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Karl Kautsky 19061128 Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution

Karl Kautsky: Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution

[Nach „Die neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie“, 25.1906-1907, 1. Bd.(1907), H. 9, S. 284 - 290 und H. 10, S. 324 – 333, 28. November und 5. Dezember 1906]

Vorwort Lenins zu einer russischen Ausgabe

Vorwort Trotzkis zu einer anderen russischen Ausgabe]

1. Die Agrarfrage und die Liberalen

Man kann die russische Revolution von einem doppelten Gesichtspunkt aus betrachten: Als Bewegung zum Sturze des Absolutismus und als das Erwachen der großen Masse des russischen Volkes zu selbständiger politischer Tätigkeit. Der erstere Gesichtspunkt trifft nur die Oberfläche der Erscheinungen, von ihm aus gewinnt es bisher den Anschein, als sei die Revolution gescheitert. Aber von einem wirklichen Scheitern könnte man erst dann reden, wenn die Bewegung, auch vom zweiten Gesichtspunkt aus betrachtet, wieder zur Ruhe käme. Gelingt es, das russische Volk wieder in die frühere politische Teilnahmslosigkeit zurückzuversetzen, dann allerdings hat der Absolutismus gesiegt und die Revolution ihr Spiel verloren. Gelingt das aber nicht, dann ist der Sieg der Revolution sicher, wenn auch der Absolutismus den Schein der Herrschaft durch Ermordung seines Volkes, Verschleuderung seines Reichtums, Verwüstung seines Landes noch einige Zeit fort fristen mag.

Die Masse des russischen Volkes besteht aber aus Bauern. Was diese bewegt, ist die Agrarfrage. So tritt diese in Russland immer mehr als diejenige Frage in den Vordergrund, von deren Lösung das Schicksal der Revolution abhängt. Wenigstens gilt das von der Masse des eigentlichen Russland, von der allein wir hier handeln, also nicht etwa von Polen, Finnland, dem Kaukasus.

Die Bauern bilden in Russland nicht bloß die ungeheure Masse der Bevölkerung, auf der Landwirtschaft beruht auch das ganze Gebäude der Volks- und Staatswirtschaft. Mit jener bricht auch dieses zusammen. Das hat unter den westeuropäischen bürgerlichen Beobachtern der revolutionären Situation Russlands Martin in seiner Schrift über die Zukunft Russlands sehr gut erkannt, und darauf beruht die Sicherheit seiner Prophezeiung des russischen Staatsbankrotts, die in Deutschland kürzlich solches Aussehen erregte, allerdings nur in bürgerlichen Kreisen, die von der sozialistischen Kritik der russischen Wirtschaftspolitik nichts wussten.1

Die Bauern befriedigen, die Landwirtschaft auf eine gesunde ökonomische Basis stellen, das ist die Vorbedingung, die erfüllt sein muss, ehe die Bevölkerung Russlands sich wieder beruhigen und die revolutionären Bahnen verlassen wird.

Das erkennen heute auch fast alle Parteien Russlands an. Aber freilich, in der Art, wie sie den Bauern helfen wollen, unterscheiden sie sich sehr. Über die Haltung der Liberalen gibt dem deutschen Leser guten Aufschluss eine jüngst erschienene Schrift: „Zur Agrarbewegung in Russland"2, die die Übersetzung zweier russischer Abhandlungen enthält, von Petrunkjewitsch, dem bekannten Politiker der „Kadetten", und von dem Moskauer Professor A. A. Manuilow, sowie endlich eine Sammlung der Agrarprogramme verschiedener Parteien Russlands.

Wie alle Welt, gestehen auch die Liberalen die Rückständigkeit und den Niedergang der russischen Landwirtschaft ein.

Unsere höchsten Ernten", schreibt Manuilow, „erscheinen annähernd zweimal geringer als die Ernten anderer Länder. Wenn man die durchschnittliche Getreideernte in Russland mit 100 annimmt. so beträgt die Ernte in den anderen Ländern für Roggen 230, für Weizen 280, für Hafer 277 usw. Der Reinertrag an Getreide und Kartoffeln beträgt pro durchschnittliche Saatfläche des russischen Bauern (0,74 Desjatinen3 20,4 Pud, während in anderen Ländern auf gleicher Fläche 56,9 Pud erzielt werden würde, in Belgien sogar 88, im Vereinigten Königreich (England) 84,4 in Japan 82,8 Pud usw. … A. I. Tschuprow … weist gleichfalls darauf hin, dass unsere Ernten aus den Bauernländern mit ihren 35 bis 40 Pud Roggen pro Desjatine so niedrig sind, dass selbst die allerprimitivsten, allen zugänglichen Verbesserungen ausreichen, um die Ernte um die Hälfte ihres gegenwärtigen Standes zu erhöhen. Aber die Technik verfügt doch über unvergleichlich machtvollere Mittel. Eine Ernte von 30 metrischen Zentnern4 pro Hektar oder von 200 Pud pro Desjatine wird in Ländern entwickelter Technik als außerordentlich niedrig angesehen" (S. 61).

Und das wird nicht besser, sondern immer schlechter. So schreibt Manuilow weiter:

Gegenwärtig gibt es bei den Bauern, wie das Ministerium für die Landwirtschaft bemerkt, einen sehr minimalen Viehstand, und doch kann ohne denselben keine Landwirtschaft existieren, in 50 Gouvernements des europäischen Russland ist die Zahl der Pferde für das Jahrzehnt von 1888 bis 1898 von 19,6 Millionen auf 17 Millionen und des großen Hornviehs von 34,6. Millionen aus 24,5 Millionen Häupter gefallen.5 Auch die Ortskomitees haben zur Aufklärung dieser Verhältnis viel beigetragen und das Gesagte bestätigt. Nach ihren Berichten reicht zum Beispiel im Gouvernement Nischni-Nowgorod der vorhandene Dung nur für ein Fünftel bis ein Drittel des Anteils aus, weswegen die Durchschnittsernte außerordentlich niedrig ausfällt: 38 Maß Roggen und 49 Maß Hafer. Im Michailower Kreis des Gouvernements Rjasan wird nur ein Zehntel bis ein Achtel der Fläche gedüngt. Im Kreise Klinsk des Gouvernements Moskau wird zweieinhalbmal weniger gedüngt. als es die Normalfläche erfordert" (S. 63)

In der Anerkennung der Bedeutung dieser Tatsachen sind Liberale und Sozialisten vollständig einig. Aber es zeigt sich sofort die liberale Halbheit, sobald es gilt, die Ursachen der Erscheinungen aufzudecken und die Heilmittel zu ihrer Beseitigung vorzuschlagen. Die Halbheit auf dem letzteren Gebiet ist durch ihre Klassenlage gegeben, sie erzeugt aber notwendig auch die auf jenem Gebiet. Wer nicht entschlossen ist, das Übel radikal, mit der Wurzel auszurotten, muss auch davor zurückschrecken, seine letzten Wurzeln bloßzulegen.

Die Liberalen sehen die Ursachen des Niederganges der russischen Landwirtschaft in der Art der Bauernbefreiung im Jahre 1861. Die Bauernschaft wurde damals um einen Teil ihres Bodens betrogen, sie erhielt nicht genug und meist schlechten Boden. War ihr Anteil damals schon unzureichend so hat er sich seitdem noch verringert, da die Bevölkerung stark gewachsen ist. Manuilow schreibt darüber:

Im Jahre 1860 betrug die landliche Bevölkerung 50 Millionen Seelen, während die gleiche Bevölkerung am Ende des Jahres 1900 annähernd 86 Millionen betrug. … Gleichzeitig mit diesem Wachstum ist die durchschnittliche Anteilsgröße gesunken. … Nach den Angaben der Kommission zur Erforschung der Verarmung des Zentrums. betrug der Durchschnittsanteil pro Kopf (männlich) im Jahre 1860 4,8 Desjatinen (rund 5 Hektar). … Im Jahre 1880 war der Durchschnittsanteil pro männliche Seele auf 3,5, im Jahre 1900 auf 2,6 Desjatinen gesunken" (.a. a. O., S. 51).

Die hier angeführten Tatsachen sind die Wahrheit, aber für die Erkenntnis der Ursachen des Niederganges der bäuerlichen Wirtschaft sind sie nur die halbe Wahrheit.

Wie in Russland wurden bei der Aufhebung der feudalen Lasten auch anderwärts die Bauern behandelt und um ihr Gut betrogen. Das hat in anderen Staaten vielfach zum Untergang bäuerlicher Betriebe geführt, keineswegs aber zum Niedergang der Landwirtschaft, zur Verschlechterung des Betriebs im Allgemeinen, zur Zunahme der Missernten. Im Gegenteil. Die Verarmung der Bauern schuf das ländliche Proletariat, dessen Existenz unter der gegebenen Warenproduktion eine der Vorbedingungen einer auf Lohnarbeit begründeten kapitalistischen Landwirtschaft bildete. Diese Verarmung führte dahin, dass ein Teil der Bauern im Proletariat unterging, ein anderer Teil aber auf deren Kosten zu Wohlstand emporstieg. Aus den Ruinen der zertrümmerten Bauernwirtschaften erhob sich eine neue, höhere Produktionsweise. Von alledem haben sich in Russland nur rohe Anfänge gezeigt. Woher kommt. das? Das ist die entscheidende Frage.

Man darf mitnichten den Dorfkommunismus anklagen, dass er das Aufkommen einer kapitalistischen Landwirtschaft unmöglich gemacht habe. Er ist in raschem Verfall begriffen und hat nicht die Kraft gehabt, zu hindern, dass sich unter den Dorfbewohnern landlose Proletarier hier und Wucherer dort bildeten, dass sich kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse der mannigfachsten und scheußlichsten Art entwickelten. So ist der Dorfkommunismus heute nirgends mehr in Russland eine wirksame Schranke gegen das Eindringen des kapitalistischen Betriebs in die Landwirtschaft.

Alle seine Bedingungen waren vor Jahrzehnten bereits gegeben, bis aus zwei – aber gerade das sind die wichtigsten von allen: es fehlte bisher die nötige Intelligenz der landwirtschaftlichen Bevölkerung, die Fähigkeit, sich aus dem Kreise des Gewohnten herauszuheben und aus dem sich heran drängenden Neuen das Passende und Wirkungsvolle sicher auszuwählen, was eine Reihe von Kenntnissen und Methoden erfordert, die zu erlangen ohne eine gute Schulbildung unmöglich ist. Dann aber war das Kapital selbst, das nötige Geld nicht vorhanden. Damit fehlten jene zwei Bedingungen, die für die Entwicklung kapitalistischer Produktion die größte Bedeutung haben. Namentlich die letztgenannte, die Ansammlung genügender Geldmassen in einzelnen handelt, ist die unentbehrlichste von allen, sollen sich auf Grundlage der Warenproduktion höhere Produktionsformen, die Anwendung der Wissenschaft in der Produktion, entwickeln.

Neben dem Mangel an Intelligenz ist der Mangel an Kapital die entscheidende Ursache des landwirtschaftlichen Notstandes in Russland. Der Mangel an Land erklärt, warum die Bauern verarmen, er erklärt nicht, warum die Bauern trotzdem unter immer elenderen Verhältnissen ihren Betrieb fortsetzen, warum nicht an ihre Stelle eine Klasse wohlhabender Landwirte tritt, die die verarmten Bauerngüter auskauft und mit ausreichenden Mitteln rationell bewirtschaftet; warum auch die größeren Betriebe in der Mehrzahl noch irrationell und ohne ausreichendes Kapital bewirtschaftet werden und die verkommenen bäuerlichen Wirtschaften nicht verdrängen. Woher das rührt, diese Frage gilt es zu beantworten.

2. Der Kapitalmangel Russlands

Fragt man nach der Ursache der ökonomischen und intellektuellen Rückständigkeit Russlands, so wird diese Frage nicht einfach mit dem Hinweis daraus beantwortet, dass die moderne Produktionsweise eben in Westeuropa ihren Ausgang genommen habe und nur langsam nach dem Osten dringe. Denn da erhebt sich sofort die weitere Frage, warum sie gerade nach dem Osten so langsam dringt. Zur selben Zeit, als Russland mit Westeuropa in nähere Beziehungen trat, stand seine Landwirtschaft fast schon auf ihrer heutigen Höhe, war das Reich von zahlreichen fleißigen Bauern erfüllt. Nordamerika dagegen bildete damals eine Wildnis, in der sich einige dürftige Stämme von Wilden und Barbaren verloren. Und doch ist es seitdem die größte kapitalistische Macht der Welt geworden.

Die Ursachen dieses Unterschieds sind mannigfache, sie lassen sich aber alle auf den Gegensatz der politischen Organisation des Landes zurückführen. Nordamerika wurde von Bauern und Kleinbürgern kolonisiert, die den Kampf für die Demokratie gegen den ankommenden Absolutismus in Europa geführt hatten und die Freiheit in der Wildnis Amerikas der Unterwerfung unter die absolute Staatsgewalt in der Zivilisation Europas vorzogen. Russland war ein Haufen unzähliger Dorfgemeinden, von denen eine sich um die andere nicht kümmerte, die sich mit der Demokratie in der Gemeinde begnügten, von der Staatsgewalt nur ganz dunkle Ahnungen besaßen und sie ruhig absoluten Herrschern überließen, deren Armeen sie von den Mongolen befreiten und vor jeglichem äußeren Feinde zu schützen hatten.

In Amerika grenzenlose politische Freiheit, die die freieste Betätigung eines jeden ermöglichte; für die Kolonisten, die aus Europa zuzogen, ganz neue Verhältnisse, deren Erkenntnis und Bewältigung die größte geistige und physische Anspannung eines jedem seine freieste Betätigung, die größte Rücksichtslosigkeit und die Überwindung zahlloser Vorurteile zur Lebensbedingung machten.

In Russland jahrhundertelang nicht bloß keine Spur politischer Freiheit, polizeiliche Bevormundung des Staatsbürgers bei jedem Schritt, den er außerhalb der Dorfgemeinde zu tun unternahm, sondern auch nur geringes Bedürfnis, sich frei zu regen. Ein „gesunder Pflanzenschlaf", ein Hindämmern in ererbten kleinen Verhältnissen, die sich in Generationen nicht änderten und jedes Vorurteil immer tiefer einwurzeln ließen, jede Energie lähmten.

Während so die Verhältnisse in der europäischen Bevölkerung Nordamerikas alle jene seelischen Eigenschaften züchteten, die dem Menschen in der kapitalistischen Produktionsweise die Oberhand gewähren und die Entwicklung jener Produktionsweise begünstigen, wurden durch die Verhältnisse Russlands gerade solche Eigenschaften gezüchtet, die den damit Behafteten im kapitalistischen Konkurrenzkampf erliegen lassen und die die kapitalistische Entwicklung hemmen.

Zu alledem kam in Russland seit Peter dem Großen eine Politik, auf deren Resultate ich schon in meiner Artikelserie über den amerikanischen Arbeiter im Kapitel, das vom russischen Kapitalismus handelt, hingewiesen habe („Neue Zeit", XXIV, 1, S. 677 ff..) Ich kann das dort Ausgeführte hier nur wiederholen.

Peter I. eröffnete Russland der europäischen Zivilisation, das heißt dem Kapitalismus, er führte aber auch Russland ein in die Reihe der europäischen Großmächte, verwickelte es in deren Konflikte, zwang es, den Konkurrenzkampf an militärischen Rüstungen zu Wasser und zu Land mit ihnen auszunehmen und sich kriegerisch mit ihnen zu messen. Das geschah zu einer Zeit, wo in Westeuropa der Kapitalismus bereits gewaltig erstarkt war und die Produktivkräfte mächtig entfaltet hatte. Trotzdem führte der militärische Konkurrenzkampf auch in Westeuropa eine Reihe von Mächten zum Bankrott, so Spanien und Portugal, verlangsamte er in vielen anderen die ökonomische Entwicklung, mit Ausnahme Englands, das durch seine insulare Lage davor bewahrt blieb, sich in Landkriegen erschöpfen zu müssen, seine ganze Kraft der Kriegsflotte zuwenden konnte, durch sie zur Beherrscherin des Meeres wurde, aus dem Seeraub, Sklavenhandel, Schmuggel, der Ausplünderung Indiens reichen Gewinn zog und so den Krieg zu einem höchst profitablen Geschäft, zu einem Mittel der Aufhäufung von Kapital machte, wie es für Frankreich später die Revolutionskriege wurden, die den siegreichen Heeren der Republik und des Kaiserreichs gestatteten, die reichsten Länder des europäischen Kontinents, Belgien, Holland, Italien zu plündern und auch aus anderen noch reiche Beute zu ziehen.

So profitable Kriege hat Russland nie zu führen bekommen. Seiner Entwicklung als Seemacht stellten sich eine Reihe schwerer Hindernisse entgegen, zu Land aber grenzt es nur an arme Nachbarn. Wäre es ihm gelungen, Japan niederzuringen und die Verspeisung Chinas anzubahnen, so hätte es zum ersten Mal seit seinem Austreten als europäische Großmacht in der Weltgeschichte aus einem Kriege erheblichen ökonomischen Nutzen ziehen können. Aber die Ironie der Weltgeschichte wollte, dass gerade dieser Krieg seinen Bankrott besiegelte.

Ökonomisch die schwächste und rückständigste der europäischen Großmächte, musste der Zarismus seit dem achtzehnten Jahrhundert, um sich unter ihnen zu hehaupten, immer mehr sein eigenes armes Volk plündern, ihm jede Anhäufung von Reichtum unmöglich machen. Bald gesellten sich zum Militarismus Staatsschulden, um diese Plünderung zu steigern.

In keinem Lande der Welt, auch nicht dem reichsten, genügt der Ertrag der Steuern, um größere Aufwendungen zu decken, wie sie der Militarismus von Zeit zu Zeit notwendig macht, am kolossalsten in Kriegszeiten, aber in bedeutendem Umfange schon bei Kriegsrüstungen, Neubewaffnungen und dergleichen. In solchen Fällen sind seit langem die Staatsschulden der probate Ausweg, die Mittel für diese größeren Aufwendungen sofort aufzubringen. Die Verzinsung der Staatsschulden ist stets eine schwere Last für die steuerzahlende Bevölkerung, aber sie kann ein Mittel werden, die Kapitalistenklasse des Landes zu bereichern, wenn diese der Gläubiger des Staates ist. Er expropriiert dann die arbeitenden Klassen, um die Kapitalistenklasse zu bereichern, vermehrt ihren Reichtum und gleichzeitig die Zahl der zu ihrer Beringung stehenden Proletarier.

Aber in Russland gab es keine Kapitalistenklasse, die imstande gewesen wäre, die staatlichen Kapitalbedürfnisse zu decken, und der stete Steuerdruck erschwerte es sehr, dass eine solche Kapitalistenklasse in ausreichendem Maße erstand. So mussten vornehmlich von ausländischen Kapitalisten die Gelder geliehen werden, die erheischt waren zur Füllung der Staatskassen, die der nimmersatte Militarismus geleert. Diese Kapitalien wurden nicht produktiv angelegt, sie dienten bloß der Soldatenspielerei und daneben noch höfischem Prunk. Die Zinsen dafür flossen aber ins Ausland, und neben dem Militarismus bildeten sie bald eine sich stets ausdehnende zweite offene Wunde, der das Lebensblut Russlands entquoll.

Der Krimkrieg mit seinen Konsequenzen brachte dann seit den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts der russischen Regierung die Erkenntnis bei, auf wie tönernen Füßen der Koloss ihrer Macht beruhte, denn diplomatische und militärische Kraftentfaltung ist auf die Dauer unmöglich ohne ökonomische Kraft. Diese entspringt aber in der modernen Gesellschaft weit weniger aus der Landwirtschaft, wie ans einer kapitalistischen Industrie, und schon gar nicht aus einer primitiven, verarmten Landwirtschaft. So machte sich denn der russische Absolutismus daran, das Versäumte möglichst rasch nachzuholen. Er suchte eine kapitalistische Großindustrie zu schaffen durch Gewährung energischer Staatshilfe. Da aber der Staat von der Landwirtschaft lebte, so bedeutete das nichts anderes, als Unterstützung der Industrie durch stärkere Belastung der landwirtschaftlichen Bevölkerung. So wurde wie die kriegerische Eroberungspolitik auch die friedliche Industriepolitik ein Mittel, die Landwirte und namentlich die Bauern zu plündern und herabzudrücken.

Und auch diese friedliche Politik führte wie die kriegerische zu steigender Verschuldung an das Ausland. Denn das Wachstum des inneren Kapitals ging der russischen Regierung zu langsam vor sich; sie wollte namentlich in jenen Industriezweigen, die für kriegerische Rüstungen am bedeutendsten sind, die Kanonen und Gewehre, Schiffe und Eisenbahnen bauen und mit Material versehen, vom Ausland rasch unabhängig werden. Da das inländische Kapital ihr für die Begründung der dazu erforderlichen riesigen Unternehmungen zu langsam wuchs, suchte sie in den letzten Jahrzehnten in steigendem Maße ausländisches Kapital nach Russland zu locken, das besonders in der Kohlen-, Eisen- und Petroleumindustrie des Südens stark vertreten ist. Aber nicht vermehrte Unabhängigkeit, sondern Abhängigkeit vom Anstand war die Folge dieser treibhausmäßigen Züchtung einer modernen Großindustrie.

Sicher ist das Kreditwesen ein mächtiger Hebel der Entwicklung für die kapitalistische Industrie. Wenn der feudale Edelmann seine Einnahmen dadurch verringert und schließlich daran zugrunde geht, dass er vom Wucherer Geld pumpt und die Schuld verzinst, so gewinnt der industrielle Kapitalist erhöhten Profit, wenn er Geld leiht und verzinst. Denn er wendet dieses Geld nicht wie der Edelmann zu unproduktivem Konsum, sondern produktiv an, so dass es ihm neben dem Kapitalzins noch einen Profit bringt. Wenn er Geld zu 4 Prozent leiht und es so anwendet, dass es ihm 10 Prozent abwirft, so gewinnt er 6 Prozent. In dieser Form, als Geldkapital, kann das ausländische Kapital wohl ein Mittel werden, in ökonomisch zurückgebliebenen Ländern das Aufkommen einer Kapitalistenklasse zu beschleunigen.

Aber um Geldkapital zu erhalten, muss man Kredit, muss man schon ein gut gehendes Geschäft haben, und darüber verfügte Russland nicht. Wohl floss ausländisches Kapital in Milliarden nach Russland zur Förderung seiner Industrie, aber nur zum geringsten Teil als Kapital, das russischen Unternehmern zur Anlegung und Erweiterung großindustrieller Anlagen geborgt wurde. Diese Anlagen wurden vielmehr meist direkt von ausländischen Kapitalisten gegründet und blieben in deren Besitz, so dass ihnen auch der gesamte Profit, nicht bloß der Kapitalzins, zufloss und in Russland bloß der Arbeitslohn zurückblieb. Diese Methode der Heranziehung ausländischen Kapitals war nur ein Mittel, das Wachstum eines starken Proletariats, nicht aber das einer starken Kapitalistenklasse innerhalb Russlands zu fördern. Die Verarmung Russlands wurde dadurch nicht gehemmt, sondern noch gefördert.

Diese Tendenz tritt aber am deutlichsten und entschiedensten auf in der Landwirtschaft, jenem der großen Erwerbszweige, der überall am spätesten und am schwächsten der die Produktivität der Arbeit steigernden Wirkungen der kapitalistischen Produktionsweise teilhaftig wird und der gleichzeitig mehr als jeder andere eine intelligente Bevölkerung voraussetzt, soll er sich der modernen Behelfe und Methoden der Produktion bemächtigen können. Nicht verbesserte Schulen, nicht Geld zur Anschaffung künstlicher Dünger, vervollkommneter Werkzeuge und Maschinen brachte der Kapitalismus in Russland den Bauern, sondern nur vermehrte Ausbeutung. Ging in Westeuropa das Wachstum der Ausbeutung des Bauern durch Staat und Kapital Hand in Hand mit einer Zunahme der Produktivität der landwirtschaftlichen Arbeit, so zieht in Russland umgekehrt das Wachstum der Ausbeutung des Bauern, die aus der zunehmenden Konkurrenz Russlands mit den kapitalistisch einwickelten Nationen entspringt, einen steten Rückgang der Produktivität der Landwirtschaft nach sich. Es wachsen die Missernten, bei jeder Hungersnot wird aber natürlich früher das Vieh geopfert, ehe die Menschen selbst dem Hunger erliegen. So hinterlässt jede Missernte eine Verringerung des Viehstandes, die dann wieder einen Mangel an Dünger, eine verschlechterte Feldbestellung, also eine weitere Verschlechterung der Landwirtschaft, neue, vergrößerte Missernten nach sich zieht. Mit dem Bauern versinkt aber die ganze Nation in Elend, denn mit ihm geht der innere Markt der russischen Industrie unter, der einzige, über den sie verfügt, da sie auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig ist; mit ihm geht aber auch der Staat seinem Bankrott entgegen, trotz jener großen natürlichen Reichtümer, von denen die Börsenmänner Westeuropas schwärmen, wenn sie dem blutigen Zaren neue Milliarden zu Füßen legen wollen. Ja, wenn diese Milliarden zur Hebung dieser Reichtümer verwendet würden und nicht zur Niederhaltung und Niedermetzelung jener, die allein imstande sind, durch ihre Arbeit jene natürlichen Reichtümer in Werte zu verwandeln, die auf dem Weltmarkt gegen Geld ausgetauscht werden können!

Das Verkommen der Landwirtschaft, das ist neben dem Aufkommen des industriellen Proletariats die Hauptursache der jetzigen russischen Revolution. Es hat den Staat an den Rand des finanziellen Bankrotts gebracht und für alle Klassen unbefriedigende, ja quälende Verhältnisse geschaffen, in denen sie nicht mehr bleiben können, aus denen sie herauszukommen trachten müssen, nachdem sie einmal in Bewegung gekommen sind. (Schluss folgt.)

3. Die Lösung der Agrarfrage

Das nächstliegende Mittel, dem Bauern zu helfen, ist die Vergrößerung seines Landanteils. Darüber sind auch fast alle Parteien einig. Aber genügt das? Was nützt dem Bauern mehr Land, wenn er nicht einmal genügend Vieh und Werkzeuge hat, seinen jetzigen Anteil gut zu bebauen? Das mag ihm vorübergehend eine Erleichterung sein, aber bald wird wieder das alte Elend herrschen. Soll dem Bauern dauernd geholfen werden, dann müssen Anstalten getroffen werden, dass er zu einer intensiverem rationelleren Kultur übergehen kann. Es müssen ihm Vieh, Geräte, Dünger zur Verfügung gestellt, es muss ein treffliches Volksschulwesen geschaffen, kurz, es muss dem Bauern raschest und in vollstem Maße das gegeben werden, was ihm jahrzehntelang vorenthalten oder genommen wurde – unter dem Einfluss der fortschreitenden Verschuldung des Staates, seiner steten Vermehrung der Steuern und seiner wachsenden Unfähigkeit und Unwilligkeit, irgendwelchen Kulturaufgaben zu genügen.

Nur ein Regime, welches das zu leisten vermag, kann die bäuerliche Landwirtschaft Russlands und damit den ganzen Staat wieder auf eine gesunde ökonomische Basis stellen und damit die Revolution beenden.

Vermag dies der Absolutismus? Wenn er es könnte, dann gelänge es ihm wohl noch einmal, der Revolution Herr zu werden. Besäße der Zar die Klugheit und die Kraft, ein Bauernkaiser zu werden in dem Sinne, in dem es Napoleon I. geworden war, dann vermöchte er sein absolutes Regime neu zu befestigen. Denn der Bauer hat meist kein großes Interesse an der politischen Freiheit der Nation. Sein Interesse geht in gewöhnlichen Zeiten in den Angelegenheiten des Dorfes auf. Sähe er, dass der Zar für seine ökonomischen Bedürfnisse sorgt, würde er sich von neuem um ihn scharen.

Aber das ist zum Glücke unmöglich. Auch der erste Napoleon war nur deshalb imstande, die politische Freiheit Frankreichs mit Hilfe der Bauern und der aus ihnen rekrutierten Armee zu meucheln, weil er der Erbe der Revolution war, weil die Revolution bereits die Bauern befriedigt hatte und er bloß als Schützer dessen auftrat, was diese in der Revolution und durch die Revolution gewonnen hatten.

Auch der energischste und weitest blickende Monarch kann nicht eine politische Revolution dadurch niederschlagen, dass er ihr ökonomisches Ziel selbst erfüllt. Er müsste dazu nicht bloß an Weitblick, sondern auch an Kraft die gesamte herrschende Klasse übertreffen, in deren Mitte er lebt und auf deren Kosten das ökonomische Ziel der Revolution allein zu erreichen ist. Selbst wenn es möglich wäre, dass ein einzelnes Individuum klar und entschieden völlig das Gegenteil dessen empfindet und denkt, was seine gesamte Umgebung erfüllt, in der es sich von Kindesbeinen an bewegt hat, so gibt es kein einzelnes Individuum, und wäre es noch so hoch gefürstet, das für sich allein seiner ganzen Umgebung Trotz zu bieten vermöchte. Am allerwenigsten hat ein russischer Zar die Kraft dazu. Der würde sofort von den getreuen Dienern des Absolutismus um die Ecke gebracht, sobald er die geringste Neigung zeigte, mit der Revolution zu paktieren.

Von dem zweiten Nikolaus ist aber nicht einmal der Versuch zu erwarten, sich jemals in irgend einer Frage in entschiedenen Widerspruch mit seiner Umgebung zu setzen.

So weist denn auch seine Regierung energisch alles ab, was den Bauern nur einigermaßen ihre elende Lage erleichtern könnte. Sie bietet ihnen nichts als leere Versprechungen, Schwindel und elendes Flickwerk. Die Zeiten sind aber vorbei, wo der Bauer sich damit noch ködern ließ. So viel hat die Revolution auf dem Lande schon erreicht, dass der Bauer Taten sehen will und die einzelnen Parteien nach ihren Taten beurteilt. Was hat er aber von den Taten der Regierung, die er dem Zaren gleichsetzt, zu sehen bekommen? Die Steuern werden erhöht, aber die Provinzen, in denen die Missernte Hungersnot erzeugt, nicht unterstützt. Schulen und Krankenhäuser gehen aus Mangel an Mitteln ein, die Eisenbahnen verkommen, denn ihr Material wird nicht erneuert. braucht doch der Zar mehr als je alles Geld für seine Soldaten, mit denen er Krieg gegen das eigene Volk führt. Seit Napoleons Einbruch hat der russische Bauer keine feindlichen Soldaten im Lande zu sehen bekommen, fühlte er sich durch die Macht des Zaren gesichert vor fremden Feinden. Und nun sind es die Soldaten des Zaren selbst, die im Lande hausen, wie es ehedem die Mongolen taten. Und dabei erweisen sich alle Verheißungen, die dem Bauern gemacht wurden und die ihn zeitweise mit frohen Hoffnungen ans endliche Erlösung erfüllten, als elender Betrug, dessen Aufdeckung ihm seine Lage doppelt empörend erscheinen, seinen Ingrimm zu doppelter Stärke anschwellen lässt. Die Duma, die man ihm als Retterin in der Not gewährte, wurde aufgelöst, und das Wahlrecht zur zweiten Duma, die jetzt gewählt werden soll, wird ihm weg eskamotiert. Angesichts alles dessen ist es kein Wunder, wenn die frühere grenzenlose Zarenverehrung des Bauern in ebenso grenzenlosen Zarenhass umgeschlagen hat.

Haben aber die Liberalen die Aussicht, den Bauer dauernd zu gewinnen? Sie bieten ihm freilich das, wonach er vor allem verlangt: mehr Land. Wenigstens viele von ihnen fordern die Expropriation des großen Grundbesitzes und dessen Verteilung unter die Bauern. Aber um welchen Preis? Das Eigentum soll soviel als möglich geschont, das heißt die Grundbesitzer sollen voll entschädigt werden. Wer aber soll sie entschädigen? Wer anders als der Bauer, entweder direkt, indem er die Kaufsumme des ihm abgetretenen Bodens zu verzinsen hat, oder indirekt, indem der Staat die Grundbesitzer entschädigt. Dann aber fällt die Verzinsung der Kaufsumme indirekt in der Form von neuen Steuern neben den Proletariern wieder den Bauern zu. Was hätten diese durch die Vermehrung ihres Bodenanteils gewonnen? Gar nichts, denn der vermehrte Reinertrag steht in der Form von Zinsen oder Steuern wieder den bisherigen Besitzern der großen Güter zu. Oft würde sich nicht einmal äußerlich etwas ändern, denn viele Bauern bearbeiten schon Stücke des Großgrundbesitzes als Pachtland zur Ergänzung ihres eigenen Anteils. Wenn sie nun Besitzer des Pachtlandes werden und an Stelle des Pachtzinses eine neue Steuer zu zahlen haben, worin wären sie besser daran?

Nur bei Konfiskation des großen Grundbesitzes ist es möglich, den Bodenanteil des Bauern erheblich zu vergrößern, ohne ihm neue Lasten aufzubürden. Sicher ist die entschädigungslos Expropriierung einer einzelnen Schicht der besitzenden Klassen eine harte Maßregel. Aber man hat keine Wahl. Die Verelendung der Bauernschaft ist zu weit gediehen, als dass es noch möglich wäre, ihr eine Ablösungssumme aufzulegen. Hätten die liberalen Grundbesitzer beizeiten die Energie und Selbstlosigkeit besessen, politische Formen und eine Staatspolitik durchzusetzen, die eine gütliche Auseinandersetzung mit der Bauernschaft ermöglichten, als diese noch zahlungsfähig war, dann mochten sie ihre Grundrenten in irgend einer Form retten. Heute ist es zu spät dazu. Sie haben übrigens keinen Grund, sich allzu sehr zu beschweren. Ihre Vorfahren verstanden es vortrefflich, die Bauern bei der Aushebung der Leibeigenschaft aufs Ausgiebigste über die Ohren zu hauen, sie nützten deren Notlage seitdem zu den ärgsten Bereicherungen aus, sie legten also für die Bauernschaft nie die mindeste Schonung und Rücksicht an den Tag.

Die Konfiskation des großen Grundbesitzes ist unumgänglich, soll den Bauern geholfen werden. Dagegen aber sträuben sich die Liberalen entschieden. Nur die sozialistischen Parteien schrecken nicht davor zurück.

Mit der Vergrößerung des Bodenanteils der Bauern ist aber die russische Agrarfrage noch lange nicht gelöst. Wir haben ja gesehen, dass der Bauer nicht nur an Land Mangel hat, sondern auch an Kenntnissen und an Geld. Das Verkommen der russischen Landwirtschaft wird nicht im Geringsten dadurch aufgehalten, dass der Grund und Boden etwas anders verteilt wird. Im Gegenteil. Wenn man die großen Güter zerschlägt, in denen vielfach doch noch rationeller gewirtschaftet wurde, und an deren Stelle unwissende Bauern ohne alle Mittel setzt, dürfte der Niedergang der russischen Landwirtschaft nur beschleunigt werden, wenn nicht gleichzeitig energische Maßregeln zur Vergrößerung der bäuerlichen Intelligenz wie des bäuerlichen Betriebskapitals ergriffen werden.

Das ist aber unmöglich ohne eine gründliche Umwälzung des ganzen bisherigen politischen Systems, das seit zwei Jahrhunderten das jetzige Elend in immer steigendem Maße heraufbeschworen hat; und je tiefer dieses Elend gewurzelt ist, das der Absolutismus heute noch zusehends steigert, desto energischere Eingriffe in die bestehenden Einrichtungen und Eigentumsverhältnisse sind erforderlich, um diesem Elend einigermaßen zu steuern.

Ohne Aushebung des stehenden Heeres, der Flottenrüstungen, ohne Konfiskation des gesamten Vermögens der kaiserlichen Familie, der Klöster, ohne Staatsbankrott, ohne Konfiskation der großen Monopole, soweit sie noch privat betrieben werden – Eisenbahnen, Petroleumquellen, Bergwerke, Eisenhütten und dergleichen werden die ungeheuren Summen nicht aufgebracht werden können, deren die russische Landwirtschaft bedarf, soll sie aus ihrer furchtbaren Verkommenheit herausgerissen werden.

Dass aber die Liberalen vor so riesenhaften Ausgaben, vor so einschneidenden Umwälzungen der bestehenden Eigentumsverhältnisse zurückschrecken, ist klar. Im Grunde wollen sie nichts, als die bestehende Politik weiterführen, ohne die Grundlagen der Ausbeutung Russlands durch das ausländische Kapital anzutasten. Sie halten fest am stehenden Heere, das allein in ihren Augen die Ordnung sichern und ihr Eigentum retten kann, und wollen Russland nette Mittel schaffen durch nette Anleihen, was unmöglich ist, wenn man nicht die Zinsen der alten pünktlich zahlt.

Zwei Milliarden Mark kosten heute die Verzinsung der Staatsschuld und der Militarismus Russlands. Diese ungeheure Summe wollen auch weiterhin die Liberalen jahraus jahrein aus dem russischen Volke herauspumpen, und doch gedenken sie gleichzeitig alle die großen Kulturaufgaben nachholen zu können, die der Zarismus versäumt hat und versäumen musste, um Militarismus und Staatsschulden bezahlen zu können. Sie glauben, die Einrichtung einer Duma genüge, um Milliarden aus dem Boden zu zaubern.

Oft erinnern sie sich der großen französischen Revolution. Nicht immer mit Recht. Die Verhältnisse des heutigen Russland sind vielfach ganz andere als die des Frankreich von 1789. Aber der Unterschied liegt nicht etwa darin, dass die russischen Verhältnisse weniger einschneidende Maßregeln verlangten als die französischen. Im Gegenteil. Frankreich war nicht dem Ausland verschuldet, es litt nicht an solchem Kapitalmangel, seine Volksbildung, seine Landwirtschaft und Industrie waren gegenüber der des übrigen Europa nicht so rückständig wie die Russlands. Und doch konnte auch die Nationalversammlung Frankreich nicht vor Staatsbankrott und Konfiskationen retten. Und wenn Frankreich am Militarismus festhalten konnte, vermochte es dies nur dank seiner siegreichen Revolutionskriege, die es in die Lage versetzten, halb Europa zu plündern und dadurch die Kriegskosten aufzubringen. Die russische Revolution hat keine Aussicht, auf die letztere Manier ihre Geldbedürfnisse zu decken. Sie muss dem stehenden Heere ein Ende machen, soll es ihr gelingen, den russischen Bauer zu befriedigen.

Ebenso wenig wie der Zarismus vermag dies der Liberalismus. Mag er vorübergehend noch einmal obenauf kommen, er muss sich bald abnutzen. Er wird dies um so rascher tun, als ihm energische demokratische Elemente fehlen, da die einzige Klasse von Bedeutung, auf die er sich zu stützen vermöchte, der Großgrundbesitz ist, eine Klasse, deren Liberalismus naturgemäß um so mehr verblasst, je mehr die Agrarfrage in den Vordergrund tritt.

4. Liberalismus und Sozialdemokratie

Der Liberalismus Russlands ist ganz anderer Art als der Westeuropas, und schon darum ist es durchaus verfehlt, die große französische Revolution einfach als Muster der jetzigen russischen hinzustellen.

Die führende Klasse in den revolutionären Bewegungen Westeuropas war das Kleinbürgertum, vor allem das der Großstädte. Dank seiner schon oft hervorgehobenen zwieschlächtigen Stellung als Vertreter sowohl des Besitzes wie der Arbeit wurde es das Bindeglied zwischen dem Proletariat und der Kapitalistenklasse, vereinigte es beide zu gemeinsamem Kampfe in der bürgerlichen Demokratie, die daraus ihre siegreiche Kraft schöpfte. Der Kleinbürger fühlte sich als werdender Kapitalist und verfocht insofern die Interessen des aufstrebenden Kapitals. Er selbst aber bildete das Vorbild des Proletariers, der meist aus kleinbürgerlichen Kreisen stammte, noch kein selbständiges Klassenbewusstsein besaß und nicht mehr verlangte als die Freiheit und die Möglichkeit, ins Kleinbürgertum aufzusteigen.

Dabei war das Kleinbürgertum in den Städten die zahlreichste, intelligenteste und ökonomisch wichtigste unter den die Volksmasse bildenden Klassen. Die Städte selbst aber waren seit dem Mittelalter die Sitze der herrschenden Mächte geworden. Die Städte beherrschten das flache Land und beuteten es aus, und an dieser Herrschaft und Ausbeutung nahmen die Kleinbürger reichen Anteil, denen es gelang, das ländliche Handwerk zu unterdrücken, sich jedoch gleichzeitig auch als wehrhafte Macht gegenüber städtischem Adel und Fürstentum zu behaupten.

Von alledem war in Russland keine Rede. Die Städte, schwach und wenig zahlreich, meist sehr spät entstanden, haben dort nie jene kraftvolle Stellung errungen wie in Westeuropa, ihre Volksmasse hat sich auch nie wie dort vom der ländlichen Bevölkerung abzusondern und über sie zu erheben verstanden.

Die Masse der städtischen Handwerker bestand aus Bauern, und zahlreiche Handwerke wurden mehr auf dem Lande als in der Stadt betrieben. Die Leibeigenschaft und Knechtung wie die politische Hilflosigkeit und Interesselosigkeit waren hier wie dort dieselben.

Erst nach Aufhebung der Leibeigenschaft begannen sich in den städtischen Volksmassen die Keime politischer Interessen zu entwickeln, aber das vollzog sich in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts, zur gleichen Zeit, als in Westeuropa selbst die revolutionäre Führerrolle des Kleinbürgertums endgültig ausgespielt war. Auf der einen Seite war das Proletariat selbständig geworden und machtvoll erstarkt, aus der anderen Seite hatte sich eine ungeheure Kluft zwischen Kleinbürgertum und Kapital aufgetan. Der Kleinbürger steht in den Kapitalisten nicht mehr die Klasse, in die er selbst aufzusteigen hofft, sondern die Klasse, die ihn herunterdrückt und ruiniert; in den Lohnarbeitern aber sieht er jene Elemente, die durch ihre Forderungen diesen Prozess beschleunigen. Nicht mehr den Führer der Demokratie bildet er, der Kapitalisten und Arbeiter zu gemeinsamem politischen Kampfe zusammenführt, sondern den durch die Demokratie enttäuschten haltlosen Missvergnügten, der gegen Proletarier wie gegen Kapitalisten in gleicher Weise tobt und dafür jedem reaktionären Schwindler auf den Leim geht, der ihm schöne Versprechungen macht.

So wird das Kleinbürgertum Westeuropas immer reaktionärer und unzuverlässiger, trotz seiner revolutionären Traditionen. Das Kleinbürgertum Russlands kommt ohne jede derartige Tradition in die politische Bewegung hinein unter dem vollen Einfluss dieser ökonomischen Situation, die sich auch in Osteuropa fühlbar macht. Es neigt daher noch viel mehr als seine westeuropäischen Klassengenossen zu Antisemitismus und Reaktion, zu charakterloser Haltlosigkeit, die um ein Trinkgeld zu allem zu haben ist, zu jener Rolle, die in der westeuropäischen Revolution das Lumpenproletariat spielte, mit dem es jetzt geistig immer mehr verwandt wird und mit dem es auch in Russland gern zusammenwirkt. Es kann durch den Fortgang der Revolution schließlich auch in steigendem Maße in eine oppositionelle Bewegung hineingerissen werden, eine sichere Stütze der revolutionären Parteien wird es nicht bilden.

So fehlt in Russland das feste Rückgrat einer bürgerlichen Demokratie, und es fehlt dort die Klasse, die durch ihre ökonomische Interessengemeinschaft Bourgeoisie und Proletariat zu gemeinsamem Kampfe für die politische Freiheit in der demokratischen Partei zusammenzuschweißen vermochte.

Kapitalistenklasse und Proletariat standen sich in Russland schon vor Beginn des revolutionären Kampfes schroff gegenüber. Beide hatten vom Westen gelernt. Das Proletariat tritt gleich in die politische Arena nicht als Teil einer bloß demokratischen Partei, sondern als Sozialdemokratie, und die Kapitalistenklasse lässt sich durch die geringste selbständige Regung des Proletariats ins Bockshorn jagen; ihre Hauptsorge ist eine starke Regierung.

Den Kern der liberalen Partei bildeten in Russland die Großgrundbesitzer – abgesehen von Latifundienbesitzern gerade jene Klasse, gegen die sich in Westeuropa vor allem der Liberalismus wendete. Aber in Russland hat der neuere Absolutismus, umgekehrt wie in Westeuropa, die Landwirtschaft dem Kapital geopfert. Derselbe Prozess, der sich in Westeuropa am Ausgang des Mittelalters und in den Anfängen des Absolutismus vollzog, die Ausbeutung des Landes durch die Stadt, wurde im neunzehnten Jahrhundert immer mehr vom absoluten Regime Russlands praktiziert, und er trieb zusehends den Landadel in die Opposition. Diese oppositionelle Stellung wurde dem letzteren erleichtert dadurch, dass er weniger als das industrielle Kapital der Städte in direkten Konflikt mit dem Proletariat geriet, der anderen oppositionellen Klasse. Solange die Bauernschaft ruhig blieb, durfte der russische Grundbesitzer sich ebenso den Luxus des Liberalismus leisten, wie sich die Tories Englands und manche Junker Preußens in den Anfängen des Industrialismus den Nimbus der Arbeiterfreundlichkeit gestatten durften.

Und sie blieb lange ruhig. Die Landwirtschaft mochte zusehends verkommen, der Bauer im Elend versinken, Hungersnot auf Hungersnot seine Reihen dezimieren, seinen Betrieb ruinieren – er blieb Gott und dem Zaren ergeben. Wohl mochte er sich zeitweise in Revolten erheben, aber sie galten besonderen Missständen, nicht dem ganzen herrschenden System, das nicht als die Quelle dieser Missstände erkannt wurde.

Allmählich bereitete sich freilich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine Änderung des bäuerlichen Denkens und Empfindens durch die Umgestaltung der ökonomischen Verhältnisse vor. Das Dorf geriet in Verbindung mit dem Weltverkehr, der seine Produkte auf den Weltmarkt brachte. Die Isolierung des Dorfes hörte immer mehr aus. Die allgemeine Wehrpflicht führte seine Söhne in die Großstadt, wo sie nette Eindrücke empfangen. neue Bedürfnisse kennen lernten. Endlich wendeten sich viele landlos gewordene Bauern oder Bauernkinder der Fabrik und den Bergwerken zu und gerieten so in den proletarischen Klassenkampf, dessen Eindrücke sie den in der Heimat zurückgebliebenen Dorfgenossen mitteilten.

.So wurde nach und nach die Grundlage unterwühlt, auf der der russische Absolutismus beruhte, aber doch bedurfte es eines gewaltigen Schlages, damit diese Grundlage zusammenbrach. Das geschah durch den Krieg in der Mandschurei und die sich daran anschließende Empörung des städtischen Proletariats. Diese Ereignisse, die vor dreißig Jahren noch an dem russischen Bauern spurlos vorbeigezogen wären, erweckten jetzt ein lebhaftes Echo in ihm. Er erwacht und erkennt, dass endlich die Stunde gekommen ist, seinem Elend ein Ende zu machen. Es drückt ihn nicht mehr herunter, es stachelt ihn auf. Und urplötzlich sieht er sich ganz neuen Verhältnissen gegenüber, erblickt er in der Regierung, deren Lenkung er sich bisher vertrauensvoll überließ, den Feind, den es niederzuwerfen gilt. Er darf nicht mehr andere für sich denken lassen, muss selbst denken, muss seinen ganzen Witz, seine ganze Energie, seine ganze Rücksichtslosigkeit anspannen und alle seine Vorurteile abstreifen, soll er sich in dem ungeheuren Wirbel behaupten, in den er hineingeraten ist. Was für den angelsächsischen Bauern und Kleinbürger vom siebzehnten bis ins neunzehnte Jahrhundert die Auswanderung bewirkte, das schafft für den russischen Bauern am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts weit rascher und gewaltiger die Revolution, die Verwandlung des gemütlichen, schläfrigen, gedankenlosen Gewohnheitsmenschen in einen energischen, rastlosen, unermüdlich nach Neuem und Besserem strebenden Kämpfer.

Diese staunenswerte Verwandlung entwickelt eine feste Grundlage für die neue russische Landwirtschaft, die sich aus den Trümmern der alten erheben wird, sie bietet aber auch die sicherste Gewähr für den schließlichen Triumph der Revolution.

Indes je revolutionärer der Bauer wird, desto reaktionärer der Großgrundbesitzer; desto mehr verliert der Liberalismus in ihm die Stütze, die er bisher besaß, desto haltloser werden die liberalen Parteien, desto mehr schwenken auch die liberalen Professoren und Advokaten der Städte nach rechts, um nicht völlig die Fühlung mit ihrer bisherigen Stütze aufzugeben.

Dieser Prozess mag vorübergehend zu einer Stärkung der Reaktion führen, er kann nicht auf die Dauer die Revolution unterdrücken. Er beschleunigt nur den Bankrott des Liberalismus. Er muss immer mehr die Bauern in die Arme jener Parteien treiben, die energisch und rücksichtslos seine Interessen wahren und sich durch liberale Bedenken nicht einschüchtern lassen: die sozialistischen Parteien. Er muss, je länger die Revolution dauert, immer mehr auch auf dem Lande den Einfluss der sozialistischen Parteien vermehren. Er kann schließlich dahin führen, dass die Sozialdemokratie zur Vertreterin der Massen der Bevölkerung und damit zur siegenden Partei wird.

5. Das Proletariat und sein Alliierter in der Revolution

Es ist hier vielleicht am Platze, als Abschluss dieser Studie mich über eine Umfrage zu äußern, die mein Freund Plechanow bei einer Reihe nichtrussischer Genossen veranstaltet hat über den Charakter der russischen Revolution und die Taktik, die von den russischen Sozialisten zu befolgen ist. Das heißt, ich möchte nur einige Bemerkungen an diese Fragen knüpfen, nicht sie präzis beantworten. Wenn ich glaube, dass meine fast drei Jahrzehnte alte innige Verbindung mit hervorragenden Trägern der revolutionären Bewegung Russlands mich instand setzt, den deutschen Genossen manche Aufschlüsse über diese Bewegung zu geben, so fühle ich mich doch den russischen Genossen gegenüber in der Stellung des Lernenden, wenn es sich um russische Dinge handelt. Aber natürlich ist es für uns westeuropäische Sozialisten dringend notwendig, zu einer bestimmten Auffassung der russischen Revolution zu kommen, denn sie ist kein lokales, sondern ein internationales Ereignis, und von der Art, wie wir sie erkennen, wird die Art aufs Tiefste beeinflusst, wie wir die nächsten taktischen Ausgaben der eigenen Partei auffassen. Ich habe aber auch keinen Grund, mit meiner Meinung hinter dem Berge zu halten, wenn russische Genossen mich darum fragen.

Der Fragebogen umfasst folgende drei Fragen:

1. Welches scheint der allgemeine Charakter der russischen Revolution zu sein? Stehen wir da vor einer bürgerlichen oder einer sozialistischen Revolution?

2. Welche Haltung muss, angesichts der verzweifelten Versuche der russischen Regierung, die revolutionäre Bewegung zu unterdrücken, die sozialdemokratische Partei gegenüber der bürgerlichen Demokratie einnehmen, die in ihrer Weise für die politische Freiheit kämpft?

3. Welche Taktik soll die sozialdemokratische Partei bei den Dumawahlen befolgen, um ohne Verletzung der Resolution von Amsterdam die Kräfte der bürgerlichen Oppositionsparteien zum Kampfe gegen unser „ancien régime" auszunutzen?

Die erste dieser Fragen scheint mir nicht einfach in dem einen oder anderen Sinne zu beantworten zu sein. Das Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen, das heißt der Revolutionen, deren Triebkraft die Bourgeoisie bildete, ist abgeschlossen, auch für Russland. Auch dort bildet das Proletariat nicht mehr ein Anhängsel und Werkzeug der Bourgeoisie, wie das in den bürgerlichen Revolutionen der Fall war, sondern eine selbständige Klasse mit selbständigen revolutionären Zielen. Wo aber das Proletariat in dieser Weise auftritt, hört die Bourgeoisie auf, eine revolutionäre Klasse zu sein. Die russische Bourgeoisie, soweit sie überhaupt eine selbständige Klassenpolitik treibt und liberal ist, hasst wohl den Absolutismus, hasst aber noch mehr die Revolution, und sie hasst den Absolutismus vor allem deswegen, weil sie in ihm die Grundursache der Revolution sieht; und soweit sie nach politischer Freiheit verlangt, so geschieht dies vor allem deswegen, weil sie darin das einzige Mittel zu finden glaubt, der Revolution ein Ende zu machen.

Die Bourgeoisie gehört also nicht zu den Triebkräften der heutigen revolutionären Bewegung Russlands, und insofern kann man diese nicht eine bürgerliche nennen.

Deswegen darf man aber doch nicht ohne Weiteres sagen, dass sie eine sozialistische sei. Sie vermag auf keinen Fall das Proletariat zur Alleinherrschaft, zur Diktatur zu bringen. Dazu ist das Proletariat Russlands zu schwach und zu unentwickelt. Allerdings ist es sehr wohl möglich, dass im Fortgange der Revolution der Sieg der sozialdemokratischen Partei zufällt, und die Sozialdemokratie tut sehr wohl daran, ihre Anhänger mit dieser Siegeszuversicht zu erfüllen, denn man kann nicht erfolgreich kämpfen, wenn man von vornherein auf den Sieg verzichtet. Aber es wird der Sozialdemokratie unmöglich sein, den Sieg allein durch das Proletariat ohne die Hilfe einer anderen Klasse zu erringen, sie wird als siegreiche Partei daher bei der Durchführung ihres Programms nicht weiter gehen können, als die Interessen der das Proletariat unterstützenden Klasse gestatten.

Auf welche Klasse darf sich aber das russische Proletariat in seinem revolutionären Kampfe stützen? Wenn man nur die politische Oberfläche in Betracht zieht, dann kann man zur Anschauung kommen, dass alle jene Klassen und Parteien, die die politische Freiheit anstreben, einfach zusammenzuwirken hätten, um sie zu erringen, und ihre Differenzen erst austragen sollten, nachdem die politische Freiheit erobert ist.

Aber jeder politische Kampf ist im Grunde ein Klassenkampf, also auch ein ökonomischer Kampf. Die politischen Interessen sind das Resultat ökonomischer Interessen; um diese letzteren zu wahren, erheben sich die Volksmassen, nicht um abstrakte politische Ideen durchzusetzen. Wer die Volksmassen für den politischen Kampf begeistern will, muss ihnen zeigen, wie eng er verknüpft ist mit ihren ökonomischen Interessen. Diese dürfen für keinen Moment in den Hintergrund treten, soll nicht der Kampf um die politische Freiheit ins Stocken kommen. Die Allianz des Proletariats mit anderen Klassen im revolutionären Kampfe muss vor allem auf ökonomischer Interessengemeinschaft beruhen, soll sie eine dauerhafte und siegreiche sein können. Auf einer derartigen Interessengemeinschaft muss auch die Taktik der russischen Sozialdemokratie aufgebaut sein.

Eine solide Interessengemeinschaft für die ganze Zeit des revolutionären Kampfes besteht aber nur zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft. Sie muss die Grundlage der ganzen revolutionären Taktik der Sozialdemokratie Russlands abgeben. Ein Zusammenwirken mit dem Liberalismus darf nur dort und in einer Weise ins Auge gefasst werden, wo das Zusammenwirken mit der Bauernschaft dadurch nicht gestört wird.

In der Interessengemeinschaft zwischen dem industriellen Proletariat und der Bauernschaft liegt die revolutionäre Kraft der russischen Sozialdemokratie begründet und die Möglichkeit ihres Sieges, zugleich aber auch die Grenze der Möglichkeit seiner Ausbeutung.

Ohne die Bauern können wir in Russland so bald nicht siegen. Dass die Bauern Sozialisten werden, ist jedoch nicht zu erwarten. Der Sozialismus kann nur auf der Grundlage des Großbetriebs aufgebaut werden, er widerspricht zu sehr den Bedingungen des Kleinbetriebs, als dass er inmitten einer überwiegend bäuerlichen Bevölkerung entstehen und sich behaupten könnte. Er vermag vielleicht, wenn er in der Großindustrie und dem landwirtschaftlichen Großbetrieb zur Herrschaft gelangt ist, dann durch die Kraft seines Beispiels kleine Bauern zu überzeugen und zur Nachahmung anzuregen, er kann von diesen nicht ausgehen. Und in Russland fehlen mehr als anderswo die intellektuellen und materiellen Bedingungen dazu. Der Kommunismus des russischen Dorfes liegt gänzlich zu Boden, und er bedeutet keineswegs die Gemeinsamkeit der Produktion. Auch ist es unmöglich, die moderne Warenproduktion auf der Grundlage der Dorfgemeinde in eine höhere Produktionsweise überzuführen. Dazu ist mindestens der Rahmen des Großstaats notwendig, zur Produktion auf nationaler Grundlage sind aber die Produzenten der russischen Landwirtschaft keineswegs befähigt.

Die jetzige Revolution dürfte auf dem Lande nur dahin führen, eine kraftvolle Bauernschaft auf der Grundlage des Privateigentums am Boden zu schaffen und damit die gleiche Kluft zwischen dem Proletariat und dem besitzenden Teile der ländlichen Bevölkerung aufzutun, wie sie in Westeuropa schon besteht. So erscheint es undenkbar, dass die jetzige Revolution Russlands bereits zur Einführung einer sozialistischen Produktionsweise führt, auch wenn sie zeitweilig die Sozialdemokratie aus Ruder bringen sollte.

Aber freilich, wir können manche Überraschungen erleben. Wir wissen nicht, wie lange die russische Revolution noch dauern wird, und nach den Formen, die sie jetzt angenommen hat, scheint sie nicht so rasch zu Ende gehen zu wollen. Wir wissen auch nicht, welchen Einfluss sie auf Westeuropa üben und wie sie dort die proletarische Bewegung befruchten wird. Endlich wissen wir schon gar nicht, wie die daraus erwachsenden Erfolge des westeuropäischen Proletariats auf das russische zurückwirken werden. Wir tun gut, uns mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass wir da völlig neuen Situationen und Problemen entgegengehen, an die keine bisherige Schablone passt.

Wir dürften der russischen Revolution und den Aufgaben, die sie uns stellt, am ehesten dann gerecht werden, wenn wir sie weder als bürgerliche Revolution im herkömmlichen Sinne, noch auch als sozialistische betrachten, sondern als einen ganz eigenartigen Prozess, der sich an der Grenzscheide zwischen bürgerlicher und sozialistischer Gesellschaft vollzieht, die Auflösung der einen fördert, die Bildung der anderen vorbereitet und auf jeden Fall die ganze Menschheit der kapitalistischen Zivilisation um ein gewaltiges Stück in ihrem Entwicklungsgang vorwärts bringt.

1 Rudolf Martin, Die Zukunft Russlands. Leipzig, Dieterichsche Verlagsbuchhandlung. 2,40 Mark

2 Leipzig, Teutonia-Verlag, Mühlgasse 10. 96 Seiten. 1.50 Mark

3 Desjatine etwas über 1 Hektar, 1 Pud etwas über 16 Kilogramm.

4 Der Übersetzer schreibt: „von 30 Quinteln“! Der gute Mann hat offenbar keine Ahnung davon, dass Quintal der französische Ausdruck für Zentner ist. Auch sonst leidet die deutsche Ausgabe sehr unter der Verständnislosigkeit des Übersetzers, die an nicht wenigen Stellen drastisch genug auftritt, dass sie auch derjenige erkennen kann, dem das russische Original nicht zugänglich ist.

5 In der deutschen Ausgabe steht nicht von 19,6 Millionen aus 17 und von 34,6 auf 24,5 Millionen, sondern um 19,6 auf 17 und um 34,6 aus 24,5 Millionen gefallen. Dieses „um“ ist natürlich auch nur der schon oben hervorgehobenen Verständnislosigkeit des Übersetzers zuzuschreiben.

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