Clara Zetkin 19180100 Neues und Altes

Clara Zetkin: Neues und Altes

(Januar 1918)

[Frauen-Beilage der Leipziger Volkszeitung, 25. Januar 1918. Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. II, Berlin 1957, S. 3-7]

Zuckenden Blitzen gleich erhellen Ereignisse Neues und Altes, das im gärenden Chaos dieser Zeit nebeneinander wogt und miteinander ringt. Ein Neues ist emporgetaucht in Gestalt der Regierung des russischen Reiches, die nicht von Gottes Gnaden, sondern von Volkes Willen ist, einer Regierung von Volksbeauftragten. Und diese Regierung hat, kaum dass sie das Staatsruder ergriffen, entscheidende Schritte getan, um den durch imperialistisches Machtstreben gegeneinander getriebenen Völkern den Frieden zurückzugeben und sie zu der gemeinschaftlich zu lösenden gewaltigen Aufgabe zu rufen, auf höherer Stufe aufzubauen, was das Zerstörungsbacchanal des Weltkrieges in Trümmer schlägt. Sie hat dabei mit höchster Energie gehandelt, ohne jeden lähmenden Respekt vor Herkommen und Formeln, aber in Übereinstimmung mit dem Neuen, das sie geschichtlich vertritt.

Diese Regierung hat ihrer Friedensaktion nicht die bekannte ”diskrete Fühlungnahme” vorausgeschickt durch Persönlichkeiten mit mehr oder minder glänzenden Namen, mit mehr oder minder großem Talent und gutem Willen, von Persönlichkeiten, die im Schatten bleiben und niemandem verantwortlich sind. Sie hat sie nicht vorbereitet und begonnen in der Heimlichkeit siebenfach verschlossener Kabinette, in denen die Moderluft von Jahrhunderten eingesperrt ist und die vom Ränkespiel kleiner, einflussreicher Cliquen umschlichen werden. Diese Regierung hat vom ersten Augenblick an ihre Friedensarbeit in das Licht der vollsten Öffentlichkeit gestellt und hat es damit den breitesten Massen möglich gemacht, sie zu kontrollieren, zu prüfen, zu beurteilen und durch die Bekundung ihres Willens an ihr mittätig zu sein.

In Funksprüchen ”An Alle” verkündet sie ihren Friedenswillen, fordert sie zum sofortigen Frieden alle Völker und Regierungen auf die der Russland verbündeten wie diejenigen der Russland bekriegenden Staaten. Sie fördert den Einblick in das imperialistische Wesen des gegenwärtigen Krieges, indem sie aus dem dicken internationalen Schuldbuch der kapitalistischen Staaten und ihrer zünftigen Diplomatie das Kapitel der zarischen Geheimverträge veröffentlicht. Sie lässt bei den Friedensverhandlungen zu Brest-Litowsk das russische Volk durch die Berater und Führer seines Ringens um Freiheit vertreten, nicht durch ”Staatsmänner” von Beruf, die sich auf ihre diplomatische Laufbahn vorbereitet haben durch pflichteifrigen Bürokratendienst unter Aktenschränken und vor Parlamenten, durch gewissenhaftes Studium der fürstlichen Geschlechterregister und höflichen Formen. Sie beauftragt auch eine Frau mit der Vertretung des russischen Volkes bei den Verhandlungen der entscheidungsschweren Stunden, eine Frau, während in Deutschland, Frankreich usw. der Frau nicht einmal bestimmender Einfluss in der unbedeutendsten Angelegenheit der kleinsten Gemeinde zugestanden wird.

Diese Regierung erreicht es, dass zum ersten Mal in der Geschichte Friedensverhandlungen nicht in geheimnisvollem Flüstern geführt werden, dessen Ergebnis die Völker bestaunen dürfen. Sie erreicht es, dass zu Brest-Litowsk vor ihren Augen und Ohren der ganzen Welt verhandelt wird, dass die Protokolle von Tag zu Tag hinaus in die Öffentlichkeit gehen, Prüfung und Urteil herausfordernd, so dass jedermann die Gewissenspflicht beantworten kann: ”Wo stehst Du, und was ist Deine Pflicht ?” Und — ebenfalls ein unerhörter Vorgang in der Geschichte — nicht mehr wie sonst können die Friedensunterhändler die Würfel über das Schicksal der Völker auf dem grünen Tisch dahintollen lassen, wie die römischen Kriegsknechte das Los über Christi Mantel geworfen haben sollen oder wie Bauern früher bei tollem Jahrmarkttreiben mit dem Würfelbecher über das Gespann vor der Tür und die Herde daheim entschieden. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist der Mittelpunkt der Verhandlungen um den Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen. In ruhigem, aber zähem und geschicktem Kampf verteidigen die Beauftragten des russischen Volkes, Trotzki voran, dieses Recht. In Petrograd erscheinen in öffentlichen Riesenversammlungen Beauftragte des Volkes, die sich in anderen Ländern Minister zu deutsch Diener nennen, und unterbreiten das Tun, die Auffassung der Regierung dem Urteil der Massen.

All das ist neu, ist von grundlegender, umwälzender Neuheit, ist von gewaltiger Größe, und seine Bedeutung wird dadurch nicht herabgemindert, dass es schlichte Wirklichkeit ist, die eine Weltwende kündet.

Das Alte aber daneben? Es beweist seine Macht in der Tatsache, dass keine einzige Regierung dem russischen Beispiel gefolgt ist und ihre Geheimverträge mit den Bundesgenossen aus den fest verriegelten Archiven hervorgezogen hat. Die Völker konnten das Alte in der Rede des englischen Premierministers vernehmen, wo es bestimmend blieb, trotz der Korrektur der ursprünglichen imperialistischen Kriegsziele, zu der sich die Regierung Großbritanniens unter dem Druck des wachsenden Friedenswillens der Arbeiterklasse gezwungen fühlt. Es schlug leidenschaftlich um sich in Pichons Beschimpfung der russischen Revolutionsregierung, in seinem Eidschwur, die Gepflogenheiten der Geheimdiplomatie zu erhalten. Man denke: Beschimpfung und Eidschwur in dem Lande, dessen geschichtlicher Stolz die große Revolution ist, die wahrhaftig nicht mit Rosenwasser und unter Heilighaltung allen Geheimplunders früherer Regierungen vor sich gegangen ist.

Das Alte ist herrschend in der Weigerung der Ententestaaten, Friedensverhandlungen auf der Grundlage zu beginnen, auf der die russische Regierung bei ihrem Friedenswerk steht. Es ist lebendig in der Auffassung der Staatsmänner der Mittelmächte, die in Brest-Litowsk mit den Beauftragten des russischen Volkes über die Bedingungen eines Sonderfriedens verhandeln, der zum schnellfüßigen Vorläufer eines allgemeinen Friedens werden sollte. Dem Neuen schienen sie zu huldigen, als sie einem Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen grundsätzlich zustimmten. Das Alte erwies sich übermächtig in ihnen, als sie ihre eigenen Ansichten von Grenzsicherungen und vom Selbstbestimmungsrecht der Völker in Polen, Litauen, Kurland vorzutragen begannen ein Selbstbestimmungsrecht, das sie verwirklicht wähnen durch die Existenz und die Entscheidung von Körperschaften der Bevorrechteten, das ihnen vereinbar scheint mit der Anwesenheit ausländischer Truppen. Das Alte erhob sich deutlich in ganzer Größe in Kühlmanns Erklärung: ”Das, was unbedingt gewahrt werden müsse, sei die Aufrechterhaltung der Ordnung innerhalb der Übergangszeit. Das, was verhindert werden müsse, sei die Ausbreitung der Revolution auf diese schon vom Krieg genug heimgesuchten Gegenden.”‘

Das Alte offenbart sich in der nebensächlichen Rolle, die die Parlamente aller Länder seit Kriegsausbruch spielen und die um so schattenhafter und jämmerlicher ist, je mehr die Verhältnisse zum Frieden drängen. Es tritt namentlich sinnenfällig zutage in der Selbstausschaltung des Deutschen Reichstages, der sich nicht einmal mehr erlaubt, in der Öffentlichkeit auch nur zu meinen und zu reden, während Staatsmänner, Generäle, Fürsten ”Geschichte machen”, von der höchstens engen Ausschüssen unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit etwas ”vertraulich” zugeflüstert wird. Das Alte triumphiert trotz der ”Weltwende‘‘ darin, dass sich im Schatten von Herrn Helfferichs geschickter Gastfreundschaft auserlesene Parlamentarier mit dem Kaiser unterhalten durften und dass der Reichskanzler gelegentlich Parteiführern wohlwollend auf die Schulter klopft.

Tatsachen sind erhellende Blitze. Neben dem mächtigen Alten ringt sich Neues empor. Neues will werden, Neues kann werden, wenn aus den dunklen Tiefen das Schöpfungswort gegen das Himmelsgewölbe klingt: Wir wollen.

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