Clara Zetkin 19160623 Rüsten und Abrüsten

Clara Zetkin: Rüsten und Abrüsten

(Aus einem Artikel, Juni 1916)

[“Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen”, Stuttgart, 23. Juni 1916. Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 726-730]

So schwer es ist, während der Dauer des Weltkrieges genau im Einzelnen vorauszusagen, wie nach ihm die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse sich gestalten werden, so kann man doch schon jetzt einige grundlegende Tatsachen ohne jeden Zweifel feststellen. Es ist zum Beispiel bereits heute Tatsache, dass mit der Annahme der neuesten, sechsten Kriegskreditvorlage, der die sozialdemokratische Mehrheitsfraktion wie allen früheren ihre Zustimmung gegeben hat, die unmittelbaren Kosten des Krieges auf 52 Milliarden Mark gestiegen sind. Vorausgesetzt sogar, dass dies die letzte Kreditvorlage wäre, ist damit eine Riesenschuldenlast des Reiches geschaffen. Zusammen mit der notwendigen Versorgung der Kriegsinvaliden und Hinterbliebenen der Kriegsteilnehmer wie den anderen zur Deckung der Kriegsschäden erforderlichen Ausgaben wird sie nach dem Friedensschluss die Aufbringung neuer Steuern im Betrag von vielen Milliarden jährlich unvermeidlich nach sich ziehen.

Bleiben die heutigen Macht- und Klassenverhältnisse in den kriegführenden Ländern auch weiter fortbestehen, dann ist es nicht schwer zu erraten, dass die Hauptlast der Steuern, die sich aus dem Kriege überall ergehen werden, auf den breiten und geduldigen Rücken der arbeitenden Volksklassen abgewälzt wird. Wie die riesigen Kosten des Krieges, die für alle beteiligten Länder und in hohem Maße auch für die neutralen Staaten insgesamt eine phantastische Summe ergeben dürften, aus indirekten Steuern aufgebracht werden sollen, das ist freilich eine Frage, vor der jedes bürgerliche Finanzgenie völlig ratlos steht. Die überraschend schnelle Laufbahn des Reichsschatzsekretärs Helfferich, der seinem Ressort eiligst den Rücken kehrte, nachdem er mehrere Kriegsanleihen und Steuerprojekte eingefädelt hatte, bestätigt deutlich, dass der bürgerliche Staat heute schon den durch den Weltkrieg aufgeworfenen Finanzproblemen gegenübersteht wie der bekannte Zauberlehrling, der die Geister rief. — Auf jeden Fall aber müssen die Arbeiter — immer die Fortdauer der gegenwärtigen Klassenverhältnisse vorausgesetzt — mit aller Sicherheit in Deutschland so gut wie in anderen Staaten mit einer ganz außerordentlichen Steigerung der finanziellen Staatslasten rechnen.

Was sich als das dringendste Interesse der proletarischen Massen schon aus diesen rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten ergibt, dürfte nach dem einfachen Einmaleins jedermann klar sein. Jeder weitere Tag, den der Weltkrieg dauert, wirft natürlich ein neues Gewicht zu der Summe seiner Kosten und zu dem Berge von Lasten, die nach der Schlussrechnung den Völkern aufgebürdet werden. Die Geltendmachung des klaren Willens der proletarischen Massen allerwärts für die rascheste Beendigung der gegenseitigen Vernichtung der Völker ist demnach die erste und durchgreifendste Maßnahme gegen die kommende Belastung. Außerdem ergibt sich aber für die Arbeiterschaft als dringende Aufgabe das elementare Abwehrmittel gegen Teuerung und öffentliche Lasten: das nachdrückliche Eintreten für ein Lohnniveau, das wenigstens zum Teil den unausbleiblichen wirtschaftlichen Druck von der anderen Seite her ausgleichen wurde. Der gewerkschaftliche Kampf ist die erste Rettungsplanke der Arbeiterschaft in jeder Periode steigender Lebensmittelpreise und Steuern. Wie sieht es nun damit zur Zeit aus?

Die jährliche Veröffentlichung des Kaiserlichen Statistischen Amtes zeigt, dass die Lohnkämpfe im Reiche, die gleich nach Ausbruch des Krieges von den Gewerkschaftsführern offiziell eingestellt wurden, im vergangenen Jahre noch mehr zurückgegangen sind, als dies 1914 der Fall war. Das Jahr 1915 weist die niedrigsten Beteiligungsziffern an Streiks und Aussperrungen auf seit Beginn der amtlichen Streikstatistik. Die Zahl der Streikenden betrug nämlich nur 11639, die der Ausgesperrten 1227 Personen. Noch auffallender ist die kurze Dauer der Lohnkämpfe. Die offizielle Übersicht sagt darüber, dass die 167 Arbeitskämpfe der siebzehn Kriegsmonate mit 14,950 beteiligten Arbeitern eine Gesamtdauer von 930 5/6 Tagen umfassen; es entfielen also durchschnittlich auf die einzelnen Arbeitskämpfe nur 5‚57 Tage …

Die gewerkschaftlich tätigen Genossinnen und Genossen denken vielfach: Nach dem Kriege bricht die Auseinandersetzung zwischen Lohnarbeit und Kapital auf der ganzen Linie mit um so größerer Wucht los. Allein sehen wir zu ob auf der Gegenseite das Kapital auch geduldig und burgfriedlich auf die Zeit nach dem Kriege wartet, um seine Stellungen zu befestigen.

Lassen wir die offenkundigen Tatsachen beiseite, wie sehr der Krieg und seine lange Dauer selbst dazu führen, die Appetite und Bestrebungen der großkapitalistischen Industrie und des Handels zu befriedigen. Die Geschichte der Lebensmittelversorgung, die dank der Kriegslieferungen gezahlten Dividenden reden eine deutliche Sprache. Aber auch die innere Rüstung des Kapitals, der Ausbau seiner sozialen Macht über die Arbeiterschaft, macht während des Krieges zusehends ungeheure Fortschritte. Der Krieg, wie jede große soziale Krise, erschlägt die schwachen Kapitale und kräftigt die starken. Er fördert die Konzentration des Kapitals. Nach dem Kriege wird der Arbeiterschaft ein gewaltiger zusammengeballtes, stärker verschanztes und besser ausgerüstetes Kapital gegenüberstehen. Was das für die soziale Lage der Arbeiter bedeutet, das sehen und sprechen schon heute klar aus — zwar bei weitem nicht alle Gewerkschaftsführer des Proletariats, wohl aber die Organe der Kapitalistenklasse selbst. Ein rein kapitalistisches Blatt, die “Frankfurter Zeitung”, schrieb in ihrer Nummer vom 3. Juni:

Der Krieg konzentriert den Kapitalbesitz in einer relativ kleineren Zahl von Händen. Das ist das eine. Das zweite aber, was vielleicht noch viel folgenschwerer sein wird, ist, dass der Krieg die Tendenz beschleunigt, das Kommando über das Kapital und damit auch über die Arbeit bei einer allmählich immer kleiner werdenden Zahl von leitenden Personen und Stellen zusammenzuführen. Er beschleunigt die Tendenz zum Großbetrieb, zur Fusionierung, zur Kartellierung, zur Monopolisierung.”

Das wird an Hand des eben jetzt vollzogenen Zusammenschlusses der gesamten chemischen Industrie Deutschlands zu einer gewaltigen, im Reiche einzig dastehenden Monopolmacht geschildert und daraus der Schluss gezogen: “Was derartige großkapitalistische Monopole zu einer ernsten volkswirtschaftlichen und sozialen Gefahr und damit zu einer der schwersten und dringendsten von Regierung und Volksvertretung in Deutschland allerdings bisher in ihrer schweren Dringlichkeit durchaus nicht erkanntest — staatspolitischen Aufgaben macht, ist die Ausschaltung jeder Gewerbefreiheit, die soziale Übermacht über Angestellte und Arbeiter, die unumschränkte Herrschaft über die Verarbeiter und Verbraucher der monopolisierten Erzeugnisse und die Möglichkeit zur rücksichtslosen Ausnutzung dieser Herrschaft.”

Selbst Kapitalistenblätter sprechen also schon von der Gefahr, die der Arbeiterschaft aus den heutigen Rüstungen des Kapitals in allernächster Zukunft droht. Das Kapital führt Krieg, geht auf Eroberungen aus, rüstet gegen die Arbeiter, — Und die Arbeiterrüstungen, die Gewerkschaften? Die offizielle Streikstatistik gibt die Antwort: Die Arbeiter rüsten ab. Lassalle sagte einmal in einer Rede vor den Arbeitern: “Die Bourgeoisie hat viel bessere Diener als Sie, meine Herren.” Mit den “Dienern” meinte er die politischen und wirtschaftlichen Führer.

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