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Karl Kautsky 19061114 Der Ursprung der Moral

Karl Kautsky: Der Ursprung der Moral

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 25.1906-1907, 1. Band (1906-1907), Heft 7 (14. November 1906), S. 213-227, und Heft 8 (21. November 1906), S. 252-258]

1. Der unmoralische Wilde

Genosse Quessel hat nichts dagegen einzuwenden, im Affen seinen Stammvater anzuerkennen – aber seinen moralischen Erzieher in ihm zu sehen, dagegen sträubt sich sein ganzes moralisches Bewusstsein. Alles andere mag tierischen Ursprunges in uns sein, Vernunft, Gatten- und Kindesliebe, die zartesten Empfindungen, nur nicht die Sittlichkeit.

Leider fängt er seine Kritik meines entgegengesetzten Standpunktes damit an, dass er zwei Dinge zusammenwirft, die man streng auseinanderhalten muss, soll man in der Ethik zu fruchtbaren Resultaten kommen; einmal die sittlichen Normen und dann das allgemeine sittliche Empfinden. Das heißt, einmal die besonderen sittlichen Vorschriften, die in einer besonderen Gesellschaftsform gelten, und dann die allgemeine Tatsache des Pflichtgefühls, des Dranges oder Triebes, die eigene Person dem Wohle der Gesellschaft unterzuordnen und das zu tun, was diese erheischt, auch wenn das persönliche Wohlbefinden dadurch eingeschränkt oder geschädigt wird. Die Verwirrung vermehrt er noch dadurch, dass er das Sittengesetz einmal definiert als den „Inbegriff der sittlichen Normen, die uns sagen, was in einer gegebenen Gesellschaft als sittlich angesehen wird", dann wieder als den „kategorischen Imperativ", das heißt als die Grundlage, das Grundgesetz aller Sittlichkeit.

Dass die sittlichen Normen Produkte der gesellschaftlichen Entwicklung und als solche Eigentümlichkeiten der menschlichen Gesellschaft sind, darüber stimmen wir Marxisten mit den Kantianern ebenso überein wie mit dem Genossen Quessel, freilich ohne dass er es ahnt, denn er behauptet:

Die für die Grundlegung jeder Ethik entscheidende Frage ist die, ob die in uns lebendigen sittlichen Gefühle: Raub und Mord zu verabscheuen, Widerwille vor Blutschande und anderen Lastern zu haben, Wahrheit und Gerechtigkeit zu üben, den erhabenen Stimmen des Mitleids, der Menschlichkeit, der Scham, der Ehre zu folgen – ob alle diese Gefühle, die als Ganzes die Zivilisation der Seele bilden, ein Produkt der Tierwelt oder erhabene Errungenschaften der Kultur sind, deren Verlust die Menschheit wieder zu dem machen würde, was sie einst waren, zu Rudeln von wild umherschweifenden, ausgehungerten, scheuen Wilden."

Es ist mir selbstverständlich nie eingefallen, zu behaupten, dass diese „sittlichen Gefühle" Produkte der Tierwelt seien. Ich fasse das Geltungsgebiet mancher dieser „sittlichen Gefühle" nicht nur nicht weiter, sondern sogar viel enger auf als Genosse Quessel, denn sie sind zum Teil nicht einmal der ganzen Kulturmenschheit eigen, sondern sehr jungen Datums und heute noch auf sehr kleine Kreise beschränkt, zum anderen Teile Gefühle, die unter verschiedensten Umständen das Entgegengesetzteste bedeuten.

So ist es zum Beispiel mit dem prinzipiellen Abscheu vor Raub und Mord heute, im Zeitalter der allgemeinen Wehrpflicht und der Kolonialpolitik, noch immer nicht weit her. Andererseits galt Blutschande bei sehr hochstehenden Kulturvölkern, zum Beispiel den Ägyptern, durchaus nicht als Laster, und unter Scham und Ehre verstehen verschiedene Völker und Klassen etwas sehr verschiedenes. Der Ehrbegriff des Aristokraten, der zum Duellmord führt, erscheint einem Proletarier durchaus nicht als das edelste der sittlichen Gefühle. Und die Scham! Wenn Reisende in Ägypten am Nilufer badende Mohammedanerinnen überraschen, so heben diese entsetzt die Hände, um das Gesicht zu bedecken. Ihre übrigen Reize zu verbergen, scheint ihrem Schamgefühl weniger wichtig.

Auch die Schambegriffe der Deutschen waren noch zur Zeit der Renaissance ganz anders als unsere heutigen. Hutten lässt in seinem Gespräch „Die Anschauenden" (1520) den Sonnengott Sol und dessen Sohn Phaëthon vom Himmel auf Deutschland herabsehen. Da machen sie folgende Beobachtung:

Phaëthon: Dort sehe ich einige baden, Männer und Weiber untereinander, beide nackt; das kann doch nicht ohne Schaden für Zucht und Ehre abgehen.

Sol: Doch ohne Schaden.

Phaëthon: Aber sie küssen sich ja.

Sol: Ohne Scheu.

Phaëthon: Und umarmen sich zärtlich.

Sol: O, sie schlafen wohl auch beieinander.

Phaëthon: So müssen es Platoniker sein, die Weibergemeinschaft haben.

Sol: Mitnichten, sondern damit zeigen sie ihr Vertrauen. Denn bei der strengen Hut, in der man anderswo die weibliche Schamhaftigkeit hält, ist sie doch nirgends reiner bewahrt als hier usw. (Gespräche von Ulrich v. Hutten. Übersetzt und erläutert von D. F. Strauß. Leipzig 1860, S. 202).

Man sieht, jene sittlichen Gefühle, die für Genossen Quessel „die Zivilisation der Seele bilden", ohne die der Mensch aufhören würde, Mensch zu sein, sind höchst wandelbarer Natur und bedeuten zu verschiedenen Zeiten geradezu Entgegengesetztes.

Es konnte mir selbstverständlich nicht beikommen, derartige, oft recht junge und wenig verbreitete Anschauungen schon in der Tierwelt zu suchen.

Ohne weiteres springt nun Genosse Quessel zu jenem sittlichen Empfinden über, zu dem ich den Keim allerdings in der Tierwelt suche, und das er als das Gewissen bezeichnet.

Auch da passiert ihm wieder eine Verwechslung. So hatte ich zum Beispiel geschrieben, dass die Menschen dem Sittengesetz „ohne Überlegen gehorchen". Dagegen verweist mich Quessel auf Forel, der uns zeigt, dass es gewissenlose Menschen ohne jegliches Pflichtgefühl gibt, andere wieder, bei denen das Gewissen stark, und wieder andere, bei denen es krankhaft übertrieben ist.

Diese schlichten Resultate der modernen Gehirnwissenschaft", schließt Quessel, „werden Kautsky hoffentlich davon überzeugen, dass es mit der Wirksamkeit des Sittengesetzes denn doch einen Haken hat. … Halten wir also im Gegensatz zu Kautsky an der Erkenntnis der modernen Gehirnwissenschaft fest, dass nicht jedem Individuum, sondern nur der sittlichen Persönlichkeit das Pflichtgefühl hinreichend deutlich sagt: Dies sollst du tun und jenes lassen."

Die „moderne Gehirnwissenschaft" in allen Ehren, aber ich hoffe nicht, dass Forel glaubt, mit den obigen Beobachtungen irgendwelche neue „Resultate" mitzuteilen. Das sind Gemeinplätze, die lange vor jeder Gehirnwissenschaft in aller Munde waren, die mindestens so lange bekannt sind wie die Kunst des Schreibens und Lesens. Ich müsste ja der kindischste aller Menschen sein, wollte ich leugnen, dass es gewissenlose Leute gibt. Sollte mir aber Genosse Quessel trotzdem nicht glauben wollen, dass ich schon vor seiner Feststellung etwas von gewissenlosen Menschen gewusst, dann bin ich in der angenehmen Lage, das dokumentarisch feststellen zu können. In derselben Schrift, die er hier kritisierte, habe ich aus S. 133 vom Zynismus und der Heuchelei gehandelt, sowie vom Schwinden der Kraft der sozialen Triebe in manchen Klassen und Individuen.

Wenn ich sage, das Sittengesetz wirke als Trieb, dem man „ohne Überlegung gehorche", so ist damit natürlich nur die Art dieser Wirkung gekennzeichnet, nicht im Geringsten aber gesagt, dass der Trieb auch bei allen Individuen gleich mächtig sei.

Diese schiefen Auffassungen deuten darauf hm, dass Genosse Quessel nicht immer meine Worte in dem Sinne gefasst hat, in dem sie gemeint waren, so dass er mit seiner Kritik mitunter offene Türen einrennt.

Indes das alles sind Kleinigkeiten, die für sich allein eine Polemik nicht lohnten. Mehr Anlass zu fruchtbringenden Darlegungen bietet aber die besondere Theorie der Sittlichkeit, die Quessel entwickelt und der meinen entgegenstellt. Der Gegenstand scheint mir wichtig genug, ihn ausführlicher zu behandeln, als die bloße Auseinandersetzung mit Quessel erheischte.

Nach Forel erklärt dieser, dass das Pflichtgefühl oder Gewissen

aus einem Konflikt zwischen zwei Gruppen mit instinktiven Trieben verbundener Gefühle stammt: die Gruppe der aus Selbsterhaltung und Selbstbefriedigung gerichteten sogenannten egoistischen Gefühle und Triebe, und die Gruppe der Sympathiegefühle, das heißt der altruistischen Gefühle, die auf die Erhaltung und auf das Wohl anderer gerichtet sind“.

Was ich gegen die Aufstellung der zweiten Gruppe, der „altruistischen" Gefühle einzuwenden habe, sei später ausgeführt. Akzeptieren wir sie vorläufig, dann steht die Forelsche Annahme durchaus nicht im Widerspruch zu meiner Auffassung.

Jetzt erklärt aber Quessel, dass wohl diese beiden Gruppen von Gefühlen schon in der Tierwelt zu finden seien, dagegen sei der Konflikt der beiden Gruppen und damit das aus ihm hervorgehende Gefühl der Pflicht, das Gewissem etwas, was erst auf einer gewissen Höhe der menschheitlichen Entwicklung eintrete.

Wenn man nun aber verwundert fragt, wieso es kommt, dass wohl in der Tierwelt und beim Urmenschen die beiden einander widersprechenden Triebe zu finden sind, nicht aber der Konflikt dieser Triebe, so sucht Quessel uns das plausibel zu machen durch die Behauptung, die zweite Gruppe der Triebe, die „Sympathiegefühle", sei bei den Affen und Urmenschen so schwach, dass sie praktisch gar nicht in Frage komme. Je weiter Quessel in seiner Darstellung des Urmenschen fortschreitet, desto mehr spricht er ihm alle „Sympathiegefühle" ab, desto mehr wird dieser zum vollendeten Egoisten mit „vollkommener Interesselosigkeit für alles, was außerhalb des eigenen Ich liegt". „Der Wilde denkt nur an sich."

Quessel endet also damit, dass er das Gegenteil dessen behauptet, wovon er ausgegangen war. Wollte er beweisen, dass das Pflichtgefühl etwas ausschließlich Menschliches sei, dann hatte er zu zeigen, wie Sympathiegefühle, die er ja auch in der Tierwelt annimmt, und egoistische Triebe in demselben Individuum existieren können, ohne in Konflikt zu kommen, also ohne ein Pflichtgefühl nach seiner Auffassung hervorzurufen. Er glaubt jedoch, die Unmöglichkeit des Konfliktes zwischen beiden Trieben bei Tieren und Urmenschen darzutun durch den Hinweis auf Fälle, in denen seiner Ansicht nach diese Sympathiegefühle gar nicht vorhanden sind, also keinen Konflikt erzeugen können!

Indes wenn dieser Hinweis auch nicht das beweist, was Quessel beweisen will, so wäre er doch ein sehr erhebliches Argument gegen meine Auffassung, wenn er auf einer richtigen Beobachtung beruhte. Sind die Beobachtungen richtig, auf die sich Quessel beruft, ist der Affe und der Naturmensch kein soziales Tier, sondern ein eingefleischter Egoist, dann bin ich geschlagen, dann ist meine ganze Ethik keinen Schuss Pulver wert.

Bei den Affen brauchen wir uns nicht lange aufzuhalten. Quessel gibt ja bei ihnen Sympathiegefühle zu. Nur meint er, „ihr ganzes Handeln sei viel zu triebmäßig", als dass ihre Sympathiegefühle in einen „geistigen Konflikt mit ihren egoistischen Raubtierinstinkten gelangen könnten, die zu Pflicht- oder Reuegefühlen führen".

Das ist alles. Das ist aber nur eine willkürliche Annahme, kein Beweis. Will Quessel auf den in der modernen Naturwissenschaft längst überholten Standpunkt zurückgehen und alle geistigen Regungen des Tieres auf bloße Instinkte zurückführen? Will er die Intelligenz der Affen leugnen?

Aber ganz abgesehen davon, wird hier plötzlich eine ganz neue Deutung des Pflichtgefühls eingeschmuggelt. Es soll nicht aus einem Konflikt, das heißt einem Gegensatz zwischen egoistischen und Sympathiegefühlen entspringen, sondern aus einem „geistigen", über das Triebmäßige erhabenen Konflikt beider, das heißt aus ihrem bewussten, im Bewusstsein ausgekämpften Konflikt.

Wo dieser Gegensatz nicht zum Bewusstsein kommt, da besteht nach Quessel kein Pflichtgefühl. Danach kämen wir zu der sonderbaren Konsequenz, dass Menschen, deren „Sympathiegefühle" so stark sind, dass ihnen die Erfüllung ihrer Pflicht, die Überwindung ihrer egoistischen Triebe, als etwas ganz Selbstverständliches erscheint, das sie nicht den mindesten inneren Kampf kostet, gar kein Pflichtgefühl hätten, während dies um so stärker wäre, je schwerer der Kampf zwischen den beiden gegensätzlichen Trieben.

Sicher kann man nur dort von einem Pflichtgefühl reden, wo Egoismus und die gegenteiligen Gefühle, die wir bis auf weiteres mit Quessel „Sympatinegefühle" nennen wollen, im Gegensatz zu einander stehen. Wo sie miteinander übereinstimmen, wo persönliches Interesse und Pflicht dasselbe gebieten, kann ein Pflichtgefühl nicht in Aktion treten. Dagegen ist ohne Pflichtgefühl die Erfüllung einer Pflicht unmöglich, wenn diese in Konflikt mit dem persönlichen Interesse gerät. Wo Pflichten im Gegensatz zum Triebe der Selbsterhaltung erfüllt werden, müssen wir auch ein Pflichtgefühl annehmen, selbst wenn wir nur ein triebmäßiges, kein überlegtes Handeln voraussetzen. Ja, das sittliche Handeln hat gerade die Eigentümlichkeit, auch beim Menschen, dass es ein triebmäßiges ist, dass die Pflicht etwas ist, dem der mit Pflichtgefühl begabte Mensch ohne Überlegung gehorcht – das heißt ohne Überlegung in Bezug auf das Ob, nicht in Bezug auf das Wie, das in komplizierten Fällen genug Kopfzerbrechen kosten kann. Es bildet einen mächtigen inneren Drang, der nicht als das Resultat des Überlegens und Abwägens von näheren und ferneren Konsequenzen erklärt werden kann. Gerade das ist es, was ich mit dem oben erwähnten Satze sagte, den Quessel mit der überraschenden Feststellung der „modernen Gehirnwirtschaft" [sic!] widerlegen wollte, dass es nicht bloß gute Menschen, sondern auch schlechte Kerle gibt.

Selbst wenn das Handeln der Affen ein vollständig triebmäßiges wäre, was keineswegs der Fall, bewiese das lange nicht, dass die Affen kein Pflichtgefühl haben. Wohl aber wird das Gegenteil erwiesen durch eine ganze Reihe von Beobachtungen, die zeigen, wie hilfsbereit die Affen untereinander sind und wie sie selbst Lebensgefahren nicht scheuen, wenn es gilt, einander beizustehen.

Ich will hier nur auf jenen bekannten Fall verweisen, den Brehm selbst erlebte. Er begegnete einmal in Abessinien einer Herde Mantelpaviane, die von seinen Hunden sofort angegriffen wurden. Die meisten der Affen gewannen sofort schützende Höhen, aber ein halbjähriges Junges vermochte nicht rasch genug zu folgen und wurde von den Hunden umringt.

Wir schmeichelten uns schon, diesen Affen erbeuten zu können", schreibt Brehm in seinem „Tierleben", (1. Auflage, 1, S. 103), „aber es kam anders. Stolz und würdevoll, ohne sich im Geringsten zu beeilen und ohne auf uns zu achten, erschien vom anderen Ufer herüber eines der stärksten Männchen, ging furchtlos den Hunden entgegen, blitzte ihnen stechende Blicke zu, die sie vollkommen in Achtung hielten, stieg langsam auf den Felsblock zu dem Jungen, schmeichelte diesem und trat mit ihm den Rückweg an, dicht an den Hunden vorüber, die so verblüfft waren, dass sie ihn mit seinem Schützling ruhig ziehen ließen."

Das ist nicht etwa ein Ausnahmefall. Derartiges wird öfter berichtet. Ein neuerer Beobachter, Dr. Th. Zell, erklärt auch:

Was die Jungen betrifft, so sind alle Affen ausgezeichnete Eltern. Während bei zahllosen Tieren der Vater sich nicht um seinen Nachwuchs kümmert, so zum Beispiel unser sonst so pflichtgetreuer Hund, ist fast jeder Affenvater bereit, sich seiner Kinder wegen zu opfern" („Streifzüge durch die Tierwelt", S. 70).

Die Liebe, welche alle Affen gegen ihresgleichen betätigen, spricht für ein tiefes Gemüt" (Brehm, a. a. O., S. 45).

Sicher wird jeder, der frei ist von jenem Menschenhochmut, der alle Gemeinschaft der Menschen mit der Tierwelt leugnet, zugeben, dass das Benehmen des gedachten Pavians eine Pflichterfüllung darstellt, die sittlich auf gleicher Höhe steht wie etwa die Tat eines Horatius Cocles oder andere Großtaten antiker Bürgertugend. Mehr als das eigene Leben einsetzen zur Rettung eines anderen vermochte bisher auch die sublimste Menschenethik nicht, und ich fürchte, sie wird in ihrer Praxis nie über diesen Pavian hinauskommen können. Im Klügeln allerdings hat sie sich weit über ihn erhoben. Aber Genosse Quessel wird doch nicht behaupten wollen, dass daran die Sittlichkeit zu messen sei.

So viel über den Affen, und nun zum Menschen. Hier soll der vernichtende Stoß gegen meine Ethik geführt werden. Indessen habe ich mich hier eigentlich nicht mit Genossen Quessel auseinanderzusetzen, sondern mit der Quelle, aus die er sich beruft. Das Bild, das „Professor Bücher, der hervorragende Leipziger Nationalökonom und Soziologe", vom Wilden entwirft, soll unvereinbar sein mit meiner Auffassung der Ethik. Stimmt. Aber damit scheint mir noch lange nicht bewiesen, dass ich Unrecht habe.

Die Schilderung Büchers bildet das erste Kapitel in der vierten Auslage seines bekannten Werkes über „Die Entstehung der Volkswirtschaft".1 Dieses Kapitel über den „wirtschaftlichen Urzustand" ist in der erwähnten Auslage neu hinzugekommen. Meines Erachtens nicht zum Vorteil des Ganzen. Es ist schablonenhaft, oberflächlich und widerspruchsvoll. So schreibt Bücher zum Beispiel auf S. 16 von der „mit nichts zu vergleichenden Stumpfheit und Denkträgheit" der primitiven Menschen, von ihrer „vollkommenen Interesselosigkeit für alles, was außerhalb des eigenen Ich liegt", auf S. 25 dagegen setzt er uns nach Spencer „die heitere Grundstimmung" des Naturmenschen auseinander:

Von den Neukaledoniern, den Fidschiinsulanern, den Tahitiern und Neuseeländern lesen wir, dass sie fortwährend lachen und scherzen. In ganz Afrika zeigt uns der Neger denselben Zug, und von anderen Rassen lauten mancherlei Beschreibungen der Reisenden regelmäßig: ,voll Scherz und Lustigkeit', ,voll Leben und Feuer', ,heiter und gesprächig', ,immer froh, wie die Vögel unter dem Himmel', ,lärmende Fröhlichkeit', ,über Kleinigkeiten in unmäßiges Lachen ausbrechend'."

Nun mag Genosse Quessel wählen, welcher Wilde ihm lieber ist, der „voll Feuer und Leben" oder der „mit nichts zu vergleichender Stumpfheit und Denkträgheit"; der „heitere und gesprächige" oder der von „vollkommener Interesselosigkeit für alles, was außerhalb des eigenen Ich liegt".

Freilich! Quessel hat schon gewählt, indem er aus dem Bücherschen Bilde nur jene Züge hervorhob, die den Wilden widerspruchslos zu einem hartherzigen und egoistischen Idioten stempeln.

Allerdings sind das auch diejenigen Züge, die in dem Bücherschen Gemälde am stärksten hervortreten. Und ich behaupte durchaus nicht, dass Bücher sie erfunden hat. Sie werden vielmehr von zahlreichen Beobachtern mitgeteilt. Aber von ebenso zahlreichen wird das Gegenteil bezeugt. Und so teilen sich auch die Verarbeiter dieser Beobachtungen in sehr verschiedene Lager.

Woher erklären sich diese Widersprüche? Vor allem aus der verschiedenen Rolle der Beobachter. Die einen kommen zu den Wilden, um sie zu plündern, zu versklaven oder zu verjagen. Diese haben weder ein Interesse daran, sie richtig kennen zu lernen, noch auch die Möglichkeit dazu. Wie ein Kapitalist nie einen Proletarier verstehen und von diesem immer ein verzerrtes Bild entwerfen wird, so gilt das auch von den Händlern und kolonialen Eroberern gegenüber den Wilden. Etwas näher können die Missionare zu diesen gelangen, aber ein Missionar ist ja von Berufs wegen verpflichtet, jede Denkart außer der christlichen als ein Werk des Satans zu verabscheuen. Nur wenige besitzen die Intelligenz und Unbefangenheit, sich über diese Schranke zu erheben.

Besonders selten aber sind Forscher, die frei von allen Vorurteilen jahrelang mit Wilden oder Barbaren als ihre Freunde und Genossen leben, wie zum Beispiel Catlin oder Morgan bei den Indianern. Deren Urteile lauten aber ganz anders als die der früher erwähnten Beobachter.

Indes nicht nur die Verschiedenheiten des Standpunktes der Beobachter, sondern auch Verschiedenheiten der Objekte erzeugen Widersprüche in den Aussagen über die Wilden. Je weiter die Zivilisation fortschreitet, desto mehr werden diese in unwirtliche Gegenden verdrängt, wo sie verkommen und aussterben. Diese in jeder Weise niedergedrückten Wilden müssen natürlich einen ganz anderen Eindruck machen als solche, die noch unberührt von den degradierenden Wirkungen eines übermächtigen Druckes geblieben sind. In Reisewerken aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert wird man getreuere Bilder des primitiven Menschen finden als in solchen aus dem neunzehnten. In Wüsten und Einöden verdrängte, verkümmerte Wilde als den Typus der Urmenschen hinzustellen, hat ungefähr ebenso viel Berechtigung, als wenn man an Heimarbeitern Thüringens oder des Erzgebirges das mittelalterliche Handwerk studieren wollte.

Es ist bezeichnend, dass Bücher die Naturmenschen charakterisiert als „scheu, wo sie mit Angehörigen höherstehender Stämme zusammentreffen, oft tückisch und grausam". Es ist klar, dass diese Charakterzüge ihnen erst durch die „höherstehenden Stämme" beigebracht wurden und dass der Naturmensch ganz anders sein musste zu einer Zeit, wo er das höchstentwickelte Tier aus Erden darstellte.

Wie dieses widerspruchsvolle ethnographische Material nun verarbeitet wird, das hängt wieder sehr vom Standpunkt des Bearbeiters ab. Und da ist der eines liberalen Nationalökonomen der denkbar ungeeignetste dazu, den Wilden gerecht zu werden; für ihn ist die Warenproduktion der natürliche Zustand der menschlichen Gesellschaft und der Warenproduzent der Normalmensch. Die Wilden, die nicht daran denken, Kapitalien anzusammeln, die in den Tag hineinleben, nur arbeiten, wenn es ihnen passt oder der Hunger sie plagt, und sich keine grauen Haare um das Morgen wachsen lassen, müssen ihm als Unmenschen erscheinen, als Menschen wie das liebe Vieh, und er wird begierig alle Beobachtungen verzeichnen, die sie als vertierte Idioten erscheinen lassen. Freilich, wenn er kein Philister wäre, müsste er sich sagen, dass jene unwirtschaftlichen Seiten der Wilden, die seinen Zorn erregen und ihm als Beweis für ihren Stumpfsinn und ihre Interesselosigkeit erscheinen, in den höchsten und besten Geistern unserer Gesellschaft, in jenen Künstlern und Gelehrten fortleben, die noch nicht zu Geschäftsleuten geworden sind. Wo der liberale Professor der Nationalökonomie eine viehische Natur sieht. könnte ein über die kapitalistische Borniertheit hinaussehender Geist sehr wohl eine Künstlernatur entdecken, „voll Leben und Feuer", wie Bücher in einem unbewachten Augenblick selbst konstatiert.

Ganz anders als dieser urteilt zum Beispiel über die Indianer der amerikanische Maler Catlin, der 1832 bis 1840 unter Indianerstämmen des fernen Westens lebte, die noch nicht durch die europäische Zivilisation gebrochen und korrumpiert waren. Nur mit Enthusiasmus spricht er von ihnen:

Ich habe lange mit kritischem Auge die Gesichter dieser Söhne des Waldes betrachtet, die nie von Sorgen gefurcht wurden, auf die das Elend nie seinen Stempel gedrückt hatte. Ich habe den kühnen, unerschrockenen Gang, das stolze, aber würdevolle Benehmen dieser Naturmenschen beobachtet, die in ihrer ungebundenen Freiheit. noch unberührt durch feile Vergnügungen, sich nur den Gesetzen und der Macht Gottes unterwerfen. Da sie alle gemeinschaftliche Besitzer des Bodens sind, so sind sie alle reich, und keines von den Hindernissen einer verhältnismäßigen Armut kann ihre gerechten Ansprüche auf Ruhm unterdrücken. Wer kann, frage ich, ohne Bewunderung eine Gesellschaft betrachten, wo Friede und Einigkeit herrscht. wo die Tugend gepflegt, das Recht beschützt, das Unrecht bestraft wird, und zwar ohne andere Gesetze als die der Ehre, welche die höchsten Gesetze ihres Landes sind?“ („Die Indianer Nordamerikas", S. 43.)

Dass einem liberalen Professor solche verdammte Kommunisten ebenso unsympathisch sind wie etwa die Kämpfer der Pariser Kommune, und dass er sie ebenso darstellt, wie die bürgerlichen Geschichtsschreiber die Kommunards, ist kein Wunder. Bücher bringt den Wilden und Barbaren, zwischen denen er keinen Unterschied macht, so viel Abneigung, ja geradezu Hass entgegen, dass er sich nicht entblödet, ihnen Vorgänge zur Last zu legen, die das Produkt der kapitalistischen Zivilisation sind. So schreibt er, um die Gedankenlosigkeit und Unwirtschaftlichkeit der Wilden zu kennzeichnen:

Wo diese Völker durch kurzsichtige Gewinnsucht von Europäern in den Besitz vollkommener Waffen gelangen, pflegen sie eine unglaubliche Verwüstung unter dem Wildbestand ihrer Jagdgründe anzurichten. Bekannt ist die Ausrottung der unermesslichen nordamerikanischen Büffelherden. ,Die größten Mengen Fleisch ließ man ungenutzt im Busche liegen', um zur Winterszeit, wo tiefer Schnee die Jagd hinderte, grässlichem Hunger anheimzufallen, bei dem selbst Baumrinde und Graswurzeln nicht verschmäht wurden. Noch heute rotten die Eingeborenen Afrikas, wo sie mit den Europäern in gewinnbringendem Handelsverkehr stehen, die Quellen ihrer Einnahmen, den Elefanten und den Kautschukbaum, schonungslos aus" (S. 22)

Dieser Passus ist vor allem eine Glanzleistung professoraler Zitierkunst.“

Jeder, der den Satz über die Büffelherden und die darauffolgenden liest, muss annehmen, dass Bücher hier einen Autor zitiert, der die Indianer anklagt, dass sie die Büffelherden ausrotteten (was in den letzten Jahrzehnten geschah), dabei das Fleisch ungenutzt im Busch liegen ließen, um im Winter zu hungern. Tatsächlich sind aber die letzten Sätze nach Lippert Loskiel, einem Missionar des achtzehnten Jahrhunderts, entnommen und haben mit Büffeljagden gar nichts zu tun, geschweige denn mit der Ausrottung der Büffel. Das Liegenlassen von Fleisch wird dort von Hirschjagden berichtet. ohne irgend eine Beziehung auf die Ausrottung von Hirschen, der „grässliche Hunger" im Winter wird aber von Loskiel nicht als eine Folge des Liegenlassens von Fleisch im Sommer oder der Ausrottung von Wild hingestellt. sondern als eine Folge des Kommunismus der Wilden, der angeblich den Müßiggang begünstige, so dass sie im Sommer nicht genug anpflanzten und im Winter nicht genügende Fruchtvorräte besäßen. Mit dieser Zitiermethode kann man alles beweisen.

Es fällt mir natürlich nicht ein, zu leugnen, dass der Wilde dort, wo er im Überfluss lebt, verschwenderisch damit umgeht und sich um eine fernere Zukunft nicht sorgt. Sorglosigkeit ist sicher eines seiner Merkmale. Damit ist aber nicht gesagt, dass er sinnlosen Raubbau treibt. Das ist ein Merkmal nicht des Wilden, sondern des Kapitalisten, dessen Habgier unersättlich.

Und das weiß auch unser „hervorragender Nationalökonom" sehr gut. In einer versteckten Fußnote bemerkt er selbst: „Dass freilich der größte Teil der Schuld an der Ausrottung des Büffels den Weißen zufällt, hat Ch. Maire erwiesen." Das hindert aber durchaus nicht, dass im Texte die Ausrottung der Büffelherden als Beweis für den Stumpfsinn der Wilden vorgeführt wird.

Wie wenig stumpfsinnig in Wirklichkeit die Indianer dieser Ausrottung gegenüberstanden, bezeugt unter anderem ein Gegner der Indianer, der dreißig Jahre an der Indianergrenze lebte, R. J. Dodge, Oberstleutnant der Armee der Vereinigten Staaten. Vor einem Vierteljahrhundert schrieb er ein Buch über sie, das deutsch unter dem Titel erschien: „Die heutigen Indianer des fernen Westens". Dort wird auch die Art geschildert, in der die Indianer den Büffel jagten. Die Jäger des Stammes hießen bei den Cheyenneindianern „Hundesoldaten".

Eine der wichtigsten .Obliegenheiten der Hundesoldaten ist der Schutz des Wildes. Mit Ausnahme der Herbstzeit. wo man die Wintervorräte an Fleisch eintut, dürfen immer nur so viele Büffel geschossen werden, als für den laufenden Bedarf des Lagers erforderlich sind. Man nimmt sich außerordentlich in Acht, die Herden nicht zu beunruhigen, welche tagelang in der Nachbarschaft eines Indianerlagers von tausend Seelen weiden, während ein Lager von einem halben Dutzend Weißen sie alle in einem einzigen Tage vertreiben würde. Nur eigens dazu bezeichnete Gesellschaften oder Individuen dürfen auf Herden oder sogar auf einzelne Büffel schießen, und ein Indianer, der dazu nicht beauftragt ist, wird ebenso viel Vorsicht gebrauchen, um einer Herde auszuweichen, als er unter anderen Umständen daran setzen würde, um sich an eine solche heranzuschleichen" (S. 79).

Diese Beobachtungen wurden zu einer Zeit gemacht, wo bei den Büffel jagenden Indianern bereits „der allgemeine Gebrauch der Feuerwaffen" gefunden wurde. Wir sehen also, die Beschuldigung der sinnlosen Ausrottung der Büffel durch die Indianer ist völlig erfunden. Wahr ist vielmehr, dass diese sinnlosen Schlächtereien von den Weißen vorgenommen wurden, von vornehmen Sportsmen, „die, mit den besten Waffen ausgerüstet, in zwei bis drei Wochen so viele Tiere zusammenschossen, als genügt haben würden, um alle Indianerstämme jener Gebietsteile während eines ganzen langen Winters zu ernähren. Der Sport bestand darin, zu sehen, wer die meisten dieser harmlosen Tiere in einer gewissen Zeit erlegen würde; denn die Leichen blieben liegen, wie sie fielen, zur Nahrung für die zahllosen Präriewölfe, Füchse und Raubvögel. … Die Indianer erhoben von Zeit zu Zeit schwache Proteste gegen diese Engrosvernichtung ihres Hauptnahrungsmittels, dieselben wurden aber absichtlich ignoriert, und die Massenschlächterei wurde fortgesetzt; wusste doch der weiße Mann, dass er im Büffel indirekt auch den roten Mann vernichtet." So schrieb 1884 die Zeitschrift „Amerika". Professor Bücher aber hat die Kühnheit, diese Massenschlächterei, welche die Weißen aus purem Übermut den Indianern zum Trotz vornahmen, den letzteren in die Schuhe zu schieben!

Man muss in der Tat ein liberaler Professor sein, um den schonungslosen Raubbau, der das Merkmal der kapitalistischen Zivilisation ist, dem primitiven Kommunismus zur Last zu legen.

Bücher findet beim Naturmenschen Stumpfheit und Denkträgheit. Aber nicht einmal bei gesunden Affen hat man bisher etwas Derartiges entdeckt. Im Gegenteil, die geistige Regsamkeit der Vierhänder ist erstaunlich.

So berichtet zum Beispiel Dr. Zeil:

Als sich der Schimpanse des Berliner Zoologischen Gartens an einem schönen Sommertag im Freien ergötzte, erklärte mir der Wärter, dass der Affe in einem unbewachten Augenblick sicher ausrücken würde, um nachzusehen, was die Leute machten, die in der Nähe buddelten. Er wisse das noch nicht, und bei seiner Neugier brenne er darauf, sich die Sache näher anzusehen. Der Wärter hatte durchaus recht, der Schimpanse entwich und ließ sich erst wieder aufnehmen, nachdem er sich die Ausschachtung gründlich beschaut hatte, ja, seine Neugier war so groß, dass er noch ein zweites Mal auskniff, um sich die Buddeleien nochmals anzusehen" ("Streifzüge durch die Tierwelt", S. 96).

Das deutet auf alles andere als auf Stumpfsinn und Denkträgheit. Sollen wir nun annehmen, dass der Naturmensch, der sich über den Affen erhob, weniger geistig regsam gewesen sei? Man muss ganz sonderbare Vorstellungen von den Leistungen haben, die der Urmensch zu produzieren hatte.

Die Erfindung des Feuermachens durch Reibung", sagt Ratzel in seiner „Völkerkunde", I, S. 42, „war eine geistige Tat, welche mindestens ebenso viel Beobachtung und ausdauernde Denkkraft erforderte wie die Erfindung der Dampfmaschine."

Neben der Erfindung des Feueranmachens war aber die der Sprache die größte Leistung des Urmenschen. Sie heischte nicht mindere geistige Anstrengung und geistige Kraft.

Das echteste Naturvolk der Buschmänner", sagt Ratzel a. a. O. S. 22, „spricht eine fein gebaute, reiche Sprache, in deren Entwicklung ein unendlicher Betrag geistiger Arbeit aufzuwenden war."

und Peschel erklärt:

Die nicht geringe geistige Begabung der Australier ist erst zur Anerkennung gelangt, seitdem wir einen Einblick in ihre Sprache gewonnen haben. Wenn der Reichtum von Formen zum kurzen Ausdruck seiner Beziehungen über den Rang einer Sprache entscheiden sollte, so müssten uns und allen Völkern Westeuropas die beinernen Menschenschatten am King George-Sund Neid einflößen" („Völkerkunde“, S. 351).

Es wird ein ewiges Geheimnis Büchers und seiner Gesinnungsgenossen bleiben, wie die Erfindung und Entwicklung der Sprache zusammenzureimen ist nicht bloß mit der „unvergleichlichen Stumpfheit und Denkträgheit", sondern auch mit dem maßlosen Egoismus, den er dem Wilden zuschreibt, „der nur an sich denkt" und für seinesgleichen nicht das mindeste Interesse empfindet.

Sollte nicht ein gut Teil des Stumpfsinns der Wilden auf den Stumpfsinn seiner zivilisierten Beobachter zurückzuführen sein, die es nicht verstehen, in seiner Seele zu lesen?

Nicht besser als mit dem Stumpfsinn steht es mit dem „grenzenlosen Egoismus und der Hartherzigkeit gegen seinesgleichen", ja „gegen die nächsten Angehörigen", die Bücher dem primitiven Menschen vorwirft. Wir haben schon oben Catlins Stimme wiedergegeben, der jahrelang unter den Indianern wie einer ihresgleichen lebte und der das gerade Gegenteil bezeugte. Der Kommunismus der Wilden, das freudige Teilen alles Besitzes mit den Stammesgenossen ist eine so allgemein verbreitete und feststehende Tatsache, dass nur ein liberaler Professor achtlos daran vorbeigehen kann, der für den Kommunismus gar kein Verständnis hat.

Ich verweise Genossen Quessel darüber auf meine Artikelserien „Die sozialen Triebe in der Menschenwelt", „Neue Zeit", 1884, und „Die Indianerfrage“, „Neue Zeit", 1885, wo ich zahlreiche Belege dafür mitteile, die hier zu wiederholen mir der Raum fehlt.

Sicher ist der Wilde hartherzig und grausam gegenüber dem Stammesfeind, den zu foltern ihm ein Vergnügen ist. Das Jagdleben, die Notwendigkeit, aus der Tötung lebender Wesen den Lebensunterhalt zu ziehen und um die Jagdgebiete mit Konkurrenten auf Leben und Tod zu kämpfen, erzeugt natürlich eine Abstumpfung, eine Gleichgültigkeit gegen fremdes Leben, ebenso wie dies im Kriege oder in gewaltsamen Revolutionen der Fall ist. Diese Art der Hartherzigkeit fehlt einem Teile der modernen Kulturmenschheit. Die Arbeitsteilung hat die Mehrheit der städtischen Bevölkerung von der Notwendigkeit befreit, durch Blutvergießen ihren Lebensunterhalt zu gewinnen. Wohl lebt sie von getöteten Tieren, aber sie tötet sie nicht selbst, sondern überlässt das dem Schlächter, den sie dann auch mit der entsprechenden Brutalität und Hartherzigkeit belastet. Aber die Scheu vor dem Blutvergießen, die „Humanität" des städtischen Bourgeois der letzten Jahrhunderte ist keineswegs in stetem Wachstum begriffen. Sie war am stärksten im achtzehnten und der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, solange überall, das kleine Preußen ausgenommen, der Kriegsdienst auf die proletarischen und bäuerlichen Schichten beschränkt war. Seitdem die allgemeine Wehrpflicht Mitglieder der Bourgeoisie und der Intelligenz der Kaserne und dem Offizierskorps zuführt, ist das Bürgertum in rascher Verrohung begriffen. Es protestiert nicht mehr gegen die Todesstrafe und entsetzt sich nicht mehr über koloniale Bestialitäten, die alles hinter sich lassen, was den Wilden an Hartherzigkeit vorgeworfen werden kann, weil der moderne koloniale Eroberer deren Gleichgültigkeit gegen fremdes Leiden verbindet mit erdrückenden Machtmitteln, wie sie dem Wilden längst nicht zu Gebote stehen, und weil seine Triebkraft nicht das eng begrenzte Streben nach Nahrung und Sicherheit, sondern das unbegrenzte nach Reichtum und Macht ist.

Aber wie grausam und hartherzig der Wilde auch sein mag, das beweist nicht im Mindesten das Fehlen sozialer Triebe in ihm, sondern nur die Begrenzung dieser Triebe auf den engen Kreis des Stammes. Nur außerhalb desselben ist er hart und grausam. Innerhalb desselben äußert sich sein Solidaritätsgefühl um so energischer. Ohne Bedenken, ja mit Wonne setzt er sein Leben ein, nicht bloß um einen lebenden Genossen zu retten, nein, schon um einen getöteten Genossen zu rächen. Die Kraft und Ausdehnung der Sitte der Blutrache allein schon beweist, wie lächerlich die von Quessel akzeptierte Auffassung Büchers und anderer Soziologen ist, die dem Wilden „vollkommene Interesselosigkeit für alles, was außerhalb des eigenen Ich liegt“, zuschreibt und erklärt: „Der Wilde denkt nur an sich, er denkt nur an die Gegenwart."

Bücher glaubt den Beweis für das Fehlen aller sozialen Empfindungen im Wilden zu führen, wenn er auf die Tötung Alter und Kranker wie auf den Kindesmord hinweist:

Was den Egoismus des Wilden und seine Herzenshärtigkeit gegen die nächsten Angehörigen betrifft. so ist sie eine natürliche Folge des ruhelosen Wanderlebens, bei welchem jedes Individuum einzig für sich selbst sorgt. Sie zeigt sich zunächst in der außerordentlich verbreiteten Sitte der Kindestötung, die nur selten einmal bei einem Naturvolk ganz fehlt. … Derselbe Zug grenzenloser Selbstsucht ist in der Rücksichtslosigkeit zu erkennen, mit welcher viele Naturvölker Kranke und Alte, welche den Gesunden hinderlich sein könnten, auf dem Marsche im Stiche lassen oder an einsamen Orten aussetzen" (S. 18, 20).

Die Tatsache ist richtig, aber die Erklärung ist falsch. Die Wilden haben einfach gar keine Wahl; sie können, auch bei dem besten Willen, nicht die Alten und Kranken bei ihren Wanderzügen mit sich fortschleppen. Sie müssen sie zurücklassen, ob sie wollen oder nicht. Sie haben kein Gefährt, kein Lasttier, auf dem sie Alte und Kranke mit sich nehmen könnten, sie dürfen aber auch nicht lange an einer Stelle bleiben, wollen sie nicht verhungern, denn die Lebensmittel, die sie dort finden. sind bald erschöpft, und sie sehen sich nach kurzem Verweilen gezwungen, wieder nach weiteren Fundstellen zu wandern.

So kann der Wilde für seine Altersschwachen und Kranken nur eines tun: statt sie einfach zurückzulassen, kann er ihre Leiden abkürzen, indem er sie tötet. Gerade in dieser Tötung der Alten und Kranken, über die sich Bücher so sehr entsetzt, entdeckt sogar Lippert, der von den Wilden die denkbar schlechteste Meinung hat, „einen Funken Humanität". Die Alten und Kranken selbst empfinden diese Tötung oft gar nicht als Grausamkeit, sondern als einen Liebesdienst, den man ihnen erweist. Ein Beispiel davon habe ich in meiner Schrift über Ethik von den Eskimos angeführt, das der Missionar Egede aus dem achtzehnten Jahrhundert erzählt.

Nansen berichtet darüber in seinem „Eskimoleben":

"Als Nils Egede einem Eskimomädchen von der Liebe zu Gott und unserem Nächsten gesprochen hatte, erklärte das Mädchen: ,Ich habe bewiesen, dass ich meinen Nächsten liebe, denn eine alte Frau, die krank war und nicht sterben konnte, bat mich, dass ich sie für Geld nach der steilen Klippe führen möge, von der sich immer die hinabstürzen, die nicht mehr leben mögen. Weil ich aber meine Leute liebe, führte ich sie umsonst hin und stürzte sie vom Felsen herunter.'

Egede meinte, das sei eine schlechte Handlung, und sagte, sie habe einen Menschen getötet. Sie sagte, nein, sie habe großes Mitleid mit der Alten gehabt und geweint, als sie hinabgestürzt war."

Unsere moderne aufgeklärte liberale Leuchte erweist sich als noch bornierter wie der alte christliche Missionar, wenn er in solchen Handlungen den Beweis für die entsetzliche Selbstsucht und Herzenshärte der Wilden erblickt. Der Wilde freilich würde ebenso wenig unsere Humanität begreifen, die alle Mittel der modernen Wissenschaft aufwendet, um den Todeskampf Sterbender möglichst zu verlängern.

Die Eskimositte, Alte und Kranke von Klippen herabzustürzen, ist übrigens in der heidnischen Vorzeit im ganzen europäischen Norden verbreitet gewesen. Lippert verweist auf Saxo Grammaticus, der erzählt, es habe im Norden die gemeine Sitte geherrscht, „dass die Kinder ihre alten Eltern auf die sogenannte ,Steinklippe' begleiteten, von der sich diese froh und heiter, zur Erlösung von ihrer Not herabstürzten". Lippert fügt hinzu:

In Schweden bewahrte man in den Kirchen große hölzerne Keulen, sogenannte Familienkeulen, auf, von denen einige bis heute erhalten sind, und die dazu dienten, die Greise und hoffnungslos Kranken in feierlicher Weise zu töten" (a. a. O., S. 287)

Wenn Bücher in alledem Beweise für Egoismus und Herzenshärte sieht, so kann er als mildernden Umstand allerdings die Tatsache anführen, dass er mit dieser Auffassung nicht allein steht. Auch andere liberale Ethnologen, die den Wilden nicht schwarz genug schildern können, teilen sie, wenn sich auch keiner so schroff ausspricht wie er. Mitunter tritt diese Verständnislosigkeit ganz offenkundig zutage. So sagt Lubbock:

Kolben lässt den Hottentotten nur Gerechtigkeit widerfahren, wenn er ihnen Redlichkeit, Keuschheit, Treue und Freigebigkeit zuschreibt und uns versichert, dass sie jedenfalls das freundlichste, gefälligste und verträglichste Volk wären, das jemals die Erde bewohnt hat. Auch andere Reisende sprechen sich ungemein günstig über sie aus. Freilich reimen sich diese Berichte schlecht mit der bekannten Sitte, dass ein Mann oder eine Frau, sobald sie infolge von Altersschwäche arbeitsunfähig sind, ausgesetzt werden" (Lubbock, „Vorgeschichtliche Zeit", lI, S. 137)

Also weil sich ein liberaler Gelehrter dieses Aussetzen nicht mit der direkt bezeugten Freundlichkeit und Güte der Wilden zusammenzureimen weiß, beweist es deren Egoismus und Herzenshärte.

Nicht anders als mit der Aussetzung oder Tötung von Alten und Kranken steht es mit der von Kindern. Auch hier liegt nicht eine willkürliche Grausamkeit und Hartherzigkeit vor, sondern ein Produkt ökonomischer Notwendigkeit. Nur Neugeborene werden getötet, aber auch die nicht nach Willkür und Laune, sondern unter bestimmten Umständen. Diese hängen ebenso wie die Tötung der Alten und Kranken mit der Art des Nahrungserwerbes der Wilden, ihrem erzwungenen unsteten Umherwandern aufs Engste zusammen. Daraus erwächst die Notwendigkeit, dass die Mütter ihre Kinder mit sich tragen, solange diese nicht stark genug sind, die Strapazen des Marsches auszuhalten. Ein Kind von drei oder vier Jahren ist noch lange nicht imstande, einen tüchtigen Marsch mitzumachen oder sich selbst seine Nahrung zu suchen. Dass es aber in diesem Alter ein Brüderchen oder Schwesterchen bekommt, ist nichts Ungewöhnliches. Was soll nun mit dem neuen Ankömmling geschehen? Die Mutter ist ganz außerstande, zwei Kinder zu tragen und zu ernähren, jedes der anderen Mitglieder der Horde hat aber auch seine Last. Beide Kinder aufzuziehen, ist in solchem Falle ganz unmöglich; so muss man wählen und entscheidet sich natürlich für das ältere. Da das Neugeborene unter Bedingungen zur Welt kam, die seine Aufziehung ausschließen, wird es getötet. Dasselbe geschieht bei Zwillingen mit dem einen der beiden Kinder. Endlich werden Kinder getötet, die missgestaltet oder schwächlich sind und daher erwachsen nicht imstande wären, das furchtbar anstrengende Leben dieser wilden Nomaden auszuhalten. Diese Art der Zuchtwahl erhält sich noch lange, nachdem die Sesshaftigkeit die anderen Gründe des Kindesmordes überflüssig gemacht hat. Leute, deren Ethik weder Bücher noch Quessel bezweifeln werden, die hoch erhaben sind über den „Stumpfsinn", „Egoismus" und die „Hartherzigkeit" der Wilden, wie Plato und Seneca, plädierten noch für den Kindesmord. Lippert zitiert von letzterem folgenden Satz:

Missgeburten töten wir, und auch Kinder, die gebrechlich und missgestaltet zur Welt kommen, ertränken wir. Es ist nicht Zorn, sondern Vernunft, das Unbrauchbare von dem Gesunden abzuscheiden.“

Aus alledem spricht nicht Grausamkeit und Egoismus, sondern nur eine Sorge für die Zukunft, die angeblich bei den Wilden nie vorhanden sein soll. Wie wenig Lieblosigkeit dabei im Spiele, zeigt uns die Zärtlichkeit, welche die Wilden für ihre Kinder hegen.

So berichtet Ratzel über den Kindesmord bei den Australiern und fährt dann fort:

Man darf jedoch aus diesen Tatsachen nicht folgern, dass die Australier keiner Liebe für ihre Kinder fähig seien. Die Natur verleugnet auch hier nicht ihre Macht. die über alle Not und Verkommenheit (!) menschlicher Instinkte triumphieren lässt. Ist nur einmal bestimmt, dass ein Kind erhalten bleibt, so kennt die Zärtlichkeit, die Geduld, womit es behandelt wird, keine Grenze. Jeder liebenswürdige Zug in seinem Wesen wird mit Entzücken beobachtet. und die liebevollste Sorgfalt wacht über das Kind. ,Ich habe', sagt Taplin. ,Männer gekannt. die, wenn die Mutter abwesend oder krank war, ihren Kleinen die Wärterin stundenlang und zwar ausgezeichnet ersetzten. Einmal sah ich einen Mann in wilder Wut jeden niederschlagen, der in den Bereich seiner Waffe kam, weil er aus der Stirn seines kleinen Jungen einen leichten Blutfleck, durch einen zufällig erhaltenen Schlag verursacht, erblickt hatte. …. Wenn das Kind überhaupt leben darf, so wird es mit größter Sorgfalt heran gepflegt. besser, als dies den meisten Kindern ärmerer Klassen in Europa zuteil wird" (."Völkerkunde", II, S. 61).

Und dasselbe wird von allen Wilden berichtet, von allen Stämmen, bei denen der Kindesmord vorkommt. So berichtet zum Beispiel Waltz:

In der Erziehung zeigen die Indianer stets die größte Nachsicht gegen ihre Kinder. Nur im äußersten Falle greifen sie zu Strafen, indem sie ihnen etwa einen Napf mit kaltem Wasser über den Kopf gießen, wenn sie nicht früh genug aufstehen. Kinder zu schlagen, wie die Weißen tun, halten sie geradezu für eine Grausamkeit. Es ist hierin kein Unterschied zwischen Nord- und Südamerika“ ("Die Indianer", S. 101).

Von alledem hat der „hervorragende Leipziger Nationalökonom" nicht das mindeste gesehen. Es verträgt sich eben gar zu schlecht mit seiner Theorie der Herzlosigkeit und des grenzenlosen Egoismus des Naturmenschen.

Die Indianer haben aber auch Gelegenheit gehabt, gegenüber ihrer eigenen Rohheit und Herzenshärte die ganze Herzensgüte und Selbstlosigkeit der Produkte des Kapitalismus kennen zu lernen. Nicht nur, dass die Schulen der Weißen sie mit der Prügelpädagogik bekannt machten, sie lernten deren Sorge für Weib und Kind noch von einer anderen Seite kennen. Dodge berichtet. darüber:

Eine sehr ernste Verlegenheit und Sorge und ein Ärgernis, über welches ich viele Klagen gehört, bereitet den Indianern die Menge der Witwen und Waisen, die ihnen durch die Weißen aufgebürdet werden, denn nichts ist gewöhnlicher, als dass weiße Jäger, Fallensteller und Händler, die unter den Indianern gelebt und indianische Weiber genommen haben, diese über kurz oder lang verlassen. … In einer Ratsversammlung, die im Jahre 1867 am nördlichen Plattefluss zwischen den Indianern und einigen Vertretern der amerikanischen Regierung abgehalten wurde, sprach einer der Häuptlinge ernstlich, verständig und mit Gefühl über diesen Gegenstand. Er sagte, sein Stamm sei arm und außerstande, die von den Weißen sitzengelassenen Weiber und Kinder zu erhalten, und er bat daher, dass die Unionsregierung eine besondere Vorsorge für diese Menschenrasse treffen möge" (a.a.O., S. 151, 153).

Der gute Mann ahnte nicht, wie wenig die Weißen für ihre eigenen sitzen gelassenen Weiber und Kinder Vorsorge treffen, ja dass sie viele Tausende in elterlicher Hut befindliche Kinder im zartesten Alter zu der Hölle kapitalistischer Fabrik- und Hausindustrie verurteilen, damit deren Fleisch und Blut zu kapitalistischem Profit verarbeitet werde. Jene Wilden, die es nicht über sich bringen, ihren Kindern den leisesten Rutenstreich zu erteilen oder von ihnen irgend etwas zu fordern, was diese nicht freudig gewähren, sie würden schaudernd davor zurück beben, wenn sie einen Blick in das Kinderelend tun könnten, das sich etwa in einer Heimarbeiterfamilie Sachsens abspielt, desselben Sachsen, dessen berühmter Leipziger Professor just in der Behandlung der Kinder den Unterschied zwischen der grenzenlosen Selbstsucht und Gemeinheit des Naturmenschen und der hohen Sittlichkeit des Menschen der kapitalistischen Kultur entdeckt.

Ich hoffe, Genosse Quessel wird einsehen, dass er mit seinem Zutrauen zur bürgerlichen Wissenschaft diesmal gründlich reingefallen ist. Ich gebe zu, dass ich in meiner Ethik im Interesse der Kürze mit den Beweisen für meine Behauptungen vielleicht allzu sparsam war. Gerade darum bin ich jetzt ausführlicher geworden. Wenn Genosse Quessel sich nie mit dem Gegenstand beschäftigt hatte und plötzlich Büchers Auffassung mit der meinen konfrontierte, durfte er wohl stutzig werden. Wenn ihm dann Zweifel kamen, die ihn zu eigenem Forschen anregten, so konnten sie nur nützlich wirken. Aber ich denke, das Wesen der „kritischen Sozialisten", zu denen er sich zählt, braucht nicht darin zu beruhen, dass sie bloß .Marx und den Marxisten kritisch gegenüber stehen, dagegen unkritisch alles akzeptieren, was irgend ein liberaler Professor sagt, der ihnen als die Verkörperung der über allen Klassen stehenden „Wissenschaft" erscheint. Etwas mehr Kritik gegenüber der bürgerlichen Wissenschaft wird dem „kritischen Sozialismus" sehr förderlich sein. (Schluss folgt)

2. Satte Tugend und zahlungsfähige Moral

Genosse Quessel übt nicht bloß Kritik. Nachdem er sich bemüht hat, meine Auffassung der Ethik als einen „wissenschaftlichen Irrtum" nachzuweisen, macht er sich daran, darzulegen, wie nach seiner Anschauung das Pflichtbewusstsein im Menschen entstanden ist. Das ist der kürzeste, aber überraschendste und merkwürdigste Teil seines Artikels. Es heißt dort:

In der Periode der Wildheit ist der Mensch fast noch völlig von egoistischen Trieben und Gefühlen beherrscht, die sein Handeln bestimmen. Langsam vollzieht sich der Aufstieg. Mit der Arbeit und reicheren Ernährung erfährt seine Gehirnorganisation eine mächtige Entwicklung, die einerseits die egoistischen Triebe und Gefühle, auf die sich der Mensch bei seinem Werdegang gestützt hatte, abschwächte, andererseits aber die Sympathiegefühle sich stark entwickeln ließ, die im Konflikt mit den ersteren die Stimme des Gewissens erweckten, die sich das Sittengesetz schafft."

Die Stimme des Gewissens stammt also offenbar aus dem Magen. So lange dieser knurrt, muss sie schweigen. Ist er gefüllt und imstande, das Gehirn reichlich zu ernähren, dann verstummt der Egoismus, und Tugend und Moral werden laut. Sie gehen demnach, getreu dem bekannten Worte, Hand in Hand mit der Sättigung und Zahlungsfähigkeit des Menschen.

Diese Theorie der satten Tugend wird mit einer Sicherheit vorgetragen, als sei sie das selbstverständlichste Ding von der Welt, so dass es genüge, sie mit ein paar Worten anzudeuten. Und doch lässt sie nichts weniger als alles unklar, ausgenommen die von niemand bestrittene Tatsache, dass die Gehirnorganisation des Menschen eine mächtige Entwicklung erfahren hat. Wann aber hat diese stattgefunden? Nach Quessel in der Zeit des Überganges von der Wildheit zur Barbarei:

Zur Zeit der Wildheit ein noch aller sittlichen Regungen bares Wesen, finden wir den Menschen am Ende der zweiten vorgeschichtlichen Kulturstufe, im Zeitalter der Barbarei wieder als eine sittliche Persönlichkeit, ausgestattet mit persönlicher Würde, Geradheit, Charakterstärke, Tapferkeit und Barmherzigkeit (!), die ebenso die Bewunderung des zivilisierten Menschen erregte, wie der Wilde seinen Abscheu."

Es ist richtig, dass eine Reihe von Ethnologen annimmt, dass die Periode der Wildheit sowohl gegenüber dem vorhergehenden tierischen wie gegenüber dem folgenden barbarischen Stadium eine Zeit chronischen Hungerns darstellt.

Ich halte diese Auffassung für falsch. Die Ausbreitung des Menschen in Grasebenen und nordische Urwälder sowie das Vorherrschen der Jagd als Ernährungsquelle in dieser Periode macht die Ernährung des Menschen allerdings vielfach unsicherer, bringt zeitweises Hungern mit sich, aber chronischen Hunger wohl nur für einzelne, schwächere Stämme, die in unwirtliche Gegenden verdrängt werden. Gerade diese aber sind es, die heute noch als Wilde fortbestehen, einesteils weil ihre permanente Notlage und ihre Abgeschlossenheit sie daran hinderten, sich weiter zu entwickeln, ja vielfach zu ihrer Verkümmerung führten, andererseits weil die Armut ihres Landes keinen Anreiz für höher entwickelte Stämme bot, sie zu verjagen oder auszurotten. Diese Lumpenproletarier unter den Völkern, die Buschmänner, die Ureinwohner des inneren Australien, die Feuerländer und die Indianer der Halbinsel Neukalifornien das sind die Vorbilder, nach denen heutige Ethnologen den Typus des Wilden der Vergangenheit auch für fruchtbare und wildreiche Gegenden konstruieren.

Wir haben alle Ursache, anzunehmen, dass sich die ehemaligen wilden Bewohner von Gegenden letzterer Art zu den heutigen Feuerländern und Buschmännern etwa ähnlich verhalten wie gewerkschaftlich gut organisierte qualifizierte Lohnarbeiter zu Bettelleuten.

Aber wir brauchen diese Streitfrage nicht weiter zu verfolgen. Nehmen wir an, die Darstellungen der Lubbock, Lippert, Bücher und Konsorten vom ewig trübseligen Hungerstadium der Wildheit träfen zu. Dann würde die Quesselsche Annahme, dass reichere Ernährung die Ursache der „mächtigen Entwicklung der Gehirnorganisation" sei, erst recht hinfällig, denn diese mächtige Entwicklung findet gerade in der Periode des Überganges vom Affenstadium zur Wildheit statt. wo nach Quesselscher Annahme der chronische Hunger am stärksten gewütet haben muss. Zwischen dem Affengehirn und dem Gehirn des niedersten Wilden besteht eine große Kluft, so groß, dass sie bisher das Lieblingsargument unserer Frommen gegen die Abstammung des Menschen vom Affen bildet. Dagegen ist es mir nicht bekannt, dass zwischen den Gehirnen und Schädeln der Wilden und der Barbaren, ja selbst der Wilden und der Menschen der Zivilisation ein merkbarer Unterschied bestünde, ja dass überhaupt die Gehirne und Schädel der Menschen daraufhin schon untersucht worden wären. Die Untersuchungen, die mir Quessel entgegenhalten wird, wollen nicht die Unterschiede zwischen den Angehörigen verschiedener Gesellschaftsstufen, sondern die zwischen verschiedenen Menschenrassen erforschen. Und da finden sich allerdings sehr erhebliche Unterschiede. Welcher Art sollen dagegen die Unterschiede sein, die innerhalb derselben Rasse die Gehirne und Schädel von Angehörigen verschiedener Produktionsstufen, von Wilden, Barbaren, Zivilisierten kennzeichnen? Hat Quessel etwa die geringsten Anhaltspunkte dafür, dass die Gehirne der Germanen vor und nach der Völkerwanderung, die der Araber vor und nach der Sturmflut des Islam verschieden waren? Und doch waren das ursprünglich Barbaren, die dann, namentlich die Araber, im Handumdrehen die römische und hellenische Zivilisation nicht nur aufnahmen, sondern glänzend weiterführten, ehe sie nur im mindesten Zeit hatten, ihre Gehirnorganisation weiter zu entwickeln. Und sahen wir nicht in unseren Tagen, wie Indianer und selbst Australier rasch aus der Wildheit zur Barbarei, ja zur Zivilisation emporgehoben werden konnten, wenn ihre Verhältnisse nur einigermaßen günstig waren? Will Quessel die Möglichkeit leugnen, Wilde zu zivilisieren? Damit würde er unseren Kolonialpolitikern eine große Freude bereiten, sich aber in argen Widerspruch zu den Tatsachen setzen. Wie könnte aber diese Möglichkeit bestehen, wenn eine „mächtige Entwicklung der Gehirnorganisation" den Barbaren über den Wilden erhöbe? Nein, alle Entwicklung der Gehirnorganisation, die seit der Zeit der Wildheit vor sich gegangen sein mag, bedeutet nichts im Vergleich zu jener Entwicklung, die das Gehirn des Wilden über das des Affen erhoben hat, wie auch alle Gründungen unserer Zeit verhältnismäßig armselig sind verglichen mit der Bedeutung der Erfindungen des Wilden, der Herstellung der ersten Werkzeuge und Waffen, der Erzeugung des Feuers, der Sprache.

Aber selbst wenn es wahr wäre, dass nicht zwischen dem Affen und dem Wildem sondern zwischen diesem und dem Barbaren eine gewaltige Kluft der Gehirnorganisation gähnte, die durch eine reichere Ernährung produziert wurde, so fehlt auch der geringste Grund dafür, warum diese „mächtige Entwicklung" des Gehirnes gerade in der Weise erfolgte, dass die egoistischen Gefühle abgeschwächt und die „Sympathiegefühle" gestärkt wurden. Was hat das mit der reicheren Ernährung zu tun? Wieso kommt diese dazu, gerade egoistische Gefühle zu schwächen und Sympathiegefühle zu stärken? Das verrät uns Genosse Quessel mit keiner Silbe. Kann er nur den Schatten einer Tatsache anführen, die bezeugte, dass reichere Ernährung in dieser Weise wirkt? Oder nur den Schatten eines Grundes, der es plausibel machte, dass wir das für möglich halten?

Das darzulegen, wäre in seinem Artikel das Wichtigste gewesen. Aber gerade da, wo er erst recht hätte anfangen sollen, hörte er auf.

Freilich, neben der besseren Ernährung wird von Quessel auch die Arbeit als Ursache des Schwindens der egoistischen Gefühle und des Erstarkens der Sympathiegefühle angeführt. Aber auch damit lässt er uns völlig im Dunkeln. Ist es die Faulheit des Wilden, die jenen „Abscheu" erregt, den Genosse Quessel als Vertreter der zivilisierten Menschheit so lebhaft vor dem Wilden empfindet? Wäre der Barbar deshalb ein besserer Mensch geworden, weil er mehr arbeiten musste? Aber die so „sittliche Persönlichkeit" des Barbaren, die Quessel so sehr imponiert, arbeitet oft viel weniger als der Wilde, beginnt schon, Weiber und Sklaven für sich arbeiten zu lassen. Der Arbeitsfanatismus ist erst eine Frucht der bäuerlichen Wirtschaft. Sollte der die „sittliche Persönlichkeit" geschaffen haben? Aber Quessel kann doch nicht die Auffassung der liberalen Ökonomie für eine Selbstverständlichkeit halten, die keines Beweises bedürfe, dass Arbeit nicht bloß Profit für den Kapitalisten produziere, sondern auch Sittlichkeit für den Arbeiter, also reicheren inneren Gewinn für diesen, indes Nichtarbeit Unsittlichkeit erzeuge, dass daher die Kapitalisten ganz recht hätten, die Arbeitszeit möglichst auszudehnen, da eine Verkürzung der Arbeitszeit eine Vermehrung der Unsittlichkeit bedeute.

Quessel beschränkt sich auf Orakelsprüche, und er muss sich darauf beschränken, da seine Methode von vornherein jede Erkenntnis des Wesens der Sittlichkeit ausschließt. Er sucht diese Erkenntnis zu gewinnen aus der „modernen Gehirnwissenschaft“, der Erforschung der Funktionen des Gehirns. Aber eine solche kann doch höchstens zeigen, in welchen Gehirnpartien die verschiedenen sozialen und nichtsozialen Gefühle und Triebe des Menschen lokalisiert sind. Das ist sicher keine unwichtige Erkenntnis, aber über das Wesen und die Ursachen der Sittlichkeit sagt sie uns nichts, kann sie uns nichts sagen.

Wir kommen auch nicht weiter, wenn wir erfahren, dass das Pflichtgefühl angeboren ist, dass man es nicht erwerben, sondern nur ererben kann. Das erinnert an die bekannte „Katechisation" Goethes:

Lehrer.

Bedenk, o Kind! Woher sind diese Gaben!

Du kannst nichts von dir selber haben.

Kind.

Ei! alles habe ich von Papa.

Lehrer.

Und der, woher hat's der?

Kind.

Vom Großpapa.

Lehrer.

Nicht doch, woher hat's denn der Großpapa bekommen?

Kind.

Der hat's genommen.

Auch das Sprachvermögen vererbt sich mit der Gehirnorganisation, und man kann durch Untersuchung des Gehirns die Teile ausfindig machen, in denen dies Vermögen sitzt, aber niemand wird glauben, auf diesem Wege das Wesen und den Ursprung der Sprache erforschen zu können. Wenn ich einen Mechanismus kenne, weiß ich noch lange nicht, wie er entstanden ist und welchen Zwecken er dient. Ein Organ oder bestimmte Funktionen desselben, die nicht als anscheinend zufällige Eigentümlichkeit einzelner Individuen, sondern als charakteristisches Merkmal einer ganzen Art auftreten, können aber nur erklärt werden entweder als eine notwendige Folge der allgemeinen Lebensbedingungen oder als ein Vorteil, eine Waffe im Kampfe ums Dasein für die Erhaltung der Art.

Das gilt auch für das Gehirn und seine Funktionen, also auch für die sittlichen Empfindungen. Und hier trifft sich der Darwinismus mit dem Marxismus. Darwin wie Marx betrachten die gesellschaftlichen Beziehungen und die Lebensbedingungen der Menschen nicht als das Produkt ihrer sittlichen Empfindungen und Anschauungen, sondern umgekehrt, die Gesellschaft ist für sie eine Lebensbedingung für den Menschen, aus der mit Notwendigkeit seine sittlichen Empfindungen und Anschauungen entspringen. Vielmehr die Organisation und das Funktionieren der Gesellschaft als die Organisation und das Funktionieren des Gehirns müssen wir untersuchen, wollen wir zum Verständnis der Sittlichkeit gelangen.

Von dieser Auffassung zeigt sich Quessel gänzlich unberührt. Gleich Bücher, der selbst wieder nur die herkömmliche liberale Auffassung weiterführt, weiß er nichts von der Bedeutung der Gesellschaft für den Daseinskampf des Menschen und seiner tierischen Vorfahren. Die Vereinigungen der Wilden sagt Bücher, „erleichtern dem einzelnen nicht die Existenz“. (a. a. O., S. 31). Gleich Bücher nimmt Quessel an, dass die große Hilflosigkeit und stete Notlage des Wilden den größten Egoismus, vollständige Gleichgültigkeit für seine Genossen in ihm erzeugte, indes gerade diese Hilflosigkeit des Einzelnen den stärksten Kitt bildete, der ihn an seine Gesellschaft fesselte, ohne die er verloren war.

Schon den Affen leistet die Gesellschaft wichtige Dienste. Darwin berichtet darüber:

Der Anführer einer Truppe Affen dient als Wache und stößt Rufe aus, die sowohl Gefahr als Sicherheit verkünden. Soziale Tiere verrichten einander manche kleine Dienste. … Affen suchen einander äußere Schmarotzer ab, und Brehm führt an, dass, nachdem ein Trupp des Cercopithecus priscoviridis (Meerkatze) durch ein dorniges Gebüsch geschlüpft war, jeder Affe sich auf einem Zweige ausstreckte und ein anderer sich zu ihm setzte, ,gewissenhaft' seinen Pelz untersuchte und jeden Stachel auszog.

Tiere leisten sich auch noch wichtigere Dienste. … Die Hamadryaspaviane drehen Steine um, um Insekten zu suchen usw., und wenn sie an einen großen kommen, wenden ihn so viele, als herankommen können, zusammen um und teilen die Beute. Soziale Tiere verteidigen sich gegenseitig. … Ein Adler ergriff einen jungen .…Cercopithecus, konnte ihn aber, da sich jener an einen Zweig klammerte, nicht sofort wegschleppen. Der Affe schrie laut um Hilfe, worauf die anderen Tiere der Truppe mit vielem Gebrüll zum Entsatz herbeieilten, den Adler umringten und ihm so viel Federn ausrissen, dass er nicht länger an seine Beute dachte, sondern nur daran, wie er wegkäme. Dieser Adler, bemerkt Brehm, wird sicher niemals wieder einen einzelnen Affen in einer Truppe angreifen“ (Darwin, „Abstammung des Menschen", deutsche Übersetzung, 1875, I, S. 130, 131).

Nicht nur ihresgleichen, sondern auch Freunde aus anderen Tierarten werden vom sozialen Tiere kraftvoll verteidigt. Dass der Hund den Menschen und dessen Herden schützt, ist bekannt. Aber von anderen Tieren wird dasselbe berichtet.

Johnson erzählt, dass ein Tiger den hintersten Mann einer Büffelkarawane angriff. Ein Hirt, der Büffel in der Nähe hütete, eilte jenem Manne zu Hilfe und verwundete das Raubtier mit dem Schwerte. Dieses ließ sofort seine erste Beute los und packte jetzt den Hirten, die Büffel aber stürzten, als sie ihren Herrn in Gefahr sahen, augenblicklich auf den Tiger los, warfen ihn sich einige Male mit den Hörnern zu und misshandelten ihn bei diesem Spiele derart, dass er tot auf dem Platze blieb" (Zell, „Streifzüge durch die Tierwelt“, S. 40).

Man sieht, welch mächtige Waffe die Gesellschaft schon in der Tierwelt für den Kampf ums Dasein bildet. Für den Menschen wurde sie die stärkste und wirksamste Waffe. Quessel erwähnt sie gar nicht; ganz wie seine liberalen Vorbilder, die darin wieder nur die Anschauung des Christentums weiterführen, sieht er in der Sittlichkeit nicht ein Verhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, sondern bloß eines zwischen Individuum und Individuum. Er kennt nur Pflichten gegen den „Nächsten" und nicht gegen die Gesellschaft; dem entspricht auch seine Terminologie. Er spricht nicht von sozialen Trieben, sondern von altruistischen (alter – der andere), ganz im Jargon des herkömmlichen Liberalismus. Und diese Triebe sind ihm gleichbedeutend mit den „Sympathiegefühlen", mit dem Mitleid. So bezeichnet er auch den Barbaren als eine „sittliche Persönlichkeit", weil er ausgestattet sei mit „persönlicher Würde, Geradheit, Charakterstärke und Barmherzigkeit". Er muss diese letztere Eigenschaft direkt erfinden, denn es gab kein unbarmherzigeres Geschlecht als die Barbaren, dagegen vergisst er ganz deren hervorragendstes Merkmal, ihr Solidaritätsgefühl, ihre unbedingte Unterordnung der eigenen Persönlichkeit unter die Gesamtheit, das keine Periode so stark betont wie die Barbarei. Durch diese individualistische Auffassung, dieses völlige Ignorieren der Gesellschaft verschließt sich Quessel alle Möglichkeit einer richtigen Erkenntnis der Sittlichkeit.

So kann zum Beispiel das bloße „Sympathiegefühl" nicht eine sittliche Anschauung erklären, wie die Brandmarkung der Blutschande. Wird durch den geschlechtlichen Verkehr zwischen Bruder und Schwester irgend einem lebenden Individuum wehe getan? Nur durch das gesellschaftliche Interesse lässt sich die Verpönung dieses Verkehrs erklären, da die Inzucht die Rasse zu verschlechtern droht.

Wie soll andererseits das bloße Sympathiegefühl den anscheinenden Widerspruch erklären, dass derselbe Wilde, der sich gegen die Genossen des Stammes oder der Horde aufs Hingebendste benimmt, für jedes andere menschliche Individuum dagegen Gleichgültigkeit oder gar Feindseligkeit, ja die wildeste Grausamkeit bereit hat?

Wer die Bedeutung der Gesellschaft für die Sittlichkeit verkennt, kommt dann dahin, dass er Kindes- und Gattenliebe als Ausdrücke sozialen Empfindens, ja als die wichtigsten Ausdrücke desselben betrachtet, wie es Quessel tut. Und doch sind jene von diesen wesentlich verschieden. Die Liebe der Mutier zum Kinde, des Männchens zum Weibchen ist nicht auf die sozialen Tiere beschränkt. Man findet sie auch bei Tieren mit starken „egoistischen Raubtierinstinkten.". Auch die Löwin verteidigt mit Aufopferung ihres Lebens ihr Junges und die Gattenliebe ist bei manchen Raubtieren viel stärker entwickelt als bei manchen sozialen Tieren, bei denen vielfach Polygamie oder regellose Geschlechtervermischung zu finden ist. Es gibt sogar soziale Tiere, bei denen der soziale Trieb nur auf die Weibchen mit ihren Jungen beschränkt ist, zum Beispiel bei den Gemsen. Die erwachsenen Männchen leben da für sich allein. Von dauernder Gattenliebe und ehelicher Treue kann unter solchen Umständen nicht die Rede sein. Und doch wäre derjenige auf dem Holzweg, der deswegen den weiblichen Gemsen nur schwache soziale Triebe zusprechen wollte.

Natürlich soll damit nicht gesagt sein, dass Kindes- und Gattenliebe unvereinbar seien mit sozialen Trieben. Aber jene Empfindungen unterliegen bei sozialen Tieren der Beeinflussung durch die Gesellschaft und können je nach deren Formen die verschiedensten Gestalten annehmen. Wenn Quessel nach Bücher zum Beispiel in der Tötung von Kindern ein Zeichen des Mangels von „Sympathiegefühlen" steht, so kann sie vielmehr gerade ein Zeichen eines starken sozialen Empfindens sein, das über die natürlichen mütterlichen Empfindungen den Sieg davonträgt. In der modernen Gesellschaft wird der Kindesmord von unverheirateten Müttern aus Scham oder Furcht vor der „Schande" verübt, das heißt aus Rücksicht auf das Urteil der Gesellschaft, das den außerehelichen Geschlechtsverkehr verdammt. Bei den Wilden ist es wieder die Rücksicht auf das Wohl des Stammes, das den Mord von Kindern gebietet, die dem Stamme zur Last würden.

Quessel verweist aus die hohe „sittliche Persönlichkeit" des Barbaren, „die ebenso die Bewunderung des zivilisierten Menschen erregt, wie der Wilde seinen Abscheu". Aber bei diesen so hoch gepriesenen „sittlichen Persönlichkeiten" ist nicht bloß die Tötung Neugeborener noch im Schwange, bei ihnen wird die Übermacht der Gesellschaft über das Individuum so stark, dass sie es für eine verdienstliche Tat ansehen, wenn der Vater um des Gemeinwesens willen ein erwachsenes Kind opfert, was doch eine weit größere Grausamkeit ist, als die Tötung eines bewusstlosen Neugeborenen. Agamemnon schlachtet seine Iphigenie, um der Gemeinschaft zu helfen, und der römische Feldherr Titus Manlius Torquatus ließ seinen eigenen Sohn hinrichten, weil dieser aus Kampfeslust einen Kriegsbefehl missachtet hatte. Das sind freilich nur sagenhafte Berichte, aber sie entsprachen dem Denken und Fühlen ihrer Zeit, und noch Schlosser feierte das „Beispiel aufopfernder Vaterlandsliebe", das „Manlius Torquatus durch die Hinrichtung seines Sohnes den Römern gab".

Indessen brauchen wir nur der Empfindungen unseres heutigen proletarischen Klassenkampfes zu gedenken, wo der Arbeitswillige verachtet wird, der den Streik bricht, um Weib und Kind zu ernähren, und der standhafte Streikende sittlich weit höher gestellt wird, der um der Gesamtheit willen Weib und Kind hungern lässt, um zu sehen, wie Kindes- und Gattenliebe keineswegs ohne weiteres mit den sozialen Trieben zusammenfallen und das Wesen der Sittlichkeit erschöpfen.

Nur durch das Verständnis der Gesellschaft kommen wir zum Verständnis der Sittlichkeit. Wir werden nie dazu gelangen durch die bloße Untersuchung des Individuums. Die Untersuchung der Gehirnorganisation allein bringt uns da ebenso wenig werter, wie die der reinen Vernunft oder des reinen Willens.

Ein vollständiges Verständnis der Gesellschaft ist aber nur noch vom sozialistischen Standpunkt aus möglich, weil die Entwicklung der Gesellschaft heute zum Sozialismus führt und daher jeder, der diesen von vornherein ablehnt. sich auch die Tore zur Erkenntnis jener verschließt. So trennen sich auch in der Ethik bürgerliche und proletarische Wissenschaft, und verurteilt sich jeder Sozialist zur Unfruchtbarkeit, der sich von dem Anspruch der ersteren betören lässt, dass sie die Wissenschaft darstelle.

1 Tübingen 1904, Lauppsche Buchhandlung.

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