Clara Zetkin 19141100 Höchstpreise

Clara Zetkin: Höchstpreise

(November 1914)

[Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, unter Zensurbedingungen geschrieben Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 625-634]

Voll banger Sorge sehen Millionen Frauen den kommenden Monaten entgegen. [Zensurstreichung.]

Die ohnehin hohen Preise der wichtigsten Mittel zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse haben seit dem Kriegsausbruch noch erheblich angezogen, und je länger das furchtbare Völkerringen dauert, um so mehr sind namentlich Brot und andere Getreideprodukte und Kartoffeln verteuert worden. Brot und Kartoffeln, die Hauptnahrungsmittel der Kleinen und Armen, die nicht genügend Fleisch, Butter, Eier, grünes Gemüse usw. auf ihrem Küchenzettel haben, weil sie für diese hygienisch notwendigen und guten Dinge nicht zu zahlen vermögen.

Die Aussicht auf eine weitere Verteuerung des Brotes und der Kartoffeln wird aber immer bedrohlicher. Wie eine Seifenblase ist das kindliche Wähnen so vieler zerplatzt, der Krieg werde ein kurzer “militärischer Spaziergang” nach Paris und Petersburg sein. Wir stehen mitten in der blutigen Wirklichkeit eines Weltkrieges von vermutlich längerer Dauer und müssen damit rechnen, dass Deutschland mindestens noch auf Monate hinaus von dem Handelsverkehr mit anderen Ländern abgeschnitten bleibt und den Nahrungsbedarf des Volkes in der Hauptsache mit den eigenen Vorräten decken muss. Da heißt es denn, mit diesen Vorräten sparsam und klug wirtschaften, sie nach Möglichkeit vermehren und zuletzt aber nicht zum wenigsten —‚ sie dem ganzen Volke erschwinglich zu machen. In der Tat: Was hilft der Frau des Arbeiters, Handwerkers, kleinen Beamten usw. das schöne Rechenexempel, dass der Ernteertrag an Getreide und Kartoffeln im Reiche groß genug gewesen ist, um den Bedarf der Deutschen bis zum nächsten Sommer zu verbürgen, wenn die Preise für Brot, Mehl, Kartoffeln, Suppeneinlagen so hoch sind, dass die Einschränkungen der Familie sich bis zum bitteren Notleiden steigern müssen? Man vergesse nicht, dass der Krieg zahlreiche Familien des Haupternährers beraubt, dass er das Wirtschaftsleben zerrüttet, Arbeitslosigkeit und schlechten, unsicheren Verdienst für viel zu viele im Gefolge führt. Millionen Frauen, Kinder, alte Eltern, kränkliche Geschwister sind für ihren Lebensunterhalt auf die kargen Unterstützungen aus öffentlichen Mitteln und die Brosamen der Liebestätigkeit angewiesen. Wer mit wenigem haushalten muss, für den sind die Preise des Lebensbedarfes von höchster Bedeutung, sie sprechen das entscheidende Wort, wie viel auf den Tisch kommen darf.

Erscheint es angesichts der ganzen Sachlage nicht als ein unbegreiflicher, unlösbarer Widerspruch, dass die Preise der unentbehrlichsten Lebensmittel höher und höher gestiegen sind während eines Krieges, der die größten Anforderungen an das Blut und die Kraft des Volkes stellt? Wie stets vor der Ernte wurde das Brotgetreide schon vor Kriegsausbruch teurer gehandelt als in den vorhergegangenen Monaten. Die Berliner Börse verzeichnete am 20. Juli für Weizen einen Preis von 20,50 Mark, für Roggen von 16,90 Mark je Doppelzentner. Mit der Kriegserklärung kam die Panik: Am 2. August schnellten die betreffenden Preise auf 25 Mark und 22 Mark empor. Die eingebrachte Ernte ließ sie Mitte August auf 25, 50 Mark für Weizen und 18, 50 Mark für Roggen sinken. Seitdem ist jedoch eine anhaltende Verteuerung des Brotgetreides eingetreten, so dass die Panikpreise vom 2. August überholt worden sind. Am 20. Oktober musste in Berlin der Doppelzentner Weizen mit 27 Mark, Roggen mit 23,80 Mark bezahlt werden. Im Osten des Reiches sind die Preise etwas niedriger, im Westen aber dafür noch höher. Welche Verteuerung das Getreide erfahren hat, zeigt am besten dieser Vergleich. Der Durchschnittspreis für alle Märkte betrug 1913 je Doppelzentner Weizen 19,56 Mark, je Doppelzentner Roggen 16,50 Mark, im Januar 1914 war er sogar noch niedriger. Diese Verteuerung ist durch keinerlei Steigen der Produktionskosten gerechtfertigt, im Gegenteil sind die Dreschlöhne zum Beispiel heuer niedriger als in anderen Jahren. Es sind also Wucherpreise, mit denen jetzt die Brotfrucht bezahlt werden muss, und sie kommen in verteuertem Mehl, Brot und Teigwaren usw. zum Ausdruck wie in der geringeren Güte und dem kleineren Gewichte des “Kriegsbrots”, des Gebäcks. Das empfindet die Mutter besonders schwer, die recht bald einen Laib Brot verschnitten hat, wenn sie die hungrigen Kindermäulchen stopfen will.

Und wie steht es mit den Kartoffeln, die in vielen Familien leider zum großen Teil das Brot ersetzen müssen, das Hauptnahrungsmittel sind? Die Zeitungen jeglichen politischen und sozialen Glaubensbekenntnisses sind erfüllt von Klagen der Hausfrauen, dass es unmöglich war und ist, wie in anderen Jahren den nötigen Wintervorrat an Kartoffeln verhältnismäßig billig einzutun, ja überhaupt anzuschaffen. Etwa lediglich deswegen, weil die heurige Kartoffelernte hinter der des Vorjahres zurückgeblieben ist? Bewahre, übertrifft sie mit ihren 47 Millionen Tonnen doch immer noch an Ergiebigkeit den Durchschnittsertrag der letzten zehn Jahre. Sicherlich liegt es auf der Hand, dass die weniger reiche Ernte von Einfluss auf den Preis der Kartoffeln ist, jedoch dass er fast allerorten die jetzige Höhe erreicht hat, dass es auf dem Markte an Kartoffeln fehlt, hat andere Gründe. Es steht fest, dass viele Landwirte ihre Ware zurückhalten, um die Preise in die Höhe zu treiben und später noch teurer zu verkaufen. Andere werfen Kartoffeln dem Vieh vor, weil es an Gerste, Mais, Ölkuchen usw. aus dem Auslande fehlt, die Futtermittel in der Folge teurer sind und teurer werden und der Verkauf von Vieh höheren Gewinn verspricht als der von Kartoffeln. Genauso wie aus den gleichen Gründen Landwirte Roggen verfüttern, ohne Rücksicht darauf; dass dadurch das Brot verteuert wird, ja unter Umständen mangeln kann.

Millionen darben, Millionen zittern vor drohenden härteren Entbehrungen, nicht weil es an Nahrungsmitteln gebricht, um ihren Hunger zu stillen, sondern weil ihr Portemonnaie nicht genügend gefüllt ist, um Wucherpreise zahlen zu können. Wir wiederholen unsere Frage: Erscheint das nicht als ein unbegreiflicher, unlösbarer Widerspruch angesichts der Schrecken und Opfer des Krieges, angesichts einer Situation, in der die Gesundheit und Lebenskraft des arbeitenden Volkes ais ein kostbares nationales Gut gerade auch von allen denen gewertet und geschützt werden müsste, die im Sinne des kapitalistischen Imperialismus die Losung verwirklichen wollen: Deutschland in der Welt voran!? Ein Widerspruch gewiss, aber doch nur ein Widerspruch zu papierenen Behauptungen und Illusionen, eitel Harmonie dagegen mit der Natur, den inneren ungeschriebenen Gesetzen des Kapitalismus. Hatten wir nicht stolze Worte, herzbewegende Worte gehört, nach denen man glauben sollte, der Krieg habe über Nacht mit einer Handbewegung wesentliche Züge der kapitalistischen Wirtschaft ausgelöscht, ihm sei gelungen, was den aufrichtigsten und hochherzigsten Moralpredigern nicht geglückt ist: das in der Natur der kapitalistischen Wirtschaft wurzelnde Profitbegehren des einzelnen durch den Gemeinsinn zu bändigen. Und nun Feststellungen über Feststellungen, dass die Not von Millionen stieg, weil gewisse Schichten ihren ganz persönlichen Vorteil suchten, ohne dass die Stimme des Herzens und Gewissens je nach den Leiden der Brüder und Schwestern fragte, ja schlimmer noch: weil einzelne die Stunde der Gefahr ihres Vaterlandes zu den verwerflichsten Spekulationen ausnutzten.

Die offizielle Bestätigung dieser nackten Tatsache liegt in anerkennenswerten Maßnahmen und Verfügungen von Lokalbehörden und Militärkommandanturen vor, Maßnahmen und Verfügungen — wie Ankauf von Getreide, Mehl, Kartoffeln usw. durch die Gemeinde, Festsetzung lokaler Höchstpreise —‚ durch die der Bewucherung des Lebensbedarfs der Massen ein Riegel vorgeschoben werden sollte. Nun aber ist sie noch unzweideutiger und allgemeiner durch die Reichsregierung erfolgt. Nach eindringlicher Befürwortung durch die Presse, durch Korporationen und Organisationen der verschiedensten Art — von der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften bis zu den an der Leipziger Börse vertretenen Müllern und Mehlhändlern —‚ nach umfassenden Beratungen hat der Bundesrat sich zu Vorschriften für das Gebiet der Lebensmittelversorgung entschließen müssen, deren Kernpunkt die Festlegung von Höchstpreisen für Brotgetreide ist. Höchstpreise für Roggen und Weizen im Deutschen Reiche, mit dem Segen aller möglichen gutbürgerlich gesinnten Leute! Uns klingen die Schmähungen in den Ohren, mit denen gewöhnlich zünftige Geschichtsschreiber und Politiker die Bergpartei der Großen Französischen Revolution zu bedenken pflegen, weil sie Maximalpreise für Getreide, Mehl, Brot durchsetzte, um die junge bürgerliche Freiheit gegen den Ansturm der verbündeten europäischen Reaktion und der rebellierenden, konspirierenden Adligen, Geistlichen, Spekulanten usw. in Frankreich selbst zu verteidigen. Das war nach der Meinung schwergelehrter Herren nichts mehr und nichts weniger als eine der gräulichsten Taten des “Sansculottismus”, ein ganz besonders umstürzlerischer Frevel wider das heilige Recht des Eigentums. Armer Bundesrat, in welche verfemte Gesellschaft ist er unter dem Zwange der Lage geraten!

Was die festgesetzten Höchstpreise selbst anbelangt, so müssen wir sie in der gegenwärtigen Stunde mit dem Stoßseufzer begrüßen, besser etwas und spät als nichts und niemals. Vertreter der verschiedensten Bevölkerungsschichten stimmen darin überein, dass die Maßregel reichlich langsam hinter der Verteuerung des Getreides und Brotes hergehinkt ist. Im Hinblick auf die Verhältnisse der breiten Verbrauchermassen wäre eine Regelung der Preise bereits notwendig gewesen, bevor diese durch Treibereien einzelner Skrupelloser die jetzige Höhe erreicht hätten. Denn was ist die unvermeidliche Folge des Zögerns und Abwartens? Nicht bloß, dass verschärfte Entbehrungen und Sorgen monatelang das Los vieler gewesen sind, sondern auch, dass nun die Höchstpreise selbst mit 260,50 Mark für die Tonne Weizen und 220 Mark für die Tonne Roggen in Wirklichkeit Teuerungspreise sind, die zu Normalpreisen werden. Die genannten Preise gelten für Berlin, für den Osten sind sie niedriger, für den Westen eher höher. So wird die Tonne Roggen zum Beispiel in Stuttgart auf 237 Mark zu stehen kommen. Wohl nirgends sind Roggen und Weizen unter dem Höchstsatz zu kaufen, und wir müssen daher auf entsprechend hohe Preise für Mehl, Mehlwaren und Brot gefasst sein. Ein Ausblick das, bei dem es Hunderttausende von Müttern kalt überläuft. Die Höchstpreise, die der Bundesrat festgesetzt hat, sind wirklich höchste Preise, wie sie im letzten Jahrzehnt nicht einmal in Teuerungsjahren erreicht wurden. Treffend schreibt die “Frankfurter Zeitung”:

Drei Monate hat die Regierung von der scharfen Waffe der Höchstpreise, die der Reichstag ihr am 4. August vertrauensvoll in die Hände gegeben hatte, keinen Gebrauch gemacht, drei Monate hat sie die Preise in einer wilden Unordnung sich entwickeln lassen — nun ist die Folge, dass wir zu vernünftigen und gerechten Preisen überhaupt nicht mehr kommen konnten. Denn das muss gegenüber den wortreichen Darlegungen der Regierung offen und rückhaltlos ausgesprochen werden: Die jetzt festgelegten Höchstpreise sind nicht billig und nicht gerecht, sie erreichen ein Niveau, das man vor acht Wochen noch nicht laut zu nennen gewagt hätte … Die Preise bedeuten eine Mehrlast von mehreren Hundert Millionen Mark, zu zahlen von der konsumierenden Masse des Volkes an den anderen Teil, die Produzenten und die Aufkäufer.”

Am 4. November sollte die Maßregel in Kraft treten, und es ist vorgesehen, dass schon vom 31. Dezember an eine “schrittweise mäßige Erhöhung” der festgesetzten Sätze eintritt. Eine Weihnachtsfreude ganz eigentümlicher Art für die Verbraucher. Die “schrittweise mäßige Erhöhung” besteht nämlich darin, dass ab 1. Januar 1915 die festgesetzten Preise am 1. und 15. jedes Monats um je 1,50 Mark je Tonne steigen. Die Tonne Weizen würde demnach Ende Juli in Berlin 281,50 Mark, die Tonne Roggen 241 Mark kosten. Das ist ein starker Anreiz für die Großgrundbesitzer, mit ihrem Getreide zurückzuhalten, um dann im Sommer die allerhöchsten Preise einstreichen zu können.

Das Reich ist davor zurückgeschreckt, selbst die Getreidevorräte zu übernehmen und unter Berücksichtigung der richtigen Verteilung bis zur Ernte zu verkaufen. [Zensurstreichung.]

Um so mehr ist es zu bedauern, dass der Bundesrat nicht wenigstens den Verkaufszwang für Brotfrucht ausgesprochen, sondern erst angedroht hat. Landwirtschaftliche Sachverständige haben Höchstpreise ohne Maßregeln dieser Art für unzulänglich erklärt. So schrieb zum Beispiel Dr. Heim: “Preisregulierung ohne Vorratsregulierung ist wirkungslos, unwirtschaftlich, von gegenteiliger Wirkung.” In der “Deutschen Tageszeitung”, dem Organ des Bundes der Landwirte, war zu lesen: “Die Höchstpreise genügen aber allein nicht; Hand in Hand damit muss eine Organisation zur Festsetzung und Verteilung des Bedarfes gehen. Entschließt man sich nicht zu diesen Maßnahmen, so können bei längerer Dauer des Krieges, mit der wir unbedingt rechnen müssen, recht schwierige und recht bedenkliche Verhältnisse eintreten.”

Der Bundesrat hat bestimmt, dass dem Weizenbrot mindestens 10 Prozent Roggenmehl, dem Roggenbrot mindestens 5 Prozent Kartoffelmehl zugesetzt werden müssen; die Beimischung des Kartoffelmehls darf bis zu 20 Prozent ausgedehnt werden. Die Vorschrift erscheint begreiflich, um den Vorrat an Brotgetreide zu “strecken”, ihn länger dauern zu machen. Eine Verminderung des Nährwertes des Brotes — die Regierung bestreitet zwar eine solche — aber wird am verhängnisvollsten gerade die Gesundheit der arbeitenden Massen treffen, weil diese starken Brotverbrauch haben und nicht durch andere hochwertige Nahrungsmittel die geringere Qualität wettmachen können. Außerdem muss man damit rechnen, dass der größere Verbrauch von Kartoffelmehl für Brot den Preis der Knollenfrucht steigern wird. Man halte fest, dass der Bundesrat bis jetzt keine Höchstpreise für Kartoffeln vorgeschrieben hat und die Vergeudung der Nahrungsmittel für die Zwecke der Branntweinbrennerei nur auf 60 Prozent eingeschränkt hat. Was besagt aber die Möglichkeit eines weiteren Anziehens der Kartoffelpreise, die Möglichkeit der Kartoffelknappheit für die Frauen des Volkes anders als drohende schwere Sorge und Not?

Der unerträglich verteuerte Lebensbedarf rollt gerade für die Frauen einen ganzen Knäuel von Fragen auf, die in schärfster Beleuchtung zeigen, wie untrennbar das wirtschaftliche und das politische Geschehen miteinander verknüpft sind. Wollen die Proletarierinnen mit den Ihrigen die eisernen Kriegszeiten möglichst unbeschädigt an Gesundheit und Lebenskraft, an Energie und geistiger Frische überstehen, so müssen sie klarblickender und nachdrücklicher als je das Recht des Volkes auf billigen, erschwinglichen Lebensbedarf politisch schützen und zur Geltung bringen. Ihre Stimme muss künftig überall dort gehört werden, wo es darum geht, den Tisch des Volkes zu bestellen. Durch einen großen Teil unserer Presse ging ein Artikel, in dem nach dem Muster eines Briefstellers für Liebende den Frauen der Rat gegeben wurde, ihre und der Kinder Lebenshaltung den Männern im Felde als die behaglichste Idylle zu schildern. Den Frauen wurde die Geste eines verlogenen Heroismus des Entbehrens gepredigt. Uns dünkt solche Verlogenheit verächtlich und gefährlich. Wir rufen die Frauen auf zum wahren Heroismus der Tat: gegen die Entbehrungen und ihre Ursachen zu kämpfen.

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