Clara Zetkin 19180111 Kein bängliches Zagen

Clara Zetkin: Kein bängliches Zagen

(Januar 1918)

[Frauen-Beilage der Leipziger Volkszeitung, 11. Januar 1918. ”Für die Sowjetmacht”, S. 48-55]

Ein Jahr ist zur Rüste gegangen, das wie wenige vor ihm leidenschaftliche Hoffnungen Ungezählter, Zahlloser in Scherben geschlagen hat; Hoffnungen, die viel zu Viele nur stumm im Herzen bewegten oder schüchtern zu stammeln wagten; Hoffnungen, die, wenn von Wenigen klar ausgesprochen, von brutaler Gewalt in die Tiefe zurückgestoßen wurden; Hoffnungen, die namentlich auch den Frauen teuer waren. Die Völker begannen, sich in steigendem Maße auf sich selbst zu besinnen. Musste 1917 nicht endlich den Frieden zwischen ihnen bringen und die Zusammenballung der Kräfte jedes Volks zum Kampfe gegen die inneren Feinde — Hunger, Blöße, Unwissenheit und Unzufriedenheit —‚ die im Gefolge des Ringens um Weltmacht schlimmer als je die breitesten Massen knechteten? Wilsons Friedensbotschaft und die geplanten internationalen Sozialistentagungen zu Stockholm fachten das Fünkchen der Friedenshoffnung zur Flamme an, wohl tönende und feierliche Verheißungen der kriegführenden Regierungen stärkten das gläubige Harren auf soziale Maßnahmen zur Linderung der Volksnot, auf entschiedene Reformen zur Sicherung der Volksrechte.

1917 brachte den verschärften Unterseebootkrieg und als Antwort darauf den Eintritt der nordamerikanischen Union und vieler anderer Staaten jenseits des Atlantischen Ozeans in den Weltmachtkampf. 1917 ist ein Jahr der grausigsten Völkerzerfleischung und des Zerstörungswahnsinns geblieben. Die Massenleiden in den kriegführenden Ländern haben erbarmungslos auf die neutralen Staaten übergegriffen. Nirgends konnte sie, wie nötig, zurückgeworfen werden, weil trotz der viel berufenen ”großen Zeit” die Selbstsucht Weniger die Aufrichtung starker Dämme verhinderte. Sehen wir von der beschlossenen großzügigen Wahlrechtsreform in England ab, wo sind die kriegführenden Staaten, in denen die Macht, das Recht des Volks zur Selbstbestimmung und Selbstentscheidung über sein Los ausgedehnt und befestigt worden wäre? Nicht bloß in Deutschland und Österreich-Ungarn mit ihrem kümmerlichen Konstitutionalismus, auch in Frankreich und England, die Vereinigten Staaten nicht zu vergessen, hat der Beute verlangende Imperialismus unter patriotischen Redensarten die Volksrechte erheblich eingeschränkt, hat er verbriefte politische Freiheiten gemeuchelt.

Die umfangreichen Vorbereitungen zu dem allgemeinen Sozialistenkongress zu Stockholm, die das skandinavisch-holländische Verständigungskomitee mit unermüdlichem Eifer betrieb, all die Besprechungen, Denkschriften usw. führender Sozialisten haben den höllischen Spuk des rasenden Weltkriegs und der triumphierenden Reaktion nicht zu bannen vermocht. Kaum gehört, ohne die erhoffte rasche Wirkung sind die Beschwörungen von jener Seite verhallt, im Zeichen der Zweiten, sozialistischen Internationale den zerrissenen Bruderbund proletarischer WeItsolidarität wieder zu knüpfen, und die vereinigten Arbeiter aller Länder als Frieden und Freiheit gebietende Macht in das geschichtliche Blachfeld zu führen. Konnte es anders sein, solange in Deutschland, Österreich, Ungarn, Frankreich und England die sozialistischen, die proletarischen Mehrheitsorganisationen ihre Hand dazu boten, die nationalen Gegensätze der herrschenden Klassen mit dem Schwert zum Austrag zu bringen, statt ihre Macht dafür einzusetzen, diese Gegensätze durch die internationale Solidarität der besitzlosen Massen zu überwinden?

Nicht an der Pässeverweigerung und andern äußeren Umständen ist das beabsichtigte Stockholmer Friedens- und Freiheitswerk gescheitert. Es musste an der inneren Unmöglichkeit und Unwahrhaftigkeit zerschellen, den unüberbrückbaren Widerspruch zwischen Lippenbekenntnis und politischer Praxis harmonisch aneinander zu fügen. Die internationale Vereinigung der Proletarier aller Länder zum Ringen für Frieden und Freiheit musste eine Schale ohne Kern bleiben, wenn in den einzelnen Staaten große sozialistische und proletarische Organisationen sich mit der bürgerlichen Welt in der Kriegskreditbewilligung und der Unterstützung imperialistischer Kriegspolitik burgfriedlich zusammenfanden.

Die scharfsinnigsten, schönsten Formeln über einen gerechten, demokratischen, dauernden Zukunftsfrieden, über die sofortige oder stufenweise internationale Abrüstung und die Bedingungen internationaler Schiedsgerichtsbarkeit konnten — auch wenn sie noch so verlockend mit sozialistischen Redeblumen verziert waren — die schlichte Tat für das Ende des Gegenwartskriegs nicht ersetzen.

Und dennoch konnten die Völker mit gestärkter und erhöhter Hoffnung auf Frieden und Freiheit über die Jahresschwelle treten. Vorausgesetzt, dass das Kriegsgetöse sie nicht der Ohren beraubt hat zu hören und der Augen zu sehen; klar, vorurteilslos zu hören und zu sehen, wie das geschichtliche Leben in stolzem Fluss weiter nach vorwärts rauscht, dem Sozialismus entgegen. Vorausgesetzt auch, und nicht am wenigsten, dass sie sich wieder klar, zwingend an das erinnern, was sie in den letzten Jahren erstarkter geistiger und politischer Abhängigkeit von bürgerlichem Denken und Wollen vergessen haben. Nämlich, dass sie selbst Kräfte der geschichtlichen Entwicklung sind, die treiben oder hemmen können, und dass sie als solche Kräfte, bewusst denkend und handelnd, ihre eigene unabhängige, selbständige Politik verfolgen müssen, um wirklich ”Geschichte zu machen”. Der an einer Stelle zurückgestaute, sich in Sand und Sumpf verlierende Strom der Menschheitsgeschichte flutet anderwärts mit zusammengedrängten, gesammelten Wassern in gewaltigen Wellen seinem Ziele zu.

Abseits von den offiziellen internationalen ”Instanzen” der Sozialisten, von den sozialpatriotischen Mehrheitsparteien, im Gegensatz zu ihnen und ihrem Tun ist der sozialistische Gedanke Wirklichkeit und Tat geworden. Das russische Volk der Arbeit, dessen Sturmmassen Arbeiter und Kleinbauern bilden, trägt unter sozialistischer Führung die Fahne des Friedens und der Freiheit voran. Die kühne Erhebung der Bolschewiki, die Besitzergreifung der politischen Macht durch die Sowjets, hat der russischen Revolution und ihrem Werk die Bahn freigelegt hat die Freiheits- und Friedensformeln der revolutionären Demokratie mit blutvollem Leben erfüllt und aus der Ohnmacht bloßer Verheißungen zu der wirkenden Kraft von Taten erhoben. Die revolutionäre Regierung Russlands hat alle kriegführenden Völker und Regierungen aufgerufen, unverzüglich in Verhandlungen einzutreten, um den Krieg durch einen Frieden zu beenden, wie er den sozialistischen Grundsätzen entspricht. Mit fester Hand sucht sie den breitesten Massen volle politische Freiheit zu sichern; geht sie daran, die Tyrannei der Not zu bändigen durch Organisierung der sozialen Fürsorge im weitesten Sinne, eine grundlegende Neuordnung der gesellschaftlichen Wirtschaft einzuleiten durch eine tief furchende Agrarreform, durch Regelung der industriellen Produktion und der Arbeitsbedingungen, durch Verstaatlichung der Banken, Lebensversicherungen und andre Maßnahmen.

Gewiss: Vor dem leuchtenden Ziel der russischen Auslands- und Heimatpolitik türmen sich Riesenhindernisse auf. Noch gleicht der Wille der Völker einem schwankenden Rohr, das von der wuchtenden Last der Weltkriegsgeschütze zu Boden gedrückt wird. Noch ist dem Friedensruf aus dem Osten von den Regierungen der Ententemächte kein Echo geworden, und der Widerhall, den er bei den Regierungen der Mittelmächte gefunden hat, scheint sich aus den unklaren Harmonien einer ”grundsätzlichen Übereinstimmung” mehr und mehr zu unzweideutigen Annexionsforderungen zu verdichten. Doch gesetzt der Fall, dass es zu einer Verständigung kommt über den weiteren Verhandlungsort und namentlich über die weit bedeutsamere und entscheidende Frage des Selbstbestimmungsrechts der Völker in den besetzten Westbezirken des russischen Reichs: Wird nicht das Erlöschen der Kriegsfeuer im Osten den Weltbrand im Westen und Süden um so riesiger, fressender auflohen lassen? Und lauern nicht hinter den dadurch entfesselten .Möglichkeiten schwerste Gefahren für die freiheitliche Entwicklung Europas, der ganzen Welt? In Russland selbst aber wird das Friedens- und Freiheitswerk der arbeitenden Massen und ihrer Regierung, wird die Revolution in blutigem Bürgerkrieg umstritten, in dem es nicht bloß hart auf [hart] geht, sondern um das nackte Sein oder Nichtsein.

Es wäre leichtfertig, den Blick vor den Schwierigkeiten und Gefahren der Stunde zu verschließen, und es wäre kleinmütig und ungeschichtlich, angesichts dieser Schwierigkeiten und Gefahren die richtige Wertung des gewaltigen, hoffnungsreichen Stücks historischen Lebens zu verlieren, das vom sozialistischen Geist beseelt sich in Russland offenbart. Halten wir bei seiner Wertung unsre geschichtlichen Maßstäbe als internationale Sozialisten fest. Das Werk einer weit spannenden Revolution, wie der russischen, ist von langem Atem. Es darf nicht nach den nächstliegenden militärischen und politischen Rückwirkungen eingeschätzt werden. Jenseits dieser Rückwirkungen liegen neue, weitere Horizonte. Ein sich behauptendes revolutionäres Russland, ein großer freier Bundesstaat freier Völker, in dem die reichsten Naturschätze und Springquellen menschlicher Energie erschlossen werden, ist Dynamit zur Sprengung der Reaktion, zur Wegräumung des Alten und Überlebten allüberall. So beklagenswert mögliche Rückwirkungen des russischen Friedens- und Freiheitskampfes sind, wir dürfen im Hinblick auf sie der Revolution in Russland nicht zumuten, dass sie sich selbst preisgibt, dass sie auf ihre Existenzberechtigung, auf Leben und Wirken verzichtet. Ein Sonderfrieden zwischen Russland und den Zentralmächten muss sich zum allgemeinen Frieden zwischen allen Kriegführenden erweitern oder muss wenigstens das kurze Vorspiel eines solchen Friedens sein, wenn die Völker das Gewicht ihres Willens in die Waagschale der Entscheidungen werfen. Baldigste allgemeine Friedensverhandlungen im Lichte der Öffentlichkeit, wie die russische Regierung es fordert, sind das wirksamste Mittel, allen Ränken und Zweideutigkeiten der Diplomaten ein Ende zu bereiten. Buchen wir es nicht als Schuld der russischen Revolution, wenn die Völker sie bei ihrem Friedens- und Freiheitswerk allein lassen, auf die Gefahr hin, dass sie daran verblutet. Keine üblere Figur als die der Beckmesser, die mit der zünftigen Tabulatur in der Hand vor der Riesengestalt der russischen Revolution ”die Fehler der bolschewistischen Taktik” pünktlichst vermerken. Halten wir in Herz und Hirn das Große, das Unvergängliche fest, was die ”bolschewistische Taktik des Putschismus” den Völkern in Zeiten gegeben hat, in denen für sie das strahlende sozialistische Ideal verdunkelt war und zweifelnde Kleinmütigkeit den Glauben an seine Macht und an die eigene Kraft verdrängt hatte. Sie hat gezeigt, wie entscheidend eine sozialistische Minderheit in den Gang der Geschichte einzugreifen vermag.

Darum kein bängliches Zagen!

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