Sozialdemokraten und Sozialrevolutionären beschlossen worden, und die betreffenden Beschlüsse wurden auch in die Praxis umgesetzt. Der Grundsatz politischer Gleichberechtigung der Geschlechter wird erst recht wirksam, seitdem unter Führung der Bolschewiki die Räterepublik errichtet worden ist, in der das Proletariat und die arme Bauernschaft die politische Macht ausüben. Denn die politische Herrschaft dieser breitesten Schichten des arbeitenden Volks ist auf das Ziel gerichtet: Verwirklichung des Sozialismus. Sie erstrebt und schafft daher grundlegende wirtschaftliche und gesellschaftliche Neuerungen, die die Macht des ausbeutenden Kapitals über den arbeitenden Menschen brechen oder zunächst wenigstens einschränken. Damit erhält der Grundsatz voller politischer Gleichberechtigung Blut und Leben. Mit der wirtschaftlichen und sozialen Übermacht der Ausbeutenden über die Arbeitenden und Ausgebeuteten verschwinden Zustände und Bedingungen, die die freie, ganze Betätigung der politischen Gleichberechtigung verhindern. Es sei in dieser Beziehung an die trefflichen Ausführungen erinnert, die unsere Genossin Robmann in Nr. 23 über die Verwirklichung der Demokratie in der Schweiz gemacht hat.

Die Regierung der Sowjets strebt in Russland Verhältnisse an, die den arbeitenden Frauenmassen die volle Praxis politischer Gleichberechtigung sichern. Die von dem fünften Sowjetkongress zu Moskau beschlossene Verfassung der sozialistischen Räterepublik anerkennt ausdrücklich volles, gleiches Recht für beide Geschlechter. Sie ist der Versuch zur Verwirklichung einer Volksvertretung, Volksregierung und Volksverwaltung umfassender Art, allerdings mit gewissen Einschränkungen, die in der Übergangszeit zum Sozialismus durch die Diktatur, die Herrschaft des werktätigen Volkes notwendig, unvermeidlich gemacht werden.

Die Grundlage des politischen Volksrechts, der politischen Volksmacht ist der örtliche Sowjet, der örtliche Abgeordnetenrat der Einwohnerschaft. Das Recht, in diese Sowjets zu wählen und gewählt zu werden, steht den Bürgern beider Geschlechter zu, die das achtzehnte Lebensjahr erreicht haben. Als solche wahlberechtigte Bürger anerkennt der Kongress:

1. Alle, die die Mittel zu ihrem Unterhalt durch produktive oder gemeinnützige Arbeit erwerben und Mitglieder des Gewerkschaftsverbandes sind, wie: a) Arbeiter und Angestellte aller Art, die in Handel, Gewerbe und Landwirtschaft beschäftigt werden; b) Bauern und Kosaken, die Land besitzen und keine Tagelöhner beschäftigen; c) Angestellte der Sowjetinstitutionen. 2. Soldaten der Sowjetarmee und -flotte. 3. Bürger, die zu den in Punkt 1 und 2 aufgezählten Kategorien gehörten und ihre Arbeitsfähigkeit teilweise oder ganz verloren haben.“ Die Verfassung zieht die Grenzen, die der politischen Gleichberechtigung gezogen sind. Sie erklärt:

Nicht wählen und nicht gewählt werden dürfen, selbst wenn sie zu einer der oben genannten Kategorien gehören: 1. Personen, die andere anstellen, um einen Vorteil daraus zu gewinnen; 2. Personen, die arbeitslose Einkommen haben, wie z. B. Prozente von Kapital, Einnahmen von Vermögen usw.; 3. Privathändler, Handelsvermittler; 4. Diener der religiösen Kulte; 5. Angestellte und Agenten der früheren Polizei, des Gendarmenkorps und der politischen Abteilung, ebenso die Mitglieder des russischen Zarenhauses; 6. Personen, die auf gesetzlichem Wege als geisteskrank oder irrsinnig erklärt sind, ebenso Taubstumme; 7. Personen, die wegen eigennütziger oder ehrloser Vergehen verurteilt worden sind.“

Buchstabengläubige und politische Kinder werden die vorstehenden Ausnahmebestimmungen scharf tadeln und bitterlich bejammern. Diese Ausnahmebestimmungen durchbrechen den Grundsatz der Demokratie, denn sie schaffen politisch Rechtlose. Gewiss, aber sie müssen das tun, wenn sie das Recht der ungeheuren Mehrheit sicherstellen wollen. Solange nicht die volle wirtschaftliche Gleichberechtigung aller verwirklicht worden ist durch die Überführung der Produktionsmittel in das Eigentum der Gesellschaft, solange kann auch die volle Demokratie nicht durchgeführt werden, denn das Wirtschaftliche schlägt in das Politische um. Es fragt sich, für wen und in welcher Richtung der Grundsatz der Demokratie eine Einschränkung erfährt: für die breiten Massen und in der Richtung zur Stärkung und Erhaltung der Macht Weniger oder aber für Minderheiten und in der Richtung zur wirklichen Gleichberechtigung aller. Bei der Beantwortung dieser Frage gilt unstreitig mutatis mutandis das Bibelwort:

Es ist uns besser, ein Mensch sterbe, denn dass das ganze Volk verderbe.“ Das Recht der Massen geht dem Recht Weniger vor, das Endziel dem Teilerfolg. Die von der Sowjetkonstitution politisch Entrechteten sind — von den Personen unter [Punkt] 6 und 7 abgesehen — wirtschaftlich und sozial Bevorrechtete, Mächtige, offene oder verhüllte Gegner der Volksherrschaft. Sie verfügen schon ohnehin über ein großes Maß gesellschaftlichen, politischen Einflusses, den sie gegen die Lebensinteressen des Proletariats und der armen Bauernschaft in die Waagschale werfen, den sie zur Vernichtung der Räterepublik verwenden können. Es hieße politischen Selbstmord begehen, die Interessen des arbeitenden Volkes preisgeben, würde ihnen die derzeitige Konstitution politische Rechte einräumen.

Diktatur des Proletariats, der armen Bauernschaft besagt Herrschaft. Herrschaft aber ist undenkbar ohne Beherrschte, Minderberechtigte, Rechtlose. Die Diktatur der besitzlosen Massen in Russland unterscheidet sich von der Herrschaft anderer Gesellschaftsklassen dadurch, dass sie nicht zum Vorteil Weniger über die Vielen ausgeübt wird, sondern umgekehrt zum Segen der Vielen über Wenige; dadurch, dass ihr Ziel nicht Befestigung und Verewigung einer Herrschaft von Menschen über Menschen ist, vielmehr die Vernichtung jeder solchen Herrschaft, mithin auch ihre eigene Überwindung durch die volle Freiheit und Gleichberechtigung aller. Die Herrschaft des Proletariats und der armen Bauernschaft in der sozialistischen Räterepublik Russlands ist nur ein vorübergehendes Mittel zu dem Ziel, der Verwirklichung des Sozialismus. Übrigens haben es die politisch Entrechteten in der Hand, gleiches politisches Recht zu erlangen. Sie brauchen bloß auf ihre wirtschaftlichen und sozialen Vorrechte zu verzichten, brauchen bloß produktiv und nützlich arbeitend zu leben, statt als Kapitalisten oder Zinsenempfänger die Früchte fremder Arbeit zu verzehren: Volles Bürgerrecht ist der Preis.

Die beschlossene Sowjetverfassung sichert den großen arbeitenden Frauenmassen politisches Recht. Angesichts dieser erhebenden Tatsache sind wir außerstande, Tränen über das „verletzte demokratische Prinzip“ zu vergießen, weil Damen politisch rechtlos bleiben, die heute als Parasiten von Parasiten ihre Existenzkosten mit Renten vom Familienreichtum bestreiten und deren Tätigkeit sich in einem blutigen höhertöchterlichen wissenschaftlichen und künstlerischen Dilettantismus erschöpft, nebenbei wohl auch in der Schikanierung des Dienstpersonals und in einem billigen Wohltätigkeitssport. Alles letzten Endes auf Kosten fremder, ausgebeuteter Arbeit. Da die Mitglieder des örtlichen Sowjets nur für drei Monate gewählt werden, kann die Zusammensetzung dieser Volksvertretung alle Auffassungen, Bedürfnisse, Wünsche der breitesten Massen rasch und sicher zum Ausdruck bringen, kann aber auch Rechtlosigkeit rasch und sicher zur Gleichberechtigung werden, sobald die Vorbedingungen dafür erfüllt sind. In den örtlichen Sowjets kommt auf je 100 Einwohner ein Abgeordneter, doch darf ein Dorfsowjet aus nicht weniger als 3 und nicht mehr als 50 Vertretern bestehen. Die städtische Bevölkerung entsendet auf je 1000 einen Deputierten in ihre Ortsvertretung, ein städtischer Sowjet darf indessen nicht unter 50 und nicht über 1000 Abgeordnete zählen. Jeder Dorf- und Stadtsowjet wählt aus seiner Mitte ein Vollzugsorgan, das die laufenden Arbeiten zu erledigen hat. Das Vollzugsorgan des Dorfsowjets darf aus nicht mehr als 5 Mitgliedern bestehen, das der Stadtsowjets muss mindestens aus 3 Mitgliedern und darf höchstens aus 15 Mitgliedern zusammengesetzt sein. Im Dorf wie in der Stadt ist das Vollzugsorgan dem Sowjet voll verantwortlich, der innerhalb der Grenzen seiner Bereiche die oberste Gewalt des Orts ausübt. Das Vollzugsorgan muss den Stadtsowjet mindestens einmal in der Woche, den Dorfsowjet mindestens zweimal im Monat einberufen. Außerordentliche Versammlungen der Ortssowjets müssen von Amts wegen und auf Verlangen von mindestens einem Drittel der Sowjetmitglieder stattfinden.

Über den einzelnen dörflichen Sowjets steht der Bezirkskongress, der sich aus Delegierten aller Abgeordnetenräte zusammensetzt und mindestens einmal im Monat zusammentritt. Der Kreiskongress vereinigt die Vertreter der Dorfsowjets und die von Städten, deren Einwohnerzahl 10.000 nicht übersteigt, der Gouvernementskongress wird durch die Abgeordneten der Kreiskongresse gebildet. Der Provinzialkongress fasst die Vertreter der städtischen Sowjets und der Kreiskongresse zusammen. Die Spitze der Pyramide bildet der allrussische Sowjetkongress, der aus Vertretern der Stadtsowjets und der Gouvernementskongresse besteht, mindestens zweimal im Jahre tagen und auf Verlangen von mindestens einem Drittel der Bevölkerung der ganzen Republik öfter einberufen werden muss. Dieser Kongress verkörpert die höchste Gewalt der Republik und wählt das regierende und verwaltende Zentrale Exekutivkomitee, das aus höchstens 200 Mitgliedern besteht. In allen Organen der Volksvertretung ist das Recht beider Geschlechter gleich.

Das in der neuen russischen Verfassung festgelegte Sowjetsystem ist ein großzügiger Versuch zur konsequenten, umfassenden Durchführung der Demokratie. Dieses System unterscheidet sich in seinem Wesenskern scharf von allen andern Formen und Systemen politischen Lebens der Staaten. Es zielt nicht ab auf Herrschaft über Menschen, sondern auf Verwaltung von Gütern und Regelung von Zuständen, nicht auf die Verankerung und Heiligung von sozialen Gegensätzen, sondern auf ihre Überwindung. Es umschließt keine Gegensätze zwischen beschließenden, ausführenden und verwaltenden Mächten, keinen Dualismus zwischen Volksvertretung und Regierung. Es vereinigt das Recht und die Macht zu Beschlussfassung, Ausführung und Verwaltung in einer Hand: in der starken, großen Hand des arbeitenden Volkes. Volksvertretung und Regierung ist eins. Die Regierung steht nicht als irdische Allmacht und Allweisheit über dem Volk, das „regierende“ Zentralexekutivkomitee ist der Ausdruck des Volkswillens selbst. Dank der vorgesehenen einheitlichen organischen Gliederung kann dieser sich von unten nach oben mit unwiderstehlicher Gewalt durchsetzen.

Das Sowjetsystem ist folgerichtige Fortentwicklung des demokratischen Prinzips, das im bürgerlichen Parlamentarismus um Durchsetzung ringt und sich in ihm zum Ziel verwirklicht. Aber auch hier erweist sich, dass Quantität in Qualität umschlägt. Das Mehr an Demokratie, das das Sowjetsystem über den bürgerlichen Parlamentarismus hinaus enthält, führt zum Bruch mit dem Parlamentarismus, schafft ein Neues, ein Anderes. Im wesentlichen stellt sich der bürgerliche Parlamentarismus dar als eine stufenweise, allmähliche Abbröckelung und Einschränkung absoluter Fürstenmacht und der Macht der herrschenden, bevorrechteten Stände der Feudalgesellschaft, und das im Interesse der besitzenden bürgerlichen Klassen. Er nimmt Macht von oben, um sie in kleinen Dosen, kaffee- oder suppenlöffelweise recht langsam und vorsichtig nach unten auszuteilen. Je weiter entfernt von der Spitze der sozialen Pyramide, je mehr Teil ihrer breiten, tragenden Grundlage, um so winziger werden die Tröpfchen wirklicher politischer Macht, die von oben nach unten gelangen, was immer auch das formale politische Recht besagt. Die breitesten Massen wirken an der Gestaltung des politischen Lebens nicht unmittelbar entscheidend mit. Sie sind politische Lastenträger, je nachdem auch „Nutznießer“, sind Dienende, nicht Herren und Schöpfer. Dieser Stand der Dinge kommt in den Tagen des kapitalistischen Imperialismus in der Ohnmacht, dem Scheinleben der Parlamente klar zum Ausdruck. In der Republik der ungekrönten Dollarfürsten wie in den Reichen halbabsolutistischer Monarchen und fest im Sattel sitzender Junker tragen sie die Züge der Greisenhaftigkeit.

Das Sowjetsystem lässt dagegen Macht von unten nach oben aufsteigen. An der Spitze des Systems ist nur die Macht, die unten gewollt wird, eine Macht, die in kurzen Zwischenräumen gegeben und genommen werden kann. Das Sowjetsystem ist elastisch und fest genug, um eine so gewaltige Macht wie die zum Willen kristallisierten Bedürfnisse, Wünsche, Stimmungen eines vielmillionenköpfigen Volks aufzunehmen und auswirken zu lassen, das entschlossen ist, seines Schicksals Schmied zu sein. Es mag im Einzelnen verbesserungsfähig und verbesserungsbedürftig sein, das wird die Praxis lehren, die Mutter von Vervollkommnung und Weiterentwicklung. Allein, das System selbst trägt die wichtigsten Vorbedingungen zur Korrektur von „Schönheitsfehlern“ und Vervollkommnung in sich, denn es sichert die lebendige, aktive Mitwirkung der Volksmassen.

Die Bolschewiki übernahmen ohne Ruhmredigkeit mit fest zusammengebissenen Zähnen die ebenso fruchtbare als furchtbare Aufgabe, dem russischen Volk in der gewaltigsten Revolution, die die Geschichte kennt, führend voranzugehen. Sie erweisen sich damit als die einzigen großzügigen sozialistischen Realpolitiker unserer Zeit. Sie haben als solche begriffen, dass man nicht neuen Wein in alte Schläuche füllen soll. Sie verzichteten mit Recht auf das Experiment, den neuen, gärenden, brausenden Wein der proletarisch-bäuerlichen Revolution in die alten, muffigen, schwachen Schläuche des bürgerlichen Parlamentarismus zu füllen. Sie haben die Konsequenzen der Erkenntnis gezogen, die Marx in dem Wettern und Flammen der Kommune von 1871 aufgegangen war. Nämlich, dass es bei einer proletarischen Revolution nicht genüge, die fertige Staatsmaschinerie in Besitz zu nehmen und sie nun statt für den Vorteil der besitzenden Klassen für die Zwecke des Proletariats funktionieren zu lassen. Sie haben in dem Sowjetsystem, dessen Ursprung auf die Revolution von 1905 zurückgeht, die politische Form geschaffen, in der sich die wirtschaftliche Befreiung der besitzlosen Masse vollziehen kann. Unter dieser Form wird auch die volle politische Gleichberechtigung des gesamten weiblichen Geschlechts Wahrheit und Tat, kann sich die wirtschaftliche und soziale Befreiung des gesamten weiblichen Geschlechts vollziehen. Denn das soziale Geschick des weiblichen Geschlechts in seiner Gesamtheit bleibt an die gesellschaftliche Stellung der Arbeit, bleibt an das Los der arbeitenden Massen gebunden.