Georg Ledebour 19110407 Sozialdemokratie und Rüstungsbeschränkung

Georg Ledebour: Sozialdemokratie und Rüstungsbeschränkung

[„Leipziger Volkszeitung“, Nr. 81, 7. April 1911, 3. Beilage und Nr. 83, 10. April, S. 3f.]

[Redaktion der „Leipziger Volkszeitung“: „Unter dieser Überschrift schreibt Genosse Ledebour im Vorwärts:“]

Der Antrag der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion auf Einleitung von Verhandlungen zur Einschränkung der Rüstungen und zur Abschaffung des Seebeuterechts ist in der „Leipziger Volkszeitung“ und der „Bremer Bürgerzeitung“ sehr abfällig kritisiert worden.

Kritik zu üben, nicht nur an den Gegnern sondern auch an den eigenen Parteigenossen und deren Betätigung, ist ein gutes Recht, es ist unter Umständen sogar eine dringende Pflicht der Parteipresse. Auch der Reichstagsfraktion kann es nur ersprießlich sein, wenn diese Kritik regelmäßig, natürlich mit der gebotenen Sorgfalt und Sachlichkeit, geübt wird. Ich stehe gar nicht an, zu erklären, dass es vielleicht ganz gut gewesen wäre, wenn solche Kritik häufiger geübt würde. Deshalb billige ich es auch durchaus nicht, dass andere Parteiblätter das schwere Geschütz moralischer Entrüstung gegen die Kritik jener beiden Zeitungen aufgefahren und den Kritikern üble Motive untergeschoben haben. Form und Ton ihrer Kritik, so abfällig sie ausgefallen ist, scheint mir nicht über das unter Parteigenossen übliche Maß hinauszugehen. Nur der Zeitpunkt, an dem unsere Kritiker in ihrem Eifer losgeschlagen haben, scheint mir nicht glücklich gewählt. Nachdem die Einbringung jenes Antrags angekündigt war und noch ehe die Verhandlungen im Reichstag abgeschlossen waren, zu erklären, die Fraktion befinde sich „auf dem Holzwege“, ist nicht zweckdienlich. Gerät ein Nebenmann und Freund in einen Kampf, so soll man ihn, wenn er nicht Kampf nicht mehr abbrechen kann, nicht an den Rockschößen zurückziehen und in eine Abwehraktion nach der Seite zu verwickeln suchen. Damit nützt man nur dem gemeinsamen Gegner. Es hätte genügt, wenn unsere Kritiker mit ihren Vorhaltungen gewartet hätten, bis der doch immerhin nur kurze Kampf völlig abgeschlossen gewesen wäre. Dann wäre Zeit genug zur kritischen Erörterung des Vorgangs gewesen, um, sollte er sich als ein Missgriff erweisen, seine Wiederholung zu verhüten.

Die „Leipziger Volkszeitung“ und der „Bremer Bürgerzeitung“ begegnen sich in der Auffassung, das der sozialdemokratische Antrag auf Herbeiführung von Rüstungsbeschränkungen sich nicht mit der ungetrübten sozialistischen Auffassung vom Wesen des Kapitalismus, Militarismus und Imperialismus vertrage, da der Kapitalismus mitsamt jenen anderen beiden ihm entstammenden und unlösbar anhaftenden -ismen die Tendenz zum ständigen Anwachsen bis zu seinem endgültigen Zusammenbruch habe. Eine Rüstungseinschränkung sei deshalb für die im Banne dieser drei -ismen lebenden kapitalistischen Staatsgebilde unmöglich: eine solche Unmöglichkeit zu fordern, sei deshalb verkehrt für eine sozialdemokratische Partei, sei ein Rückfall in eine kleinbürgerliche Utopie. Die „Leipziger Volkszeitung“ drückt das in einem Artikel Praktische Politik vom 31. März so aus, dass sie zunächst ganz zutreffend darlegt, die Stärke einer sozialdemokratischen Fraktion liege in ihrer unerbittlichen sozialistischen Kritik am Kapitalismus, in zweiter Reihe könne sie mit solchen positiven Anträgen operieren, deren Erfüllung den kapitalistischen Parteien bei gutem Willen möglich sei.

Dann fährt das Blatt fort:

In eine schiefe Position begibt sich jedoch eine sozialdemokratische Fraktion, wenn sie von der bestehenden Gesellschaftsordnung des Kapitalismus in der Form parlamentarischer Anträge Dinge verlangt, die innerhalb dieser Gesellschaftsordnung schlechterdings nicht durchführbar sind. Sozialdemokratische Parlamentarier werden beispielsweise das heutige Lohnsystem mit höchstem Recht als die Form der kapitalistischen Ausbeutung des Menschen durch den Menschen kennzeichnen können. Niemals aber werden sie den Antrag stellen können, den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, das Lohnsystem abzuschaffen. Ein solcher Antrag wäre unter den bestehenden Verhältnissen eine Utopie und ist selbstredend ne gestellt worden. Aber auf derselben Höhe scheint uns der Antrag zu stehen, den gestern Genosse Scheidemann begründete: den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, sofort Schritte zu tun, um eine internationale Verständigung über die allgemeine Einschränkung der Rüstungen herbeizuführen.

Gewiss: man kann sagen: Einschränkung der Rüstungen ist noch nicht Abrüstung. Nur das letzte ist eine rein sozialistische Forderung, während die erste auch unter kapitalistischen Verhältnissen denkbar wäre. Denkbar! Je nun! In einer imaginär-kapitalistischen Welt vielleicht, in der konkret-kapitalistischen Welt jedoch sicherlich nicht. Herr Bethmann-Hollweg hat alle die Gründe angeführt, die einem kapitalistischen Wortführer den sozialdemokratischen Antrag unmöglich machen, und eigentlich hätte unser Redner die rede halten müssen, die der Reichskanzler hielt. Der Sozialdemokrat hätte nachweisen müssen, dass der Kapitalismus auf den Weltkrieg hinarbeitet, dass er ohne beständige Ausdehnung der Rüstungen nicht auskommen könne, dass infolgedessen für ihn weder ein Stillstand noch eine Einschränkung der Rüstungen in Frage komme. Und gerade darin besteht die Gemeingefährlichkeit des Kapitalismus, gerade deshalb dürften die unterdrückten Klassen nicht ruhen, bis der Kapitalismus an seinen eignen Widersprüchen und seiner Menschen mordenden Gemeingefährlichkeit zugrunde gegangen ist.“

Die „Bremer Bürger-Zeitung“ ferner preist am 1. April in dem Artikel Auf dem Holzwege gleichfalls den Reichskanzler, weil er seine Behauptung, dass die Einschränkung der Rüstungen undurchführbar sei, mit Gründen gestützt hätte, „die Hand und Fuß haben“. Weiter sagt dann dieses Blatt:

Die Reichstagsfraktion forderte von der Regierung, sie solle sofort Schritte tun, um eine internationale Verständigung über die allgemeine Einschränkung der Rüstungen in Verbindung mit der Abschaffung des herbeizuführen. Wie wir es hier vor dem Magdeburger Parteitag in einer Kritik des Kopenhagener Beschlusses und der Haltung des Genossen Ledebour schon ausführlich bewiesen haben, bildet die Grundlage dieser Forderung eine illusionäre Auffassung des Kapitalismus, des Militarismus und des Wesens der auswärtigen Politik. Der Kapitalismus, weil er genötigt ist, um die Austragung der kapitalistischen Gegensätze, die mit jedem Jahre einen kleineren Raum für die kapitalistische Entwicklung freilassen, zu verschieben und neue Märkte zu erobern, was ohne Militär- und Marinerüstungen unmöglich ist. Des Militarismus, weil dieser eine internationale Erscheinung die Tendenz zum fortdauernden Wachstum besitzt, die sich durch keine parlamentarischen Beschlüsse dauernd zurückdrängen lässt, wie sich durch sie die kapitalistische Entwicklung auch nicht dauernd zurückhalten lässt. Sie beruhen schließlich auf der Verkennung der Eigenart der kapitalistischen auswärtigen Politik, dank welcher jedes Bündnis einiger kapitalistischer Staaten sich gegen andere richten muss, dank welcher bei der Mannhaftigkeit und steten Entwicklung, steter Verschiebung der Mächteverhältnisse, die allgemeine Regulierung und Fixierung ihrer Beziehungen undurchführbar ist. Ohne eine solche Regulierung und Fixierung wäre eine Einschränkung der Rüstungen unmöglich, selbst wenn sie nicht schon aus den oben angeführten Gründen unmöglich wäre. Wer solche Forderungen aufstellt, wie es die Reichstagsfraktion tut, der muss alle diese entscheidenden Tatsachen den Massen des arbeitenden Volkes verhüllen, der muss ihnen die Wahrheit über die Natur des Kapitalismus vorenthalten, der führt also die Massen irre, statt sie aufzuklären.“

Es handelt sich also in der Hauptsache um die Frage: Ist für ein kapitalistisches Staatswesen, ist für das Deutsche Reich insbesondere eine Einschränkung der Rüstungen möglich oder nicht? Die beiden genannten Parteiblätter, die L[eipziger] V[olks]Z[eitung] und die B[remer] B[ürger-]Z[eitung] verneinen die Frage im Einklang mit dem Reichskanzler v. Bethmann-Hollweg. Die Reichstagsfraktion bejahte sie, wie jene Blätter ganz richtig annehmen. Ich darf wohl hinzufügen, dass die Fraktion sich dabei im Einklang mit der deutschen Delegation auf dem internationalen Sozialistenkongress in Kopenhagen und mit der überwältigenden Mehrheit dieses Kongresses überhaupt [befand], denn eine Opposition gegen diese Auffassung tat nur zutage bei einem polnischen und einem holländischen Mitglied der vorbereitenden Kommission.

Unsere Freunde in Leipzig und Bremen sind nun, wie aus ihren Ausführungen hervorgeht, zu ihrem irrigen Schlusse nur gekommen, weil sie sich blenden ließen durch die zweifellos gewaltigen Kräfte und Strömungen innerhalb des Kapitalismus, die auf eine gewaltsame staatliche Raubritterpolitik und damit auf die stetige Rüstungssteigerung hin drängen Sie fassten dabei aber nicht ins Auge und würdigten nicht genügend die innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft sich gleichfalls stetig entwickelnden Gegenkräfte und Gegenströmungen, die für den Frieden und damit für die Rüstungsbeschränkung wirken. Das erscheint mir aber doch als ein arger Denkfehler, als eine Verkennung des dialektischen Entwicklungsganges des Kapitalismus, die bei so wohl geschulten Marxisten, wie sie in Leipzig und Bremen hausen, besonders auffällig ist.

Dem Kapitalismus immanent ist das Bestreben, die staatlichen Machtmittel auszunutzen zur Beraubung fremder Völker, zur Unterjochung fremder Ländern, um sie im Interesse der heimischen Kapitalisten besser ausbeuten zu können. Träger dieses Triebes sind die Interessenten aller Art, die von einer solchen Gewaltpolitik Vorteil ziehen können: in erster Linie die Lieferanten von Kriegsmaterial, seien es Industrie- oder Handelskapitalisten wie die Krupp und Armstrong einerseits, die Tippelskirch & Co andererseits; dann das Finanzkapital, soweit es in der neuerlichen imperialistischen Periode in Kolonien und kapitalistisch unentwickelten Fremdländern durch die staatlichen Machtmittel sich Anlage- und Ausbeutungsmonopole zu schaffen sucht; schließlich natürlich die Ehrsüchtigen, die Kriegsknechte und Kolonialabenteurer sowie die Scharen der Patrioten, die durch die imperialistischen Ideologen beeinflusst und begeistert werden.

Das sind in ihrem Zusammenwirken mächtige Kräfte zur Durchsetzung der kriegerischen Tendenzen des Kapitalismus.

Aber der Kapitalismus erzeugt in seinem Schoße Gegenkräfte und Gegenströmungen, die an Kraft stetig zunehmen mit dem Wachstum des Kapitalismus selbst. Wie kann man sie völlig außer Acht lassen, will man die Frage der Einschränkungsmöglichkeit der Kriegsgefahr und der Kriegsrüstungen erörtern!

Da sind zunächst die Totengräber des Kapitalismus, die Proletarier, die an Zahl und Organisationsfähigkeit, an Klassenbewusstsein, an Kampfeslust und dadurch an tatsächlicher, Einfluss ausübender Macht stetig wachsen mit dem Wachstum des Kapitalismus selbst. Diese Tatsache an sich wird sicher von keinem Sozialdemokraten bestritten werden, auch nicht, dass die klassenbewussten Proletarier kriegsfeindlich sind. Aber unsere Freunde in Leipzig und Bremen scheinen anzunehmen, dass das Proletariat zwar seine Macht zur völligen Abschaffung der Kriegsrüstungen geltend machen kann, sobald es die Oberhand gewonnen hat und die kapitalistischen Einrichtungen überhaupt beseitigen kann, nicht aber die Macht hat, auf Einschränkung der Rüstungen hinzuwirken, so lange es noch eine Minorität bildet im Staat. In dieser Beziehung denkt selbst ein kapitalistischer Minister in England, Sir Edward Grey, marxistischer. Das tritt in seiner Warnung zutage, dass das Übermaß der Rüstungssteigerung mit seinem Übermaß des Steuerdrucks, besonders wenn dessen bedrohliche Wirkung gesteigert wird durch den unglücklichen Ausgang eines Krieges, die Gefahr einer Revolution, also doch wohl nach Greys Auffassung die gewaltsame und siegreiche Erhebung des Proletariats gegen die kapitalistische Unterdrückung heraufbeschwört. Grey war keineswegs der erste bürgerliche Politiker, der diese Behauptung ausgesprochen hat, aber noch keiner hat es getan in seiner verantwortlichen Stellung.

Man kann die Realität dieser Befürchtung auch nicht aus der Welt schaffen durch den Einwand: O dieser Heuchler! Rüstet er nicht selbst weiter?

Grey glaubt doch, wenn auch unserer Meinung nach irrigerweise, England dürfe allein nicht den Anfang machen mit Rüstungsbeschränkungen. Deshalb wünscht er ja gerade eine gleichzeitige Einschränkung der Rüstungen auf Grund eines Abkommens. Um das zu erzielen, bringt er jenes Argument vor, das an sich zweifellos richtig ist, das weiterhin einwirkt auf die Kapitalisten, denen sowieso schon die Furcht vor dem Sozialismus in den Knochen sitzt. Also ist die Sozialdemokratie an sich schon heutigen Tages ein Machtfaktor, der gegen die Kriegsgefahr auf die Einschränkungen der Rüstungen einen merklichen Einfluss ausübt.

Wir haben gesehen, dass das klassenbewusste Proletariat ein Machtfaktor ist, der an sich lähmend einwirkt auf die kapitalistische Kriegslüsternheit und Rüstungswut. Aber es gibt auch sogar kapitalistische Faktoren, die in gleicher Richtung wirken. Friedlich gerichtet ist vor allem dasjenige Industriekapital, das den Inlandsmarkt, aber auch den Auslandsmarkt mit Gebrauchsartikeln versorgt, sowie das Hand in Hand mit ihm über die ganze Welt hin arbeitende Handelskapital. Wie völlig unserer Kritiker in der „Bremer Bürger-Zeitung“ diese Tendenzen verkennt, geht aus einer Bemerkung hervor, der Kapitalismus sei genötigt, „neue Märkte zu erobern, was ohne Militär- und Marinerüstungen unmöglich ist“.

Mit diesen Worten macht er sich ein Argument zu eigen, das nicht marxistisch, nicht sozialistisch ist, über das selbst aufgeklärte bürgerliche Nationaleinkommen die Achseln zucken und das nur noch in den plumpsten Sudelschriften der Flottentreiber sein Unwesen treibt. Denn mit Waffengewalt schlagen wir die kapitalistische Konkurrenz anderer Staaten auf dem Weltmarkt nicht aus dem Felde. Den Absatz unserer Waren erzwingen wir auch in unerschlossenen Ländern nicht mit der gepanzerten Faust. Wir haben ja ein klassisches Beispiel dafür an unserem Kolonialkleinod Kiautschou. Für dessen Okkupation und für Hafenbauten haben wir etwa 150 Millionen Mark bisher ausgegeben und verpulvern noch jetzt etwa 8-9 Millionen Mark jährlich. Unser Handel mit Kiautschou beträgt aber in der Einfuhr dorthin (Eisenbahnmaterial inbegriffen) jährlich 3½ Millionen Mark, wie die Ausfuhr von dort nur den kläglichen Wert von 100.000 bis 200.000 Mark. Der Handel, der sich dort entwickelt hat, ist Handel anderer Völker, der Japaner, der Chinesen, der Amerikaner und Engländer. Die schwertbewehrte Panzerfaust unter der schwarz-weiß-roten Flagge hat uns also dort kein Absatzgebiet geschaffen, wie sie das nirgends in der Welt vermag. Nicht Wehr und Waffen, sondern die Leistungsfähigkeit unserer Industrie und Tüchtigkeit unseres Handels schaffen und sichern uns Absatzgebiete in fremden Ländern.

Soll aber mit dem zitierten Satz nur gesagt werden, die Großmächte bedürften der Land- und Seerüstungen, um die bisher unabhängigen halb barbarischen Staaten zur Öffnung ihrer Märkte für den Welthandel zu zwingen, so wird damit das fragliche Argument aus dem Rahmen einer Auseinandersetzung über Rüstungsbeschränkung ausgeschaltet, denn zu jener Politik — gegenüber Halbbarbaren —, deren Notwendigkeit ich übrigens nicht minder bestreite, bedarf keine Großmacht der gegenwärtigen ungeheuren Rüstungen. Bei der Frage gegenseitiger Rüstungsbeschränkung handelt es sich vielmehr ausschließlich um das jetzt bis zum Weißbluten getriebene Wettrüsten der Mächte untereinander.

Wie sehr dieses Wettrüsten aber auf alle Staaten, auf alle Völker drückt, dafür hat der „Vorwärts“ ja erst am 5. April nach der Schrift des Professors Kobatsch über „volks- und staatswirtschaftliche Bilanz der Rüstungen“ interessantes Beweismaterial beigebracht, wie ich mich gleichzeitig auf den Engländer Norman Angell beziehe, der in seinem Buch „Die große Täuschung“ mit anderem Argumenten der Rüstungsfanatiker aufräumt.

Im Zusammenhang damit kann ich auch auf das verweisen, was ich in meiner Rede im Reichstage zur dritten Lesung des Etats am 3. April über die unvermeidlichen Wirkungen der stetig zunehmenden amerikanischen Konkurrenz auf Europa gesagt habe, dass sie nämlich auf den wirtschaftlichen Zusammenschluss Europas und damit auf die Verminderung der produktionslähmenden Rüstungen hingearbeitet.

Kurz, es sind so viele und so starke kriegsgegnerische Tendenzen im Schoße der kapitalistischen Gesellschaftsordnung selbst am Werke, dass der Kapitalismus als restlos kriegerisch in seinem Gesamtwirken nicht mehr angesprochen werden kann. Kriegerische und friedliche Tendenzen wirken auf- und gegeneinander. Es ist mindestens zweifelhaft, ob die Resultante dieses Parallelogramms der Kräfte mehr dem Weltkrieg oder mehr dem Weltfrieden zustrebt.

Bliebe noch die Frage zu erörtern, ob dann, wenn die Notwendigkeit der Rüstungsbeschränkungen sich allgemein Anerkennung verschafft hat, sie auch durchführbar sein würden.

Auch da kann ich mich kurz fassen, ohne mich mit dem oft zitierten Satz zu begnügen: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg! Von verschiedenen Seiten, so vom Genossen Bebel in seiner jüngsten Hamburger Rede, wie später von mir im Reichstag ist auf das einfachste Auskunftsmittel verwiesen, mit dem man die Rüstungsbeschränkung einleiten kann: eine Abmachung der Mächte dahin, dass sie über das Maß ihrer gegenwärtigen jährlichen Geldausgaben für Rüstungszwecke zu Wasser und zu Lande keineswegs hinausgehen werden. Nur wer aus irgendwelchen Gründen sich auf Rüstungsbeschränkungen überhaupt nicht einlassen will, wird die Durchführbarkeit eines solchen Abkommens bestreiten können. Käme es aber dazu, dann würde die bösartigste, gerade dem Wettrüsten entstammende Kriegsgefahr aus der Welt geschafft und nach einiger Zeit würde dann auch der weitere Gedanke der Einschränkung der Rüstungen sich Bahn brechen.

Soweit also, was die tatsächlichen Vorbedingungen für die Möglichkeit der Rüstungsbeschränkungen innerhalb des Kapitalismus und ihre Durchführbarkeit anbetrifft.

Wie ist die sozialdemokratische Reichstagsfraktion nun aber dazu gekommen, ihrerseits die Initiative zu solchen internationalen Abmachungen zu ergreifen? Etwa bloß auf Grund ähnlicher Erwägungen, wie sie im vorstehenden angedeutet wurden? Nein! Sie erhielt dazu, wie das eigentlich bei jeder parlamentarischen Aktion der Fall sein sollte, den ersten Anstoß durch ein politisches Ereignis, aus dem klar hervorging, dass die Frage der Rüstungsbeschränkung aus dem Gebiete theoretischer Erwägungen in den Bereich positiven parlamentarischen Eingreifens hinüber getreten war.

Im März 1909 beklagte sich der englische Premierminister Asquith darüber, das die Bemühungen der englischen Regierung, mit der deutschen Fühlung zu nehmen wegen der Einleitung von Rüstungsbeschränkungen, an der ablehnenden Haltung der Reichsregierung gescheitert seien. In der Budgetkommission verlangten wir Auskunft, erhielten aber ausweichende Antworten. Der psychologische Moment für einen Antrag im Plenum des Hauses war damit gekommen. Bülow erteilte eine ähnliche Antwort wie dieses Jahr Bethmann, nur war sie anmutiger geschminkt und frisiert. Die bürgerlichen Parteien ließen uns völlig im Stich. Aber die Frage der Rüstungsbeschränkungen war damit auf die Tagesordnung der praktischen Politik gesetzt. In England ging im selben Jahre die Labour Party in gleicher Weise vor. Der Ausgang der Debatte war ähnlich wie bei uns. Im Sommer 1910 machte auch der internationale Sozialistenkongress in Kopenhagen die von uns beantragte Forderung der Beschränkung der Rüstungen in Verbindung mit der Abschaffung des Seebeuterechts zum Bestandteil seiner Friedensresolution.

Im Frühjahr 1911 erklärten dann unter Mitwirkung der Sozialisten das englische und das französische Parlament ihre Bereitwilligkeit zu Abrüstungsverhandlungen. Damit war wieder der Anstoß für uns gegeben. Unser Antrag, der Reichskanzler solle die Initiative ergreifen, wurde zwar abgelehnt und ein rein platonischer Antrag der Fortschrittspartei mit knapper Mehrheit angenommen. Mag nun bei der Abstimmung der bürgerlichen Parteien in allen drei Parlamenten und bei einzelnen Bürgerlichen Politikern auch noch s viel Heuchler mitgewirkt haben, — so viel erhellt doch aus diesen Vorgängen: die Abrüstungsidee ist auf dem Marsch, nicht dank der reden irgendwelcher Minister oder Parlamentarier oder bürgerlicher Friedensschwärmer, sondern dank jener dem Kapitalismus immanenten, stetig an Einfluss zunehmenden Kräfte, die auf den Frieden hin drängen Die Rüstungsbeschränkung ist auf dem Marsch, wenn auch der Weltfrieden noch keineswegs gesichert und die Gefahr eines Weltkriegs kaum gemildert ist.

Und was in aller Welt sollte nun uns Sozialdemokraten abhalten, in diese Entwicklung fördernd und richtunggebend einzugreifen? Jenes ganz unmarxistische Schema von der angeblich unüberwindlichen Kriegstendenz des Kapitalismus doch nicht, deren unbedingte Gültigkeit ich hinlänglich widerlegt zu haben glaube?

Doch unser Kritiker in der „Leipziger Volkszeitung“ und der „Bremer Bürger-Zeitung“ haben gleichzeitig dennoch ein Argument eingeschaltet, das in der „Leipziger Volkszeitung“ vom 16. März so ausgedrückt wird:

Angenommen, die großen kapitalistischen Länder würden die Welt in Ausbeutungszonen verteilen, damit sie nicht gegeneinander mehr zu rüsten brauchten, so würden die Rüstungen deshalb nicht aufhören. „Sie würden sich nur gegen die Länder der jungen kapitalistischen Entwicklung richten. Welchen Unterschied es aber ausmacht, ob Deutschland und England gegen einander oder gegen China und Persien rüsten, das können wir vom proletarischen Standpunkt aus nicht herausfinden. Auf jeden Fall haben wir nicht die kleinste Ursache, den englisch-liberalen Ruf nach einer deutsch-englischen Verständigung zur Losung des deutschen Proletariats zu machen, ebenso wenig wie wir zur Aufhebung der kapitalistischen Konkurrenz die Trusts dem Proletariat empfehlen.“

Diese Gleichstellung einer Verständigung der kapitalistischen Länder unter einander zum Zweck der gegenseitigen Rüstungseinschränkung mit der Vertrustung einer Industrie zum Zweck der Konsumentenausbeutung ist so schief wie irgend möglich. Unter allen Umständen würde doch die Rüstungsbeschränkung den Volksmassen der koalierten Mächte eine enorme Erleichterung verschaffen, während die Vertrustung einer Industrie die Volksmassen erhöhter Belastung und stärkerer Ausbeutung aussetzt. Dann ist aber auch das nicht einmal richtig, dass eine solche Mächteverständigung notwendiger Weise die Einteilung der übrigen Welt in Ausbeutungszonen bedingen würde. Die nämlichen wirtschaftlichen Kräfte und politischen Organisationen, die die Mächteverständigung erzwingen können, würden auch stark genug sein, um jene Zuschneidung fremder Länder in monopolistische Ausbeutungspferche zu verhindern. Ist doch jetzt schon eine solche monopolistische Handelspolitik im Abflauen begriffen. In China, wo Bülow mit seinem Platz an der Sonne sie in die Wege leiten wollte, ist sie glücklicher Weise kläglich gescheitert. Sie wird langsam aber sicher verdrängt durch die Politik der offenen Tür. Es sind überall Entwicklungstendenzen am Werk, die dem Gemeinsamkeitsgedanken Raum verschaffen und der sozialistischen Weltwirtschaft vorarbeiten. Also auch mit dem Trust-Gespenst ist es nichts.

Doch unsere Kritiker verlassen sich nicht nur auf ihre eigene Denkarbeit. Sie führen auch eine Autorität für sich ins Gefecht, einen Philosophen und Staatsmann zugleich, den deutschen Reichskanzler Herrn Theobald v. Bethmann-Hollweg.

Ich muss gestehen: es hat mir die peinlichste Überraschung bereitet, als ich in ernsthaften sozialistischen Blättern zu lesen bekam, die banausische Raubtierphilosophie des preußischen Oberbürokraten sei eigentlich eine feine Blüte marxistischer Denkweise.

Über Bethmann-Hollweg selbst habe ich mich im Reichstage hinreichend ausgesprochen. Man wird hoffentlich von mit nicht erwarten, dass ich hier noch ein Wort der Polemik gegen solches Zeug verschwende.

Also die ganze Voraussetzung, von der unsere Kritiker ausgegangen sind bei ihren Angriffen auf die Reichstagsfraktion, ist falsch. Unsere Aktion war berechtigt, denn unsere Forderung ist erfüllbar sogar in der kapitalistischen Gesellschaft. Dass sie sofort zur Ausführung gelangen würde, hat niemand von uns behauptet, dass Herr v. Bethmann-Hollweg gar sie in die Hand nehmen würde, hat niemand gehofft. Die Forderung aufzustellen, wirkt aber an sich im Sinne der Friedenssicherung, wenn auch immer noch und vielleicht auf längere Zeit die kriegerischen Tendenzen des Kapitalismus die Oberhand behalten werden und zur Entzündung eines Weltkriegs führen können.

Der wichtigste Erfolg auch bei dieser Aktion ist aber ihre agitatorische Wirkung. Indem die Sozialdemokratie in den Vordergrund der Bewegung für den Frieden und gegen das volksverderbliche Wettrüsten tritt, gewinnt unser Kampf gegen den Kapitalismus neue Stärke, denn um so leichter wird in den Volksmassen die Überzeugung Fuß fassen, dass erst durch Überwindung des Kapitalismus und durch den Sieg des Sozialismus alle Kriegsgefahr beseitigt sein wird.

Nur noch eins: die Gedankengänge der kritischen Ausführungen in der „Leipziger Volkszeitung“ und der „Bremer Bürger-Zeitung“ sind fast genau die nämlichen, auch in ihren absurdesten Auswüchsen. Ich gehe deshalb wohl nicht fehl in der Annahme, dass sie gleichen Ursprungs sind. Sie entsprechen den Argumenten eines einzelnen Genossen, die bereits auf dem Kopenhagener Kongress völlig abfielen, die aber trotzdem in einzelnen deutschen Parteiblättern ihre Wiederauferstehung feierten. Den Kritiker, der in der „Bremer Bürger-Zeitung“ die Parteigenossen erleuchtet, scheint jetzt die völlige Wirkungslosigkeit seiner früheren Ergüsse bis zur Besinnungslosigkeit erbittert zu haben. Sonst wäre es nicht erklärlich, dass er sich zu dem schweren Vorwurf gegen die Fraktion ersteigt, sie führe die Massen irre anstatt sie aufzuklären. Schade nur, dass die Überzeugung, die unser Kritiker in diesen Worten betätigt, im umgekehrten Verhältnis steht zu seinem Wissen und seinem Verständnis für das Wesen der Sozialdemokratie.

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