Leipziger Volkszeitung 19110421 Die Konsequenzen

Leipziger Volkszeitung: Die Konsequenzen

[„Leipziger Volkszeitung“, Nr. 91-92, 21. und 22. April 1911, ungezeichnete Leitartikel, erster Artikel nachgedruckt in „Bremer Bürger-Zeitung“ Nr. 94, 22. April 1911.]

[Redaktion der „Bremer Bürger-Zeitung“: „Was in dem nachfolgenden Artikel, den wir der „Leipziger Volkszeitung“ entnehmen, gegen die übrige Parteipresse und gegen den Genossen Kautsky ausgeführt wird, kann völlig von uns unterschrieben werden. Selbst so weit es sich um die Erwiderung auf Einwände handelt, die speziell gegen die „Leipziger Volkszeitung“ erhoben worden waren, stimmen wir unserem Leipziger Bruderblatt zu.“]

I.

Der bisherige Gang der Abrüstungsdebatte ist nicht gerade erhebend. Der bei weitem überwiegende Teil der Parteipresse hat sich damit begnügt, die Artikel des Genossen Ledebour zustimmend abzudrucken, ohne ihren Lesern auch nur mit einer Silbe zu verraten, was wir auf diese Artikel zu antworten hatten, so dass in den weiteren Kreisen der Partei der Eindruck entstehen muss, es handle sich um einen schier unbegreiflichen Vorstoß der „Leipziger Volkszeitung“ {und der „Bremer Bürger-Zeitung“. „Red[aktion] der B[ürger]-Ztg.“} gegen die altbewährte Taktik der Partei, der aber glücklicherweise sofort in seiner totalen Haltlosigkeit nachgewiesen sei. Dass die Dinge gerade umgekehrt stehen, dass die Argumente, mit denen Genosse Ledebour die Haltung der Reichstagsfraktion zu verteidigen sucht, einen Bruch mit den bisherigen Parteianschauungen über den Grundcharakter des Kapitalismus bedeuten, das erfahren die Leser der Parteipresse nicht. Der „Vorwärts“ hat außer dem Artikel des Genossen Ledebour kein Wort weiter gesagt, in der „Frankfurter Volksstimme“ erklärt zwar Genosse hw. (Hermann Wendell) anfangs sehr bestimmt, dass er seine eigene Anschauung zu dem Thema Abrüstung und Sozialdemokratie bringen werde, begnügt sich aber dann zu unserem Bedauern damit, nach einigen Tagen zwei inzwischen eingelaufene Artikel eines geschätzten Mitarbeiters {in dem wir wohl mit Recht den Genossen Machimson vermuten, „Red[aktion] der B[ürger]-Ztg.“} abzudrucken, deren tief verborgener Sinn uns leider trotz wiederholten Lesen nicht völlig aufgegangen ist. Einen Rekord eigener Art stellt die „Bielefelder Volkswacht“ auf. Sie brachte fünf Leitartikel gegen die „Leipziger Volkszeitung“, ohne ihren Lesern zu verraten, was wir denn eigentlich gesagt haben. Andere Parteiblätter wieder entstellten unsere Ausführungen ins Groteske, wie beispielsweise die „Chemnitzer Volksstimme“, die direkt schreibt:

Die ‚Leipziger Volkszeitung‘ will die Beschränkung des Militarismus gar nicht, denn sie will ja, dass es schlimmer wird, statt besser.“

Hier hört natürlich jede Debatte auf. Unsere Wendung: es muss schlimmer werden, ehe es besser wird, bezog sich, wie aus dem Zusammenhang ganz klar hervorgeht, lediglich auf die englischen Verhältnisse, wo, wie Kautsky in seiner neuesten Broschüre „Parlamentarismus und Demokratie“ auseinandersetzt, „nur die verzweifelte Demagogie der Liberalen noch eine Zeitlang die Arbeiterpartei irreführen und lahm legen und das liberale Regiment über Wasser halten kann. Die revolutionären Redensarten des Ministers Grey über die soziale Revolution als Antwort auf das endlose Wettrüsten charakterisierten wir als einen derartigen verzweifelten Demagogenstreich und fügten hinzu: um den englischen Arbeitern die Augen über diese liberale Demagogie zu öffnen, dazu muss es noch schlimmer werden, als es jetzt ist. Uns ganz allgemein den Grundsatz unterschieben: es muss schlimmer werden, ehe es besser wird, mag ja für polemische Zwecke recht bequem sein, hat aber nicht den Vorzug der Aufrichtigkeit.

Man möge über unsere Argumente denken, was man will, jedenfalls schafft man sie nicht dadurch aus der Welt, dass man ihnen den Rücken zudreht und einige missvergnügte Worte murmelt. Wir haben bewiesen und können durch zahllose weitere Beispiele und Zitate noch ausführlicher nachweisen, dass der Gedanke an die Möglichkeit allgemeiner Rüstungsbeschränkungen innerhalb des Kapitalismus bisher von der Partei niemals aufgenommen worden war. Der Parteitag von Stuttgart beschäftigte sich 1898 mit dem bekannten Friedensmanifest des Zaren, das einen Abrüstungsvorschlag enthielt. Die Resolution, die der Parteitag nach einigen kurzen Worten Bebels einstimmig annahm, unterschreiben wir heute noch. Diese Resolution enthält kein Wort, das von den parlamentarischen Vertretern der Sozialdemokratie etwa die Einbringung von Abrüstungsanträgen verlangte, obwohl das Friedensmanifest des Zaren einen viel tieferen Eindruck auf die Öffentlichkeit machte als die verklausulierte Resolution der Parlamente von London und Paris. Das Neue, das jetzt vorliegt, und das innerhalb der Partei noch zu direkt unabsehbaren Konsequenzen führen kann, und was unter allen Umständen die gespannte Aufmerksamkeit und Teilnahme jedes Parteigenossen beansprucht, ist nicht sowohl der Antrag der Reichstagsfraktion an sich, als vielmehr die Begründung, die er durch den Genossen Ledebour im „Vorwärts“ und durch den Genossen K[autsky] in der „Neuen Zeit“ erhalten hat. Mit den Argumenten des Genossen Ledebour haben wir uns auseinandergesetzt. Mit den Ausführungen des Genossen K[autsky] in der „Neuen Zeit“ wollten wir uns zunächst nicht beschäftigen, weil sie offensichtlich nur einige gelegentliche kurze Bemerkungen darstellen. Da inzwischen jedoch die revisionistische Parteipresse stramm an der Arbeit ist, diese Bemerkungen zu benützen, um Konsequenzen im Sinne des Revisionismus aus ihnen zu ziehen, so sehen wir uns gezwungen, zu den Ausführungen der „Neuen Zeit“ Stellung zu nehmen. Unser wissenschaftliches Wochenblatt hatte geschrieben:

[Denn] unsere Freunde in Leipzig und Bremen sind der Meinung, das Bauen von Dreadnoughts lasse sich vor der Einführung des Zukunftsstaats ebenso wenig abschaffen wie das Lohnsystem. Ich weiß nicht, halten sie das Lohnsystem ebenso für eine Erfindung wie die Dreadnoughts, oder glauben sie, dass diese ebenso urwüchsig von selbst aus den ökonomischen Verhältnissen entspringen wie jenes?

Das Lohnsystem lässt sich freilich durch Parlamentsbeschluss nicht abschaffen, weil es durch einen solchen nicht eingeführt wurde. Das Bauen von Dreadnoughts beruht aber auf Parlamentsbeschlüssen, ist ohne solche nicht möglich.

Andererseits, wenn sich das Lohnsystem nicht abschaffen lässt ohne eine völlige Änderung des ökonomischen Mechanismus, so lässt es sich doch heute schon gesetzlich einschränken. Es wäre sicher Utopismus und kleinbürgerliche Illusion, zu erwarten, die Regierungen würden von selbst den Achtstundentag einführen. Dürfen wir ihn deshalb nicht fordern?

Was dem Achtstundentag recht, ist der Abrüstung billig.

Gerade jetzt aber stellt sich eine besondere Gelegenheit ein, für die Idee der Abrüstung einzutreten. Das Wettrüsten wird England und Frankreich schon zu viel, sie möchten in allem Ernste gern die Last ihrer Rüstungen verringern, die ihre Völker rebellisch machen. Aber sie möchten nicht einseitig vorgehen, und die Staaten des Dreibundes tun nicht mit.

Da war es nicht bloß das Recht, da war es die Pflicht unserer Genossen im Reichstag, von der Regierung eine klare Stellungnahme zu fordern, um sie entweder zu zwingen, dass sie dem Gedanken der Abrüstung zustimme, oder um den Wählern zu zeigen, wenn die Verantwortung für das Weiterrüsten trifft, für seine finanziellen Opfer, für die Kriegsgefahr, die es mit sich ringt.

Umso erstaunlicher die Kritik, die von einigen unserer Genossen an diesem Vorgehen geübt wurde. Hier ebenso wie in der Kritik an der von Mehring vertretenen Wahlparole tritt ein Misstrauen gegen jede Art praktischen Kampfes zutage, das nur zu erklären ist als Gegenwirkung gegen manche vom Revisionismus empfohlene Formen praktischen Wirkens. Weil dieser nur zu oft auf den Kampf gegen unsere Gegner verzichtete, von ihnen das Beste erwartete, sich zur Macht einschleichen und einschmeicheln wollte, und dies als die einzige mögliche praktische Politik empfahl, scheint manchen unserer Genossen eine Abscheu gegen jede Art praktischer Politik befallen zu haben, scheint ihnen jede als Beweis ungerechtfertigten Zutrauens zu unseren Gegnern und als Verzicht auf den Kampf zu gelten.

Es wäre schlimm um uns bestellt, wenn wir uns durch das Übermaß nach rechts zu einem Übermaß nach links verleiten und aus dem Gleichgewicht bringen ließen, wie es in Frankreich eintrat, wo dem Ministerialismus der Syndikalismus entgegengesetzt wurde.“1

Zunächst darf man nicht zum Vergleich stellen: Lohnsystem und Dreadnoughts, sondern Lohnsystem und Wettrüsten; denn der Antrag der Reichstagsfraktion richtete sich nicht gegen die Erfindung der Dreadnoughts, sondern gegen das Wettrüsten. Dass aber das Wettrüsten in der Tat genauso urwüchsig aus den ökonomischen Verhältnissen entspringt wie das Lohnsystem, darin wird uns auch wohl die „Neue Zeit“ zustimmen. Der Imperialismus, als dessen Ausdruck das Wettrüsten erscheint, ist jedenfalls unabhängig von der Zustimmung der Parlamente entstanden und wird auch durch Parlamentsbeschluss nicht beseitigt werden können. Haben wir doch Länder, die sich zwar am Wettrüsten beteiligen, in denen Parlamente aber entweder überhaupt nicht oder nur zum Schein existieren. Beispielsweise Russland. Wenn aber wirklich „das Bauen von Dreadnoughts“, d.h. das Wettrüsten ohne Parlamentsbeschlüsse nicht möglich ist, so ist es die Gründung und Verwaltung eines Kolonialreiches noch viel weniger. Wenn man damit den Abrüstungsantrag unserer Reichstagsfraktion begründen will, so heißt es: warum beantragen wir dann nicht die Freigabe der Kolonien? Was dem Wettrüsten recht ist, ist den Kolonien billig. Hier aber hat Genosse Kautsky selber erklärt, das von einem derartigen Antrage so lange keine Rede sein könne, wie die Herrschaft des Kapitalismus dauert, und dass die Idee von einer freiwilligen Aufgabe der Kolonien nur den Wert eines Kompasses, nicht aber den eines praktischen Vorschlages habe.

Andererseits ist es uns völlig neu, dass die gesetzliche Einführung des Achtstundentages eine Einschränkung des Lohnsystems bedeuten würde. Nach unserer Auffassung würde dadurch zwar die Arbeitszeit eingeschränkt, das Lohnsystem aber gar nicht berührt werden.

Schon vor zwanzig Jahren schrieb Kautsky in seiner Schrift über das Erfurter Programm, dass der Achtstundentag heute dasselbe bedeuten würde was in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts für die englische Industrie der Zehnstundentag war. Dass dieser Zehnstundentag aber die Einschränkung des Lohnsystems bedeutet hat, ist, wie gesagt, uns völlig neu und kann auch nicht durch die bekannte Stelle aus der Inauguraladresse gestützt werden, wo der Zehnstundentag als der Sieg eines Prinzips bezeichnet wird.2

Das Erstaunlichste jedoch an dem obigen Zitat aus der „Neuen Zeit“ ist die Schlussanwendung, wo der Standpunkt der „Leipziger Volkszeitung“ mit dem französischen Syndikalismus auf eine Stufe gestellt und uns „Misstrauen gegen jede Art praktischen Kampfes“ nachgesagt wird. Und zwar deshalb, weil wir eine allgemeine Einschränkung der Rüstungen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung für ausgeschlossen halten. Sehen wir zu, wie Theoretiker, die der Genosse Kautsky sicherlich nicht als Syndikalisten bezeichnen wird, über diese Frage geurteilt haben:

Neben der Umwälzung durch die Technik ist es aber auch die stete Erweiterung des Herrschafts- oder wenigstens des Einflussgebiets eines jeden Großstaats durch die Weltpolitik, die es immer notwendiger macht, dass er seine Machtmittel erweitert. Solange die Weltpolitik dauert, muss der Wahnsinn des Wettrüstens bis zur völligen Erschöpfung zunehmen. Der Imperialismus aber ist die einzige Hoffnung, die einzige Idee für die Zukunft, die der bestehenden Gesellschaft noch winkt. Außer ihr gibt es nur noch eine Alternative: den Sozialismus. Und so wird sich dieser Wahnsinn steigern bis das Proletariat die Kraft gewinnt, die Politik des Staates zu bestimmen, die Politik des Imperialismus zu überwinden und durch die des Sozialismus zu ersetzen.“3

Und an einer anderen Stelle

Jeder Regierung werden die fortgesetzten, sich überstürzenden Rüstungen immer unerträglicher, aber keine der herrschenden Klassen sucht die Schuld daran in der Weltpolitik, die sie treiben. Sie dürfen sie dort nicht sehen, weil dort die letzte Zuflucht des Kapitalismus liegt. So sucht jeder die Schuld nur beim andern, die Deutschen bei den Engländern, die Engländer bei den Deutschen. Alle werden dadurch nervöser und argwöhnischer, was aber nur eine neue Anstachelung bildet, die Rüstungen mit vermehrter Hast fortzusetzen, bis es schließlich heißt: lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“4

Und wer ist es, der so schreibt? — Niemand anders, als der Genosse Kautsky. Und zwar in seiner vor zwei Jahren erschienen und vor neun Monaten neu aufgelegten Broschüre: „Der Weg zur Macht“. Damals wurde er vom Korrespondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften wegen dieser Broschüre scharf angegriffen, was ihn jedoch, wie er in der vom 1. Juli 1910 datierten Vorrede zur 2. Auflage betont, nicht veranlassen konnte, auch nur ein Wort von Belang zu ändern. Und was warfen ihm damals die Revisionisten vor? — Seine Anschauungen führten zum Misstrauen gegen jede Art praktischen Kampfes, zum Fatalismus, zu einer dumpfen Resignation vor der parlamentarischen Tätigkeit. Und zum Schluss hieß es:

Kautsky scheint ja dem französischen Syndikalismus nicht abhold zu sein, er passt auch für seine politische Auffassung besser als die deutsche Taktik.“

Das war, wie gesagt, damals. Man sieht: unser „Syndikalismus“ besteht darin, dass wir heute noch die Ansicht für richtig halten, die Kautsky vor neun Monaten vertrat, und die ihm von revisionistischer Seite den Vorwurf des Syndikalismus eintrug. Der Fortschritt der Zeiten besteht darin, dass Genosse Kautsky jetzt gegen uns die gleichen Vorwürfe erhebt, die damals vom Korrespondenzblatt der Generalkommission gegen ihn erhoben wurden.

Und noch ein Wort zu unserer Kritik an der von Mehring vertretenen Wahlparole. Genosse Mehring hat bekanntlich erklärt: Die Sprengung des schwarz-blauen Blocks ist die absolute Forderung des Tages. Wir waren dem entgegengetreten mit der Erklärung: bei den Hauptwahlen müsse es gegen alle bürgerlichen Parteien gehen, die Parole: nieder mit dem schwarz-blauen Block sei da nicht zu gebrauchen. Genosse Kautsky erwiderte uns, nachdem er sich ausdrücklich mit dem Genossen Mehring einverstanden erklärt hatte: wir dürfen die bürgerliche Gesellschaft nicht als eine einheitliche, unveränderliche Masse betrachten:

Wenn Marx und Engels sich stets so energisch gegen das Wort von der ‚reaktionären Masse’ wandten, so geschah es, weil sie fürchteten, es werde dem Studium und der Ausnutzung der Interessengegensätze innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft entgegenwirken. Will die ‚Leipziger Volkszeitung‘ etwa auch Marx und Engels zu den Leuten rechnen, die unsere Partei vom ‚bewussten Kampfe gegen die gesamte bürgerliche Gesellschaft‘ ablenken wollen?“5

Das wollen wir allerdings nicht, wie wir ja auch gar nicht das Schlagwort von der einen reaktionären Masse in den Mund genommen haben. Immerhin war gerade der Genosse Kautsky wenig befugt, dieses Argument gegen uns auszuspielen; denn er hatte in der oben genannten Broschüre: „Der Weg zur Macht“, noch vor neun Monaten geschrieben:

Es heißt der Sozialdemokratie politischen Selbstmord zumuten, wenn man von ihr gerade jetzt die Teilnahme an einer Koalitions-, einer Blockpolitik verlangt, wo das Wort von der reaktionären Masse [zur] Wahrheit geworden ist.“6

So Genosse Kautsky vor neun Monaten.

Wer hat nun recht: Kautsky oder Marx? —

Und was wird aus unserm „Misstrauen gegen jede Art praktischen Kampfes?“ —

II.

Wir hatten nachgewiesen, dass bisher der Gedanke an die Durchführbarkeit allgemeiner Rüstungsbeschränkungen innerhalb des Kapitalismus der deutschen Sozialdemokratie vollständig fremd war. Das Parteiprogramm weiß von ihm überhaupt nichts, die Resolution von Stuttgart 1898 ebenso wenig, bis plötzlich im vorigen Jahre der internationale Kongress von Kopenhagen eine Resolution zugunsten der Rüstungseinschränkungen fasste. Wie wenig Beachtung sie jedoch fand, geht schon daraus hervor, dass im gleichen Jahre und im Jahre vorher die bereits erwähnte Broschüre Kautskys: „Der Weg zur Macht“ erschienen war, die im unvereinbaren Widerspruch mit der Kopenhagener Resolution stand, ohne dass dieser Gegensatz die deutsche Delegation an der einstimmigen Annahme gehindert hätte. Die Kritik, die die „Leipziger Volkszeitung“ vor und nach dem Kongress an dieser Resolution geübt hatte, wurde nicht beachtet. Der Lärm des Magdeburger Parteitages ließ sie verhallen. Der Abrüstungsantrag der deutschen Reichstagsfraktion erweckte sie zu neuem Leben.

Dass die deutsche Reichstagsfraktion die Resolutionen der Parlamente zu London und Paris im Agitationsinteresse der Sozialdemokratie ausnützen musste, verstand sich von selber. Allein dieser Zweck wäre vollständig erreicht worden, wenn man in einer Interpellation den Reichskanzler befragte, wie er sich zu den Abrüstungsresolutionen von London und Paris zu verhalten gedenke. Herr Bethmann-Hollweg hätte dann selbstredend genau die gleiche „Raubtierphilosophie“ vom Stapel gelassen, wie er sie am 30. März vom Stapel ließ, und dann hätte die Besprechung dieser Interpellation unsere Redner auseinandersetzen können, dass der Herr Reichskanzler mit seiner „Raubtierphilosophie“ nur die Philosophie des Kapitalismus wiedergegeben habe, und daran hätte er die Unvereinbarkeit des Kapitalismus mit der Kultur und dem Frieden des näheren nachweisen können. In diesem Sinne war unsere Bemerkung zu verstehen: eigentlich hätte unser Redner die Rede halten müssen, die der Reichskanzler hielt, das heißt, er hätte die Unvereinbarkeit des Imperialismus mit dem Weltfrieden nachweisen müssen, wie wir es bisher bei jeder Gelegenheit in allen Versammlungen, in jedem Zeitungsartikel, in der gesamten wissenschaftlichen Parteiliteratur auch stets getan haben.

Die daraus entstandene Debatte hat bisher das eine kennzeichnende Ergebnis gehabt: die reiche theoretische Parteiliteratur über die neusten Entwicklungserscheinungen des Kapitalismus, so besonders über den Imperialismus, ist in weiten Parteikreisen herzlich wenig bekannt. Wir nennen nur die Schriften von Kautsky, Parvus, Hilferding. In der Parteidebatte erklang auch nicht das leiseste Echo aus diesen Schriften. Und gerade hier sind die grundlegenden Linien für die sozialdemokratische Politik in der Ära des Imperialismus gezogen. Diese mangelnde Vertrautheit mit der Literatur des wissenschaftlichen Sozialismus musste sich rächen, sobald das Thema des Imperialismus einmal zur Debatte stand — denn die Abrüstungsdebatte ist selbstredend nichts anderes als eine Debatte über den Imperialismus, nur als solche hat sie Wert und Sinn — und nun zeigte sich, dass bei dem improvisierten Versuch des Genossen Ledebour, einen falschen Schritt „marxistisch“ zu rechtfertigen, nichts anderes herauskam als eine Argumentation, die direkt in den Revisionismus hineinführt.

Wie sah denn diese Argumentation aus? Im Kapitalismus stecken einander entgegengesetzte Entwicklungstendenzen zum Guten wie zum Bösen, zum Frieden wie zum Kriege. Die Tendenzen zum Frieden werden nun mit jedem Tage stärker, so dass schon unter kapitalistischen Verhältnissen enorme Erleichterungen durch Einschränkung der Rüstungen möglich sind. Die Revisionisten erkennen in dieser Argumentation freudig ihre eigene: das haben wir ja immer gesagt, dass schon unter kapitalistischen Verhältnissen enorme Erleichterungen möglich sind. Wenn das aber der Fall ist, haben wir dann noch die Möglichkeit, dieser kapitalistischen Gesellschaft in Todfeindschaft, wie Bebel sagt, gegenüberzustehen? Gefährden wir nicht vielmehr durch unsere Todfeindschaft diese enormen Erleichterungen? — Also nichts mehr von Todfeindschaft, kommen wir vielmehr diesen enormen Erleichterungen sanft entgegen. Und der Genosse Kolb, der ja immer gern die Gelegenheit bei der Stirnlocke ergreift, schreibt denn auch im „Karlsruher Volksfreund“ ganz munter:

Damit, dass man die Kritik der ‚Leipziger Volkzeitung‘ an dem Abrüstungsantrag zurückweist, ist das Problem, um welches es sich dabei handelt, noch lange nicht gelöst; denn wenn es wahr ist, was Genosse Ledebour der ‚Leipziger Volkszeitung‘ entgegenhält, dass die Abrüstung auch in der kapitalistischen Gesellschaft möglich ist, dann darf die Partei auch nicht vor den sich daraus ergebenden politischen Konsequenzen zurückschrecken, das heißt, dann muss sie zu dem militärischen Problem überhaupt erst einmal praktisch Stellung nehmen, wozu sie in dem Augenblick gezwungen sein wird, wo sie in der Reichspolitik politisch ausschlaggebend sein kann — wenn sie will.“

Praktisch Stellung nehmen! Das heißt nichts anderes als: die Bewilligung von Heer und Flotte! Die „Chemnitzer Volksstimme“ lässt sich folgendermaßen vernehmen:

Es zeigt sich nun, dass die ganze Fraktion und die ganze Parteipresse die radikale Leipziger Taktik ablehnt, ohne dabei freilich den Vorteil der Konsequenz auf ihrer Seite zu erhalten. Es muss aber der ganze anarchistische (!) „radikale“ Sozialismus, der als Reaktion gegen Bernsteins Neuerungsvorschläge entstanden ist und seit einigen Jahren die Partei beherrscht, über Bord geworfen werden, um die Fraktion der ‚Leipziger Volkszeitung‘ gegenüber verteidigen zu können.“

Nun sind wir natürlich weit davon entfernt, den Genossen Ledebour für diese revisionistischen Konsequenzen aus seinen „marxistischen“ Ausführungen verantwortlich zu machen aber eine gewisse Berechtigung lässt sich ihnen trotz alledem nicht absprechen. Wenn wir es für möglich erklären, dass der Imperialismus in sich selbst zurückkriecht und seine eigenen Konsequenzen aufhebt, dass er die Klassengegensätze mildert statt verschärft, die Aussicht auf den Weltfrieden hebt statt senkt, allenthalben „Gemeinsamkeitsgedanken“ züchtet statt Monopole und Brutalitäten, dann geben wir mit dem Revisionismus beide Breitseiten preis. Denn just auf derartigen Illusionen beruht seine Gedankenwelt. Auf der anderen Seite kann man, wie wir bei früherer Gelegenheit auseinandergesetzt haben, den Antrag der Reichstagsfraktion ohne solche illusionären Argumente überhaupt nicht verteidigen.

Hier zeigt sich die Wichtigkeit der ganzen Debatte. Es dreht sich um bei weitem mehr als um die untergeordnete Frage, ob unserer Reichstagsfraktion mal die Menschlichkeit eines Irrtums unterlaufen ist — darüber würde man nur wenige Worte zu verlieren brauchen —, sondern um die wichtige Frage: wie steht die Sozialdemokratie zu der neuesten und zugleich umwälzendsten Erscheinung des Kapitalismus, zum Imperialismus? Das hier kein revisionistischer Altweibersommer in die Augen fliegt und den Blick trübt, dass hier vielmehr volle theoretische Klarheit und Einsicht in den weitesten Kreisen der Partei herrscht, das ist ein Lebensinteresse der Partei; denn von der theoretischen Erkenntnis hängt die Praxis des politischen Kampfes und die Nähe des Sieges ab.

Das ist nun freilich keineswegs eine einfache Sache. So hat nach dem Bericht der Mainzer Volkszeitung Genosse David in einer Versammlung zu Mainz ausgeführt, da ja Kriege nach Ansicht der Leipziger Volkszeitung unvermeidlich seien, so müsse die Sozialdemokratie auch für den Militarismus Mittel bewilligen, womit freilich, falls der Bericht die Rede richtig wiedergibt, nur bewiesen wäre, dass der Genosse David bisher nur deshalb dem Militarismus die Mittel nicht bewilligt hat, weil er an den ewigen Weltfrieden glaubt. Wie gerade aus der Überzeugung heraus, dass Kriege noch unvermeidlich sind, die proletarische Friedenspolitik sich ergibt, das hat in prägnanter Form Genosse Hilferding in seinem bereits erwähnten Buche vom Finanzkapital auseinandergesetzt:

[Jedoch] so wenig die Überzeugung, dass die Politik des Finanzkapitals zu kriegerischen Entwicklungen und damit zur Auslösung revolutionärer Stürme führen muss, das Proletariat von seiner unerbittlichen Feindschaft gegen den Militarismus und die Kriegspolitik abbringen kann, ebenso wenig kann es, weil schließlich die Expansionspolitik des Kapitals die mächtigste Förderin seines schließlichen Sieges ist, diese Politik unterstützen. Umgekehrt kann vielmehr der Sieg nur aus dem beständigen Kampf gegen diese Politik hervorgehen, weil nur dann das Proletariat der Erbe des Zusammenbruches werden kann, zu dem diese Politik führen muss, wobei es sich aber um einen politischen und sozialen, nicht um einen ökonomischen Zusammenbruch handelt, der überhaupt keine rationelle Vorstellung ist. Schutzzoll und Kartelle bedeuten Verteuerung der Lebenshaltung, die Unternehmerorganisationen stärken die Widerstandskraft des Kapitals gegen den Ansturm der Gewerkschaften; die Rüstungs- und Kolonialpolitik steigert immer rascher die Steuerlast, die das Proletariat aufzubringen hat; das notwendige Ergebnis dieser Politik, der gewaltsame Zusammenstoß der kapitalistischen Staaten, bedeutet eine ungeheure akute Steigerung des Elends; aber all diese die Volksmassen revolutionierenden Kräfte können nur dann in den Dienst einer Neugestaltung der Wirtschaft gestellt werden, wenn die Klasse, die die Schöpferin der neuen Gesellschaft werden muss, in ihrem Bewusstsein diese ganze Politik und ihre notwendigen Ergebnisse antizipiert. Dies kann aber nur geschehen, wenn die notwendigen Folgen dieser Politik gegen die Interessen der Volksmassen den Massen fort und fort klargemacht werden, was wieder nur erfolgen kann in der beständigen, rücksichtslosen Bekämpfung der imperialistischen Politik.“

Wir haben diesen Worten nichts hinzuzusetzen. Sie räumen mit den Anschauungen des Genossen Ledebour wie des Genossen David in gleicher Weise gründlich auf und weisen uns den Weg, den wir in den kommenden Stürmen zu gehen haben.

1 „Praktische Wahlagitation”, Leitartikel in „Die Neue Zeit”, Nr. 28, 14. April 1911, 29. Jahrgang 1910/11, 2. Band, S. 33-36, hier S. 36, gezeichnet K., Hervorhebungen nach der „Bremer Bürger-Zeitung”.

2 Karl Marx, Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation, in Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 16, Berlin 1962, S. 5-13, hier S. 11: „Die Zehnstundenbill war daher nicht bloß eine große praktische Errungenschaft, sie war der Sieg eines Prinzips. Zum ersten Mal erlag die politische Ökonomie der Mittelklasse in hellem Tageslicht vor der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse.”

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