Willem van Ravesteijn 19110429 Noch einmal: Zur Abrüstungsfrage

Willem van Ravesteijn: Noch einmal: Zur Abrüstungsfrage

[„Leipziger Volkszeitung“, Nr. 98, 29. April 1911, 9. Beilage]

Die zur Zeit in der deutschen sozialdemokratischen Presse wieder aktuell gewordene Frage der Rüstungsbeschränkungen ist eine so überaus wichtige, nicht bloß für die deutsche, sondern auch für die internationale Sozialdemokratie, ja für die ganze internationale Arbeiterklasse, dass es die Mühe lohnt, noch einiges dazu zu bemerken, auch nach den Artikeln, die die „Leipziger Volkszeitung“ der Frage bereits gewidmet hat.

Um so notwendiger scheint es, die Diskussion auf eine möglichst breite Basis zu stellen, weil die Stellungnahme zur Abrüstungsfrage auf die Dauer unvermeidlich die weitgehendsten Folgen haben wird für die Richtungen bzw. die inneren Verhältnisse der Internationale.

Zuerst möchten wir noch einmal feststellen, dass über die Frage auf dem letzten internationalen Kongress zu Kopenhagen eine Diskussion nicht stattgefunden hat. In der sogenannten Kriegskommission konnte ein Genosse der polnischen Sozialdemokratie die Frage anschneiden, mehr nicht. Er wurde, nachdem er etwa eine Viertelstunde gesprochen [hatte], durch den Vorsitzenden, den bekannten reformistischen holländischen Kolonialschwärmer und Idealisten van Kol unterbrochen; ein Schlussantrag wurde gefasst und über die Frage, die jetzt zur Diskussion steht, ob nämlich die Arbeiterklasse im heutigen kapitalistischen Entwicklungsstadium die Forderung der internationalen Abrüstung und der Verständigung der Großmächte zu diesem Zweck aufstellen kann, d.h. ob sie damit eine propagandistisch wertvolle und zweckmäßige, die Massen nicht irreführende Forderung aufstellt, fand eine Diskussion nicht statt. Diskutiert wurde bloß — soweit eine Diskussion überhaupt möglich ist unter den eigenartigen Verhältnissen, die die internationalen Kongresse allmählich aufbieten — über die Frage, die von englischen und französischen Deputierten aufgestellt wurde, ob nämlich bestimmte Mittel aufgezählt werden sollten, die die Arbeiterschaft bestimmter Länder im Falle eines drohenden Krieges anwenden solle: das sogenannte Amendement Keir Hardie-Vaillant.

Es war nötig, dies noch einmal hervorzuheben, besonders weil Genosse Ledebour sich speziell auf die Kopenhagener Kongress berufen hatte.

Wir dürfen wohl annehmen, dass die ganze Reichstagsfraktion auf dem Standpunkt des Genossen Ledebour steht, und darunter befinden sich Genossen, deren Marxismus wohl niemand bezweifeln wird. Mehr noch, auch der anerkannt wichtigste Theoretiker des Marxismus, Genosse Kautsky, hat sich mit dem Antrag der Reichstagsfraktion einverstanden erklärt.

Es folgt daraus direkt folgendes: Wir müssen bei dieser Frage versuchen, den Unterschied zwischen der Frage, ob der Antrag der Reichstagsfraktion zweckmäßig, d.h. propagandistisch nützlich ist, und der anderen Frage, ob eine Beschränkung der Rüstungen in der nächsten Zukunft oder unter der Herrschaft des Kapitalismus überhaupt möglich ist, um Auge zu behalten. Ist es doch sehr gut möglich, dass man über die letzte Frage einer Meinung sein kann, dahingehend, dass, wie die „Leipziger Volkszeitung“ nachgewiesen hat, eine derartige Beschränkung unmöglich ist, während man die erste Frage verneinend oder bejahend beantworten kann. Macht man diesen Unterschied, so ist es auch möglich, auf dem Boden des Marxismus zu einer fruchtbaren Diskussion bzw. zu einem Resultat zu gelangen, indem man eine scharfe Trennung zieht zwischen den Marxisten und denjenigen, die da meinen, eine Abrüstung oder Beschränkung des Militarismus sei bei der heutigen Entwicklungshöhe des Kapitalismus eine Möglichkeit, d.h. den Revisionisten. Wir dürfen wohl annehmen, dass über die letztere Frage, die Möglichkeit der Rüstungsbeschränkung, zwischen den Marxisten keine Meinungsverschiedenheit besteht. Die Zitate, die die „Leipziger Volkszeitung“ dazu aus verschiedenen Schriften des Genossen Kautsky herangezogen hat, und die man nach Belieben vermehren könnte, sind in dieser Hinsicht wohl überzeugend. Aber wenn die bereits stattgefundene Diskussion eine nützliche Seite aufgewiesen hat, so ist es diese, dass die Reichstagsfraktion gezwungen worden ist, ihre Argumente für den Abrüstungsantrag näher zu formulieren, und dass die Schwäche, ja die Unhaltbarkeit dieser Argumentation dadurch so sehr ins Licht gestellt wurde. Die ganze Argumentation des Genossen Ledebour beruht darauf, dass den Kräften, die in der heutigen kapitalistischen Entwicklung zum Wettrüsten drängen, andere gegenüber stehen, die erstere aufzuheben imstande sein sollten. Dem Genossen Ledebour passiert dabei nur das Malheur, dass es unter den Kräften, die zur Abrüstung drängen, einige aufzählt, deren Bedeutung er gewaltig überschätzt, während er unter den Kräften, die das Rüsten fördern, mehrere nicht einmal aufzählt.

Die „Leipziger Volkszeitung“ hat bereits auf die Bedeutungslosigkeit des Handelskapitals als Friedensstifter hingewiesen. Sogar in einem so kleinen Lande wie Holland, wo es keine Panzerplattenpatrioten gibt, und wo das ältere Handelskapital, dessen Bedeutung in den modernen Großstaaten eine durchaus untergeordnete ist, ökonomisch noch eine beherrschende Stellung einnimmt, widersetzt sich dieses in keiner Hinsicht den zunehmenden Rüstungsausgaben. Und der Widerstand des Proletariats! Gerade in dem Weltreiche, wo Genosse Ledebour einen starken Abrüstungsdrang unter den bürgerlichen Politikern annimmt, ist die Macht des Proletariats so geringfügig, dass sie keine Bedeutung hat. Sind ja die englischen Arbeiterparteiler nichts als Mitläufer des bürgerlichen Radikalismus!

Aber die Unterschätzung der zu Rüstungen nötigenden Faktoren ist in den Artikeln des Genossen Ledebour nicht weniger erstaunlich. Zuerst fasst er nur drei Großstaaten ins Auge: Deutschland, Frankreich und England. Wären diese auf der Welt allein, so hätten sie gewiss alle Ursache, ihre Rüstungen zu beschränken und sich über den friedlichen Besitz ihrer überseeischen Besitzungen zu verständigen. Wir haben es aber doch nicht mit diesen drei Staaten allein zu tun, von denen zwei wenigstens ein parlamentarisches Regime besitzen. In Europa finden wir unter den Großmächten noch Russland und die Donaumonarchie, wie der Absolutismus noch immer unumschränkt herrscht — nachdem der Versuch, ein parlamentarisches Regime in Österreich einzuführen, misslungen ist. In Italien herrscht zwar das Parlament, aber das Proletariat ist relativ machtlos, und die bürgerliche Demokratie ist eine Hammelherde, die den Politikern der Monarchie gehorcht. Und weiter! Die Türkei ist militärisch kräftiger geworden seit der Revolution, während die Probleme der Zukunft des Osmanischen Reiches so wenig gelöst sind wie je. Die Folge ist, dass die Großmächte gezwungen sind, sich der Entwicklung des Osmanischen Reiches gegenüber noch stärker als zuvor zu rüsten, wohl niemand weiß, welche politischen Umstände sich in den kommenden Jahren im Nahen Orient vorbereiten und eine bedeutende Kräfteverschiebung in diesem Teil der Welt für mehrere Großmächte, z.B. Frankreich, das Britische Reich, die Donaumonarchie und Italien eine Lebensfrage bedeutet. Gehen wir weiter nach Osten, so sehen wir, dass zwei Großmächte sich da entwickeln, wo von Demokratie und Parlamentarismus noch keine Spur zu bemerken ist, dass die Verhältnisse an den Küsten des stillen Ozeans, diesen zukünftigen Mittelmeeres der Erde, einen neuen Weltkrieg zwischen den sie begrenzenden Weltmächten — Japan, China, Russland, Vereinigte Staaten von Amerika — mit absoluter Gewissheit vorbereiten. Eine weitere Ursache, die die europäischen Großmächte zwingt, weiter zu rüsten! Trotz dieser offenkundigen Tatsachen schreibt Ledebour folgenden Satz:

Dann ist aber auch das nicht einmal richtig, dass eine solche Mächteverständigung notwendiger Weise die Einteilung der übrigen Welt in Ausbeutungszonen bedingen würde. Die nämlichen wirtschaftlichen Kräfte und politischen Organisationen, die die Mächteverständigung erzwingen können, würden auch stark genug sein, um jene Zuschneidung fremder Länder in monopolistische Ausbeutungspferche zu verhindern. Ist doch jetzt schon eine solche monopolistische Handelspolitik im Abflauen begriffen. In China, wo Bülow mit seinem Platz an der Sonne sie in die Wege leiten wollte, ist sie glücklicher Weise kläglich gescheitert. Sie wird langsam aber sicher verdrängt durch die Politik der offenen Tür. Es sind überall Entwicklungstendenzen am Werk, die dem Gemeinsamkeitsgedanken Raum verschaffen und der sozialistischen Weltwirtschaft vorarbeiten.“

Also: weil die Politik der Aufteilung des Chinesischen Reichs in Einflusssphären der verschiedenen Großmächte Schiffbruch gelitten, und die Politik der offenen Tür angeblich an ihre Stelle getreten ist, soll die Rivalität zwischen den Großmächten im äußersten Osten abgeflammt sein und „dem Gemeinsamkeitsgedanken Raum verschafft“ sein! Da vergisst Genosse Ledebour völlig, dass Russland und Japan, um nur diese zwei Großmächte zu nennen, sich den Teufel um den „Gemeinsamkeitsgedanken“, d.h. doch wohl, um den Gedanken der gemeinsamen und „friedlichen“ Ausbeutung Chinas durch den europäischen und amerikanischen Kapitalismus kümmern, und dass die gewaltige Bewegung, die das Reich der Mitte ergriffen hat, dazu beitragen wird, dass es bei dieser „friedlichen Ausbeutung“ nicht lange „friedlich“ zugehen wird. Ledebour lässt außer Betracht, dass es so etwas wie einen chinesischen Nationalismus gibt, der jetzt erst im Werden begriffen, sich in er Zukunft zu riesenhaften Dimensionen entwickeln muss und dass dieser Nationalismus dann ebenso wenig die friedliche Ausbeutung Chinas durch das europäische Kapital wie die Besetzung chinesischen Bodens durch Fremdvölker (Russland, England, Frankreich, Deutschland) mit ansehen wird. Weiß Ledebour nicht, dass in diesem chinesischen Nationalismus, sowie im japanischen, dessen Kraft wir kennen, allein schon eine Welle künftiger Weltkriege liegt, die die Napoleonischen Kriege in den Schatten stellen dürften. Weiß er nicht, dass dasselbe auch für alle Völker gilt, deren Kultur und Nationalismus durch den Kapitalismus direkt oder indirekt befruchtet wird, und dass deren Erwachen die heutigen Besitzungen der europäischen Mächte bedrohen muss? Oder ist er wirklich der Meinung, dass die englische Bourgeoisie sich je auf friedlichem Wege Indiens berauben lassen sollte, um nur dieses eine Beispiel zu nennen? Will eine herrschende Klasse dies nicht — und keine will es — dann muss sie auch für den Besitz dieser Ausbeutungssphären weiter rüsten. Und sie tut dies mit desto mehr Vergnügen, weil ja die arbeitenden Klassen Europas und Amerikas die Kosten dieser Rüstungen zu tragen gezwungen sind. (Bloß das Britische Reich macht teilweise eine Ausnahme; die britische Bourgeoisie trägt einen Teil der Rüstungskosten selbst. Man weiß jedoch, dass ihr dies möglich ist durch die riesenhafte Ausbeutung fremder Länder und dass die englische Arbeiterklasse diese wirtschaftliche Erleichterung bezahlt durch ihre völlige politische Machtlosigkeit.) Es liegt schon in dem Besitz der überseeischen Besitzungen für die herrschenden Klassen die Notwendigkeit, ununterbrochen weiter zu rüsten, weil eben die Verhältnisse in diesen Besitzungen und in den nicht westeuropäischen Staaten sich fortwährend revolutionieren.

Wir meinen nun, dass es im heutigen Entwicklungsstadium des Kapitalismus propagandistisch nützlich ist, die parlamentarische Taktik diesen Verhältnissen anzupassen, d.h. keine Anträge zu stellen, die bei den indifferenten Massen und sogar unter sozialdemokratischen Arbeitern die Illusion erwecken könnten, als sei heute noch eine Abrüstung praktisch möglich. Denn wie die „Leipziger Volkszeitung“ bereits bemerkte: es ist keine gute Taktik im bürgerlichen Parlamente — und der deutsche Reichstag ist ja nicht einmal ein Parlament, d.h. eine herrschende Körperschaft — Anträge zu stellen, die im Kapitalismus nicht durchführbar sind. Die große Gefahr droht dabei, dass man sich in einer so überaus wichtigen Frage taktisch identifiziert mit den Reformisten und den bürgerlichen Radikalen, während umgekehrt in der internationalen Sozialdemokratie der Marxismus die Taktik bestimmen sollte.

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