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Friedrich Engels 18420610 Polemik gegen Leo

Friedrich Engels: [Polemik gegen Leo]

[„Rheinische Zeitung" Nr. 161 vom 10. Juni 1842. Nach Marx Engels Werke, Ergänzungsband Zweiter Teil, Berlin 1982, S. 263-266]

*x*Von der Hasenheide, im Mai. Was, dem erleuchteten Urteil der „Literarischen Zeitung" zufolge, die Hegelsche Philosophie nicht vermochte, nämlich ein auf ihren Prinzipien beruhendes System der Naturwissenschaften aufzubauen, das übernimmt jetzt von ihrem Standpunkte aus und mit großartigem Erfolge die „Evangelische Kirchen-Zeitung". Ein mit H. L. (Leo) unterzeichneter Aufsatz in ihren neuesten Nummern entwickelt, bei Gelegenheit einer Schrift des Prof. Leupoldt in Erlangen, das Programm einer totalen Revolution in der Medizin, deren Folgen bis jetzt unabsehbar sind.1 Wie immer, beginnt Leo auch hier, obwohl ohne sie zu nennen, mit den Hegelingen, spricht von der pantheistischen, heidnischen Richtung, die sich der neueren Naturforschung bemächtigt habe, von der „philosophischen Naturbetastelei und subtilen Systemströstelung", züchtigt die anatomistische Ansicht, welche den einzelnen Kranken kuriere, nicht gleich ganze Generationen und Völker, und kommt endlich zu dem Resultat:

dass die Krankheit der Sünde Lohn sei, dass nach der physischen Seite zusammengehörige Generationen solidarisch für ihre Sünde haften, selbst nach der geistigen Seite, wenn nicht der durch Gottes Gnade geschenkte Glaube die Strafenkette entzweibricht. So gut wie der einzelne nach der physischen Seite durch seine Bekehrung nicht von der Strafe der stattgehabten Sünde frei wird, z.B. wenn er infolge sündlicher Ausschweifungen seine Nase eingebüßt hat, sie durch die Bekehrung nicht wieder erhält, so gut werden nach der reinen Naturseite auch heute noch den Enkeln die Zähne stumpf von den Harlingen, welche die Großväter gegessen haben, und wo nicht ein fester Glaube ins Mittel tritt, hört nicht einmal die geistige Strafenreihe auf. Wie oft mag schon ein Mann, der in Üppigkeit und Sünden gelebt und dabei scheinbar glücklich geendet hat, dem Sohn, dem Enkel den Keim nervenzerrüttendster Krankhaftigkeit hinterlassen haben, der in diesen fort gewütet hat, bis in deprimiertestem Zustande der Unterleibsleiden der Urenkel, bei dem noch kein Wort der Gnade ein fruchtbares Erdreich gefunden, in der Verzweiflung zum Rasiermesser griff und an der eigenen Kehle die Strafe vollzog, die der Urheber seiner Leiden, sein Urgroßvater, verdient hätte."

Ohne diese Ansichten erschiene die Weltgeschichte als schreiendste Ungerechtigkeit. – Sodann äußert Leo weiter:

Der gläubig gewordene, nasenlose Sünder kann in seiner Verstümmelung nur ein Denkmal der göttlichen Gerechtigkeit sehen, und was dem Ungläubigen eine Strafe war, wird dem Gläubigen ein neues Fundament seines Glaubens."

Mit Völkern verhält es sich ebenso.

Geistige wie leibliche Zeitkrankheiten und Verstimmungen sind von einem gewissen Standpunkte aus noch heute so gut wie in den Tagen des Propheten göttliche Strafgerichte."

Dies sind die philosophischen – ich wollte sagen religiösen Prinzipien, auf denen Leo, der mit einem Ringseis zu fraternisieren würdig wäre, seine neue medizinische Praxis gründet, Was hilft all das kleinliche Herumkurieren am einzelnen Menschen, ja, am einzelnsten Gliede? Gleich familienweise, volksweise muss kuriert werden! Leidet der Großvater am Fieber, so muss die ganze Familie, Söhne, Töchter, Enkel mit Weib und Kind China schlucken! Hat der König die Lungenentzündung, so schicke jede Provinz einige Deputierte, denen zur Ader gelassen wird, wenn man nicht lieber gleich sämtlichen, soundso viel Millionen vorsichtshalber pro Kopf eine Unze Blut lassen will! Und welche Resultate für die Sanitätspolizei lassen sich hieraus entwickeln! Keiner darf zur Heirat zugelassen werden, der nicht ein Attest vom Arzte bringt, dass sowohl er selbst gesund sei, wie auch seine Vorfahren bis zum Urgroßvater von guter Konstitution gewesen seien, und ein Attest vom Pfarrer, dass er wie seine Vorfahren bis zum Urgroßvater sich eines christlichen, gottseligen und tugendhaften Wandels stets befleißigt haben, auf dass nicht, wie Leo sagt,

die Sünden der Väter heimgesucht werden an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied!"

Daher hat auch der Arzt

eine Stellung furchtbarster Verantwortlichkeit und grauenerregendster Bezüglichkeit, denn er kann ebenso wohl ein Bote Gottes an den einzelnen sein, der ihn bis auf einen möglichen Grad eximiert von der Mitleidenschaft für die Sünde, als ein Knecht des Teufels, der mit seiner Kraft der Strafe Gottes entgegenzutreten und sie unwirksam zu machen sucht".

Wieder Resultate für den Staat! Der vorgeschriebene philosophische Kursus der Mediziner muss abgeschafft und dafür ein theologischer eingeführt werden; der medizinische Examinand muss ein Zeugnis über seinen Glauben beibringen und die Praxis der jüdischen Mediziner, wenn man sie nicht etwa ganz abschaffen will, wenigstens auf ihre Glaubensgenossen beschränkt werden. Leo fährt fort:

Der Kranke, wie der Verbrecher, ist sacer2, die heilige Hand Gottes liegt auf ihm – wer heilen kann, der heile! Aber er scheue nicht den glühenden Stahl und das schneidende Eisen und den grimmigen Hunger, wo sie allein helfen können. Schwächliche Hülfe schadet in der Medizin wie im bürgerlichen Gemeinwesen."

Nur frisch drauflos geschnitten und gebrannt! Wo bisher die jämmerliche Trepanation angewandt wurde, helfen wir nun durch einfaches Abhacken des Kopfes; wo ein Fehler am Herzen sich zeigt – der gewöhnlich die Strafe für Liebessünden, die die Mutter des Kranken beging, zu sein pflegt – und das Blut sich zu sehr zum Herzen drängt, schaffen wir ihm einen Ausweg durch einen Messerstich ins Herz; wer am Magenkrebs leidet, dem schneiden wir den ganzen Magen aus – der alte Doktor Eisenbart, von dem das Volk singt, war wahrlich so übel nicht, seine Zeit hat ihn nur nicht verstanden. Ebenso, folgert Leo, sei es mit den Verbrechern, sie seien nicht allein strafbar, sondern das Volk hafte mit, und die Strafen seien nicht stark genug, die unsere schlappe Zeit anwende; es müsse mehr geköpft und gemartert werden, sonst bekomme man mehr Verbrecher, als Raum in den Arbeitshäusern sei. Ganz recht! Wo einer mordet, da muss seine ganze Familie ausgerottet werden, und jeder Einwohner seiner Vaterstadt wenigstens fünfundzwanzig Stockhiebe für seine Mitschuld an diesem Morde bekommen; wo ein Bruder der illegitimen Liebe pflegt, müssen alle seine Brüder mit k-werden. Und die Strafenverschärfung kann auch nur nützen. Seitdem das Kopf abhacken, wie wir oben gesehen haben, keine Strafe mehr, sondern nur eine medizinische Amputation ist, um den Körper zu retten, muss diese Todesart aus den Kriminalgesetzbüchern gestrichen werden, und an ihre Stelle Rädern, Vierteilen, Spießen, Verbrennen, mit glühenden Zangen zwicken usw. treten.

Auf diese Weise hat Leo der heidnisch gewordenen Medizin und Jurisprudenz eine christliche entgegengesetzt, die ohne Zweifel bald allgemein durchdringen wird. Wie er das Christentum in die Geschichte nach denselben Grundsätzen eingeführt und so z.B. die Hegelinge, die er für die Kinder der französischen Revolutionsmänner hält, für das zu Paris, Lyon und Nantes vergossene Blut, für die Taten Napoleons selbst verantwortlich macht, ist bekannt, und ich erwähne es hier nur, um die erfreuliche Allseitigkeit des rastlosen Mannes zu zeigen. Wie verlautet, haben wir nächstens eine deutsche Grammatik nach christlichen Prinzipien von ihm zu erwarten.

1 Heinrich Leo veröffentlichte am 4. und 7. Mai 1842 in der „Evangelischen Kirchen-Zeitung" eine Rezension des 1842 in Erlangen erschienenen Buches „Geschichte der Gesundheit und der Krankheiten" von Dr. Johann Michael Leupoldt.

2 heilig[, verflucht]