Karl Kautsky‎ > ‎1907‎ > ‎

Karl Kautsky 19070130 Der 25. Januar

Karl Kautsky: Der 25. Januar

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 25.1906-1907, 1. Band (1906-1907), Heft 18 (30. Januar 1907), S. 588-596]

Berlin, 30. Januar.

In der bald vierzigjährigen Geschichte der deutschen Sozialdemokratie gibt es keine solche Überraschung, wie die jüngste Reichstagswahl. Wohl erlitten wir 1887 relativ wahrscheinlich einen noch erheblicheren Mandatsverlust als diesmal, wenn die Stichwahlen vom 5. Februar nicht außergewöhnlich ungünstig für uns ausfallen. Aber der relative Stimmenzuwachs war damals größer, und vor allem waren die Erwartungen, die wir hegten, vor zwanzig Jahren weit geringer als diesmal. Oder vielmehr, richtiger gesagt. nicht die Erwartungen, die wir hegten, sondern die Erwartungen, die alle Welt hegte.

Aber gerade diese hochgespannten Erwartungen erklären einen Teil unserer Mandatsverluste, erklären die enorme Wahlbeteiligung, die Mobilmachung des gesamten Philistertums.

1887 waren die Wahlen unter dem Zeichen des Franzosenschreckens vor sich gegangen, diesmal unter dem des Sozialistenschreckens. Damals hatten die Agitatoren der Kartellparteien der Masse der Bevölkerung weis gemacht, der Einbruch der Franzosen in Deutschland stehe vor der Tür, wenn die Regierung nicht ihre Forderung bewilligt erhalte. Diesmal war die Forderung der Regierung Nebensache. Die paar hundert Hottentotten konnten niemand schrecken, und sie wurden schon bei Beginn des Wahlkampfes außer Aktion gesetzt. Dafür wirkte um so mehr die Angst vor der Sozialdemokratie. Die Wahl von 1903 hatte sie als die größte politische Partei Deutschlands gezeigt, die Oktobertage des Jahres 1905 in Russland hatten bewiesen, wie wenig die Zeiten politischer Katastrophen vorbei sind und welche Kraft das Proletariat dabei zu entfalten vermag. Schon der Januar 1906 ließ er kennen, welchen panischen Schrecken alles das in der Bourgeoisie erzeugt hatte. Und nun kam ein Tag, der zu einer neuen gewaltigen Kraftäußerung der Sozialdemokratie Gelegenheit gab. Musste man nicht alles aufbieten, sich dagegen zu wehren? Noch ein solcher Sozialistensieg wie der von 1903, und wir sind verloren, empfand die ganze Masse der besitzenden Klassen. Dies Bewusstsein stachelte sie an zu unerhörten Anstrengungen, das rüttelte den denkfaulsten Philister wach und trieb ihn zur Wahlurne. Aus der Wahlagitation des Reichsverbandes zur Bekämpfung der Sozialdemokratie sprach nicht nur bodenlose Gemeinheit. sondern auch verzweifelte Angst.

Diese Angst ist in der Bourgeoisie weit größer, als wir erwartet haben – dies die eine Ursache der Überraschungen vom 25. Januar.

Andererseits hat dieser aber auch gezeigt. dass wir die Werbekraft der Kolonialidee in bürgerlichen Kreisen unterschätzt haben. Je unbefriedigender und verworrener die Zustände zu Hause, desto sehnsüchtiger blicken in allen kapitalistischen Großstaaten die bürgerlichen Elemente nach den Kolonien. Ohne ein Zukunftsprogramm kann schließlich keine Partei auskommen, jede muss ein Ziel zeigen, das des Schweißes der Edlen wert ist, soll sie größere Bevölkerungsschichten unter ihren Fahnen vereinigen. Je weniger die bürgerlichen Parteien ein solches Ziel im eigenen Lande aufweisen können, desto mehr müssen sie trachten, es in den Kolonien aufzurichten, die auch eigenes Land, aber Neuland sind, in das man die ungemeinsten Hoffnungen hineinlegen kann.

Nun ist freilich die bisherige Geschichte der deutschen Kolonien höchst unbefriedigend, aber gerade zur rechten Zeit, unmittelbar vor den Wahlen, trat ein neuer Mann auf, noch weniger erforscht als unsere Kolonien, in den jeder, der das Bedürfnis danach verspürt. noch mehr ungemessene Hoffnungen setzen darf, als in die Kolonien selbst. Der Dernburg wurde die rettende Persönlichkeit für die Regierung, ihm gebührt der Siegeslorbeer. Bülow und seine älteren Minister haben alle schon eine Vergangenheit. sie sind alle schon abgenutzt und zu eng verquickt mit der bisherigen unbefriedigenden Kolonialwirtschaft. Dernburg hat noch keine politische Vergangenheit, nur eine Zukunft. An ihm hängt kein einziger der Kolonialskandale, er hatte noch keine Gelegenheit, seine weiße Weste zu beschmutzen; an ihm ist alles Zukunft, und er ist nicht faul, diese in den glänzendsten Farben zu malen und dem Hörer die Überzeugung zu suggerieren, dass das Kolonialelend bloß an den ungenügenden Männern und Mitteln lag und dass von jetzt an das tausendjährige Kolonialreich für Deutschland heranbreche, das alle Leiden stillen werde, die der Kapitalismus in Deutschland selbst erzeugt. Und die Bourgeoisie glaubte seinen Verheißungen nur zu gern, erscheinen sie ihr doch als die einzige Möglichkeit der Rettung vor dem Sozialismus, der sonst in Deutschland unfehlbar über sie hereinbricht.

Die faszinierende Wirkung des kolonialen Zukunftsstaats auf die gesamte bürgerliche Welt, auch auf jene Kreise, die nicht ökonomisch an den Kolonien interessiert sind, hängt mit der steigenden Angst vor dem Zukunftsstaat der Sozialdemokratie eng zusammen. Beides erklärt zum größten Teile die ungeheure Wahlbeteiligung, das Anwachsen der bürgerlichen Stimmen, den Verlust vieler unserer Mandate.

Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Wie kommt es aber, dass durch die bürgerliche Erregung auf unserer Seite nicht eine entsprechende Gegenwirkung hervorgerufen wurde? Leben wir nicht in Zeiten der allgemeinen Teuerung, der Tippelskirchskandale, der behördlichen Verfolgung, der wachsenden Industrialisierung Deutschlands? Wie kommt es, dass die steigende bürgerliche Flut diesmal nicht einer mindestens in gleichem Maße steigenden proletarischen Flut begegnete?

Was zunächst die Kolonialskandale anbelangt:, so war denen die Spitze abgebrochen worden durch das rechtzeitige Fallenlassen Podbielskis, den Eintritt Dernburgs in das Kolonialamt, der noch keine Gelegenheit gefunden hatte, sich zu kompromittieren. Dann aber sind die Kolonien eine Angelegenheit, die das Proletariat ziemlich kühl lässt, im Gegensatz zur Bourgeoisie. Wenn diese von ihnen das Höchste erwartet, so erscheinen sie dem Proletariat als eine zu geringfügige Erscheinung, um sich sehr über sie aufzuregen. Es verhält sich den Kolonien gegenüber ablehnend, die Defensive entwickelt aber nie so viel Elan, so viel fortreißende Kraft wie die Offensive.

Aber die Teuerung? Musste die nicht aufs Höchste aufreizend wirken gegen die Regierung, gegen die Parteien des Brot- und Fleischwuchers und ihre Helfershelfer?

Kein Zweifel, die allgemeine Teuerung ist ein ungemein erregendes Moment, und sie hat sicherlich viel dazu beigetragen, auch die große Masse der Nichtwähler auf die Beine zu bringen. Aber sie wirkt auf die verschiedenen Klassen sehr verschieden. Wohl wird der Charakter jeder Partei durch besondere Klasseninteressen bestimmt, aber keine findet ihre Wähler ausschließlich in den Angehörigen einer einzigen Klasse. Namentlich die Zwischenschichten zwischen besitzenden und besitzlosen Klassen finden sich in der Wählerschaft jeder Partei vertreten, und sie besonders bilden jenes leicht bewegliche Element. das durch momentane Windströmungen leicht von der einen zur anderen geweht wird, das nie zufrieden, aber auch keiner ausdauernden Opposition fähig ist, das selbe Element, das in England die eigentümliche Erscheinung hervorruft, dass Liberale und Konservative seit langem in regelmäßigem Wechsel einander im Parlament und an der Regierung ablösen.

Auch in der Wählerschaft unserer Partei, trotzdem sie mehr Klassenpartei ist als jede andere, fehlten nicht ganz Elemente aus nichtproletarischen Schichten, und der Kampf gegen das neue Zollregime, der der Wahl von 1903 vorher ging, hatte und besonders viele Elemente dieser Art zugeführt und dadurch die Stimmenzahlen geschwellt, die wir erhielten. Den Kampf gegen das Zollregime hatte unsere Partei fast allein geführt, mit einer Kraft und einer Ausdauer, die den tiefsten Eindruck machten und die frohesten Hoffnungen erregten. Und nicht bloß proletarische Interessen hatte sie dabei vertreten. Es war vornehmlich ein Kampf gegen die Kornzölle gewesen. Durch eine Verteuerung des Getreides wurden aber alle kleinen Leute bedroht, alle, in deren Ausgabenetat das Brot eine große Rolle spielt, nicht bloß Lohnarbeiter, sondern auch Kleinhändler, Handwerker, der „neue Mittelstand", der so stark anwächst, staatliche und private Beamte, Ärzte, Lehrer, Ingenieure usw., ja endlich auch eine ganze Reihe kleiner Bauern, die nur wenig Getreide bauen, vieles kaufen müssen und darunter leiden, wenn Brot und Viehfutter verteuert werden.

Aus allen diesen Kreisen warb uns unser Kampf gegen den Hungertarif zahlreiche Mitläufer.

Nun sollte man meinen, da die Teuerung, die seitdem eingetreten, die glänzendste Bestätigung unserer Haltung in der Zollfrage bildet, müsse sie uns neue Scharen aus den Reihen dieser kleinen Leute zuführen. Aber der Wahlausfall vom 25. Januar zeigt, dass wir uns darin geirrt haben.

Die Schuld kann nicht bei den proletarischen Elementen unseres Wählerheeres liegen. Die leiden zu sehr und zu augenfällig unter den Folgen der Teuerung, als dass sie nicht voll Ingrimm darüber sein sollten und sich über deren Urheber täuschen könnten. Aber anders steht es mit den Zwischenschichten.

Da haben wir vor allem die kleinen Bauern. Die Kornzölle empörten sie. Nun will es aber eine dem Regime Bülow gnädige Fügung des Himmels, dass die letzte Ernte eine ausnehmend gute war, so dass trotz der hohen Zölle die Getreidepreise nur unerheblich gestiegen sind. Die Teuerung trifft vor allem tierische Produkte, das sind aber gerade jene, aus denen die kleinen Bauern in der Regel den größten Teil ihres Einkommens ziehen. Wenn Milch und Butter, Geflügel und Schweinefleisch im Preise steigen, während Futtermittel und Brot nicht erheblich verteuert sind, so gewinnen sie dabei. Und das ist im Augenblick der Fall. Natürlich wird es nicht immer so bleiben. Die nächste geringere Ernte wird Brot und Viehfutter, dank den Zöllen, gewaltig in die Höhe treiben, so dass die Mehrerträge aus Schweinefleisch und Milch nicht reichen, das Defizit zu decken. Aber das wird jetzt vom Bauern noch nicht empfunden, ihm hat das neue Zollregime zunächst guten Gewinn gebracht. Das kühlt seine Abneigung gegen den Kornzoll erheblich ab.

Freilich bringt dieses neue Zollregime neben der Erhöhung der Fleischpreise auch namhafte Erhöhungen der Preise anderer, namentlich industrieller Produkte mit sich, die allein schon, auch ohne erhöhte Brot und Futterpreise, hinreichen, den Profit des kleinen Bauern aus den hohen Fleischpreisen bedeutend zu reduzieren, aber den Zusammenhang dieser Erhöhungen mit den neuen Zöllen erkennt er nicht, dank dem Umstand, dass deren Einführung zusammenfällt mit einer Ära gewaltiger Prosperität, die allein schon durch ihre wachsende Nachfrage nach Produkten aller Art die Preise in die Höhe treibt, auch in Ländern des Freihandels, auch von Produkten, die keinen Zollschutz genießen, wie Kohle. Dass die Preise noch künstlich gesteigert werden durch die Kartelle, und dass diese am besten gedeihen unter dem Zollschutz, das liegt nicht so offen zutage wie die Tatsache, dass unter diesen Umständen, bei dem Steigen aller Warenpreise auch die Arbeiter gezwungen sind, den Preis ihrer Ware, der Arbeitskraft zu steigern. Die Kartelle besorgen ihre Schröpfung des Publikums durch heimliche Verschwörungen, von denen „niemand nichts weiß". Die Arbeiter müssen sich offen zusammenscharen, um einen Druck auszuüben, müssen meist schwere und erbitterte Kämpfe führen, wollen sie ihre Löhne erhöht sehen. Um das Wirken der Kartelle zu erfahren, muss man eigene Studien anstellen, die Lohnkämpfe sind dagegen eine auffallende Erscheinung, und ihr stetes Anwachsen in den letzten Jahren, gerade seit 1903, springt auch dem stumpfesten Philister in die Augen. Er sieht die Lohnkämpfe, er fühlt die Teuerung – was liegt ihm da näher, als jene für die Ursache dieser zu halten? Dass umgekehrt ein Schuh daraus wird, dass die Arbeitslöhne keineswegs der Steigerung der Warenpreise vorausgehen, sondern ihr nur langsam und ungenügend nachhinken, dass ohne die Lohnkämpfe die Arbeiterklasse eine enorme Verkürzung ihres realen Lohnes in den letzten Jahren erfahren hätte; dass das Steigen der Preise nicht von einem Steigen des Arbeitslohnes abhängt, dass ein allgemeines Steigen der Arbeitslöhne sehr wohl bei gleichbleibenden Warenpreisen möglich ist, nämlich auf Kosten des Profits, das begreift der Philister nicht. Theoretische Vertiefung ist nicht seine Sache. Er steht nur die Oberfläche. In Amerika freilich, wo die gleiche ökonomische Situation herrscht wie bei uns, sieht er deutlich den Zusammenhang zwischen den Unternehmerorganisationen und der allgemeinen Teuerung. Denn dort ist die Sozialdemokratie schwach und dafür das Unternehmertum so frech und protzenhaft, dass es seine Ausbeuterpraktiken aufs Ungenierteste betreibt. Wir in Deutschland dagegen haben eine kraftvolle Sozialdemokratie; das veranlasst nicht nur die Unternehmerorganisationen, ihre Preistreiberei möglichst still vorzunehmen, es drängt sie auch, die Schuld daran dem verhassten mächtigen Gegner in die Schuhe zu schieben, dessen Aktion alle Augen auf sich zieht. Wohl ist die Sozialdemokratie an den Lohnkämpfen direkt nicht beteiligt. aber mit Recht macht die Bourgeoisie in dieser Beziehung zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie keinen Unterschied. Sie sind von gleichem Fleisch und Blut, Kampfesorganisationen der gleichen Klasse, vom gleichen Geiste beseelt, aufs Stärkste aufeinander angewiesen.

So wird die Schuld an der Teuerung zuerst den Lohnkämpfen beigemessen, und dann werden diese auf das Konto der Sozialdemokratie geschrieben.

Daher erzeugt gerade die Teuerung in manchen jener Schichten, die sich 1903 für uns erklärten, Erbitterung gegen unsere Partei. Sie stimmten damals für uns, weil die Sozialdemokratie in ihren Augen der Verfechter niedriger Preise von Lebensmitteln und Rohmaterialien war. Sie erheben sich gegen uns, weil sie glauben, die Lehre vom Klassenkampf erzeuge die Lohnkämpfe und verteure dadurch die Waren.

Das gilt von jenen Kleinbauern, die sich 1903 auf unsere Seite schlugen, es gilt in gleichem von den Intellektuellen, die unter der Teuerung leiden und den Lohnkämpfen verständnislos gegenüberstehen, es gilt in noch höherem Maße voit den kleinen Handwerksmeistern. Diese werden gegen die Sozialdemokratie erbittert nicht bloß durch die Verteuerung ihrer Rohmaterialien, Werkzeuge, Wohnungen und Werkstätten, die sie auf die Lohnforderungen der Arbeiter in anderen Betrieben zurückführen, sondern noch mehr erbittert durch Lohnforderungen ihrer eigenen Arbeiter. Sie bedenken nicht, wie gerechtfertigt diese Forderungen bei den hohen Lebensmittel- und Wohnungspreisen sind, sie empfinden nur die Härte, die für sie darin liegt, dass sie bei den gesteigerten Preisen aller Elemente ihrer Produktion auch noch höhere Löhne zahlen sollen, und treten den Arbeitern wütend entgegen, also auch der Partei der Arbeiter.

Andererseits werden nicht wenige Kleinhändler von uns abgestoßen durch das Anwachsen der Konsumvereine. Je höher die Teuerung, desto größer das Bedürfnis der Arbeiter, durch Ausschaltung des Zwischenhandels die Preise etwas zu ermäßigen; das vollzieht sich aber gerade auf Kosten jener Kleinhändler, die bisher von der Arbeiterkundschaft lebten und mit ihr fühlten.

Alles das sind naturnotwendige Folgen der Verschärfung der Klassengegensätze, wie sie die preiserhöhenden neuen Zölle mit sich brachten. Diese haben nicht bloß den Gegensatz zwischen Kapitalisten und Arbeitern vermehrt und die Erbitterung zwischen ihnen gesteigert, sie haben auch bewirkt, dass Zwischenschichten, die bisher ihre beste Vertretung in der Sozialdemokratie sahen, jener Partei, die allem Militarismus und allen das niedere Volk bedrückenden Steuern aufs Energischste entgegenwirkt, und die durch diese Militär- und Steuerpolitik ihren Gegensatz gegenüber den Lohnarbeitern überbrückt sahen, jetzt diesen Gegensatz aufs Schärfste empfinden und daher unserer Partei den Rücken kehren.

Ist diese Auffassung richtig – und zahlreiche Anzeichen sprechen dafür – dann hat unsere Anhängerschaft seit 1903 eine bedeutende innere Wandlung durchgemacht. Unsere Partei ist seit jeher eine fast ausschließlich proletarische, nicht nur ihren Auffassungen und Zielen, sondern auch ihrer Zusammensetzung nach gewesen. Der große Sieg von 1903 auf der einen Seite und die durch den neuen Tarif verschärfte Teuerung mit ihrem Gefolge von Lohnkämpfen auf der anderen Seite scheinen nun bewirkt zu haben, dass auch unsere Wählerschaft mehr einen ausschließlich proletarischen Charakter annahm, dass sie wohl an Zahl nicht erheblich wuchs, aber einheitlicher und geschlossener wurde. Das ist jedenfalls kein übler Gewinn. Es unterliegt gar keinem Zweifel, dass das deutsche Proletariat gerade seit 1903 in jeder Beziehung gewaltig erstarkt ist. Das beweist das enorme Wachstum seiner Gewerkschaften, die Wirkung seiner politischen Organisationen, das rapide Zunehmen der Leserzahlen seiner gewerkschaftlichen und politischen Presse. Das bedeutet unstreitig einen bedeutenden Fortschritt. Konnte er nicht anders erkauft werden als durch den Verlust einiger hunderttausend Mitläufer aus den Zwischenschichten, dann ist dieser Preis nicht zu teuer. Wie hoch wir auch die Bedeutung der parlamentarischen Arbeit veranschlagen, sie ist nur Mittel zum Zweck – der Führung des proletarischen Klassenkampfes, der Kräftigung und schließlichen Emanzipation des Proletariats. Bringen es die Umstände, unter denen der Klassenkampf vor sich geht, mit sich, dass zeitweise etwa die gewerkschaftliche Tätigkeit erfolgreicher wird und die parlamentarische zurücktritt, ja, dass die Heftigkeit der Lohnkämpfe uns bürgerliche Mitläufer abwendig macht und den gelegentlichen Verlust einiger Mandate einbringt, so ist das letztere bedauerlich, aber kein Unglück, wenn es eine Wachstumserscheinung bedeutet und aus dem Prozess der allseitigen Erstarkung des Proletariats hervorgeht.

Man darf sich aber nicht etwa einbilden, als habe unter der proletarischen Konsolidierung unserer Wählerschaft die Werbekraft der sozialistischen Propaganda gelitten. Wir haben den Verlust von Mitläufern aus den Zwischenschichten durch neu gewonnene Anhänger aus dem Proletariat mehr als wett zu machen gewusst. Man kann jenen Verlust natürlich nicht ziffernmäßig genau berechnen; einige Hunderttausend wird er aber wohl betragen. Haben wir nun trotzdem, wie es zur Stunde scheint, um etwa 200.000 Stimmen zugenommen, so bedeutet das nichts anderes, als dass wir rund eine halbe Million neue Wähler im Proletariat gewonnen haben – sicher eine respektable Leistung.

Allerdings machte in demselben Zeitraum auch die Industrialisation Deutschlands rasche Fortschritte. Die Prosperität hat zu zahlreichen Gründungen und Erweiterungen industrieller Unternehmungen geführt und die Zahl der Industriearbeiter stark vermehrt. Das war ebenfalls einer der Gründe, auf den wir unsere Erwartungen eines starken Stimmenzuwachses aufbauten. Auch hier vergaßen wir, dass gerade das Wachstum unserer Kraft unsere Gegner veranlasst, einem Prozess, den sie einmal nicht vermeiden können, wenigstens eine gegen uns gerichtete Wendung zu geben. Je stärker die Arbeiterklasse wird, je stärker die Sozialdemokratie, das heißt die Selbständigkeit der Arbeiterklasse, desto mehr trachten die Unternehmer danach, neue Arbeitskräfte aus Gegenden heranzuziehen, die noch ökonomisch und intellektuell rückständig, nicht vom Sozialismus durchseucht sind. Sie ziehen Ausländer heran, Italiener, Böhmen, Galizier, Schweden, Holländer, die kein Wahlrecht haben und deren Koalitionsrecht durch die Ausweisungsmöglichkeit auf Null reduziert ist, und unter den deutschen Reichsbürgern bevorzugen sie wieder die aus agrarischen Gegenden kommenden, von der Kirche gegängelten, namentlich Katholiken und Polen. Wenn ein echter Deutscher keinen Franzmann leiden kann, aber seine Weine gern trinkt, so hasst auch ein echter deutscher Nationalliberaler aufs Grimmigste jeden Ultramontanen und Polen, aber ultramontane und polnische Lohnarbeiter zieht er freidenkenden Deutschen vor. Das kann dahin führen, dass sogar bei absoluter Zunahme der industriellen Lohnarbeiterschaft der alte Arbeiterstamm verringert und durch Ausländer sowie polnische und deutsche Zuzügler aus dem östlichen Preußen ersetzt wird. Namentlich in den Gebieten des Bergbaus, aber auch im Bauwesen vollzieht sich das in hohem Maße. Das ist kein Unglück, wenn man die Dinge von einem höheren Gesichtspunkt betrachtet. Die Ausländer wie die rückständigen deutschen und polnischen Reichsangehörigen werden dadurch in ein Milieu versetzt, in dem sie sozialistischer Propaganda. leichter zugänglich werden als in ihren Heimatdistrikten. Sie entwickeln sich dann für diese Distrikte zu Aposteln des neuen Evangeliums. So wie ehemals unter dem Sozialistengesetz die Ausweisungen tüchtiger Parteigenossen aus den größten Parteizentren die Verbreitung des Sozialismus im Lande förderten, so schafft diese Politik die Elemente sozialistischer Propaganda weit über Deutschland hinaus. Aber zunächst waren jene Ausweisungen doch ein starker Schlag nicht bloß für die persönlich dadurch Getroffenen, sondern für die gesamte Partei, und so ist auch der starke Zuzug so rückständiger Elemente zunächst eine arge Hemmung nicht bloß für den politischen, sondern auch für den gewerkschaftlichen Aufstieg der Arbeiterklasse. Es bedarf einer Reihe von Jahren, bis die Wirkung dieser Art von Industrialisierung der Sozialdemokratie und den freien Gewerkschaften zugute kommt. Vorläufig dient sie vor allem der Stärkung des Zentrums und der Polen und der von diesen gegängelten Arbeiterorganisationen.

Wenn wir alles das bedenken, dann war unsere Situation in diesem Wahlkampf keineswegs eine so günstige, wie wir annahmen, als wir zur Schlacht auszogen, ist aber auch unsere Situation nach der Schlacht keine so ungünstige, wie es auf den ersten Blick erscheint. Die gegebenen Bedingungen haben uns den Sieg diesmal versagt, sie haben aber künftige Siege vorbereitet.

Binnen wenigen Jahren wird die Situation eine ganz andere sein wie heute. Die unvermeidliche Krise wird den Zustrom neuer Arbeiterschichten aus agrarischen Gegenden in die Industriebezirke versiegen lassen. Die dort ansässigen fallen uns sicher zu; dieses Zutrauen müssen wir in unsere Propaganda nach ihren bisherigen Wirkungen setzen.

Andererseits aber wird für die Zwischenschichten, die uns diesmal im Stiche gelassen haben, die Ernüchterung bald kommen, ihr Abströmen von uns wird aufhören und einer rückläufigen Bewegung Platz machen. Die Unzuverlässigkeit dieser Schichten darf für uns kein Grund sein, sie zu unterschätzen und zu ignorieren. Von der Parteiorganisation allerdings müssen wir alle Mitläufer fernhalten; da hinein passen nur überzeugte Sozialdemokraten. Aber in die Armee unserer Wähler gehören alle hinein, die mühselig und beladen sind. Sie alle finden keinen besseren Anwalt als die Sozialdemokratie, und je mehr sie das erkennen, je zahlreicher sie sich um unsere Fahne sammeln, desto leichter wird unser Sieg. Diese Schichten sind im Grunde auch Proletarier, allerdings nicht ausgesprochene, in keiner klaren Klassenlage befindliche. Wohl können manche von ihnen mitunter, wie eben jetzt in höherem Grade als sonst, in Konflikt mit proletarischen Interessen geraten und in Versuchung kommen, sich auf Kosten des Proletariats zu retten und zu heben. In solchen Fällen müssen wir ihnen entschieden entgegentreten. Nie dürfen wir dem Bedürfnis, ihre Stimmen zu gewinnen, ein proletarisches Interesse opfern oder ihnen Aussichten machen, die unvereinbar sind mit dem Gange der ökonomischen Entwicklung. Aber wir dürfen nicht bloß, wir müssen, getreu unseren Grundsätzen, für sie eintreten, wo sie als Menschen, als Staatsbürger, als Ausbeutungsobjekte des Kapitals oder des Grundbesitzes bedrängt und geknechtet werden. Und wir sind die einzigen, die ihnen tatsächlich helfen können, soweit ihnen zu helfen ist. Nicht nur in der fernen Zukunft, in der sozialistischen Gesellschaft, die ihnen allen ein menschenwürdiges Dasein bieten wird, sondern auch in der Gegenwart. Auch wo wir für ihre unzulänglichen, oft unnützen, ja geradezu schädlichen Betriebsformen nichts mehr tun können, wirkt jeder erhebliche Gewinn der Arbeiterklasse auf sie alle zurück, ihre Existenz als Arbeiter erleichternd, für ihre Kinder den unvermeidlichen Übergang ins Proletariat aus einem Abstieg in einen Aufstieg verwandelnd.

Keine bürgerliche Partei kann ihnen helfen, kann sie auf die Dauer befriedigen. Mögen sie sich zeitweise von uns abgestoßen fühlen, mögen viele von ihnen im Einklang mit ihrer veralteten Betriebsform in veraltetem reaktionären Gedankengängen und politischen Formen Befriedigung suchen, große Scharen von ihnen müssen immer und immer wieder zu uns zurückkehren, und sie können unseren Kampf erheblich erleichtern, wenn sie uns nicht dazu verführen, dass wir auf sie als eine feste Kerntruppe bauen und ihnen zuliebe den proletarischen Charakter unserer Partei verschleiern. Je mehr sich die Klassengegensätze zuspitzen, desto entschiedener muss dieser Charakter auch in unseren Wahlkämpfen zutage treten.

Dass der Ausgang des Wahlkampfes ein Ansporn ist, unsere Propaganda auch außerhalb der Wahlzeit kraftvoller als je zu treiben, unsere Organisation auszubauen, den Leserkreis unserer Presse zu vermehren, das engste Verhältnis zu den Gewerkschaften zu pflegen, die Propaganda und Organisation unter den Polen planvoller und energischer zu betreiben – das bedarf keiner Ausführung, das sind Selbstverständlichkeiten. In dem verstärkten Ansporn zu alledem wird für unsere Partei die beste und segensreichste Wirkung unserer Niederlage liegen.

Nicht zum mindesten aber rechnen wir für den kommenden Aufstieg auf unsere Gegner. Wenn nicht die Stichwahlen uns ganz unerwartete günstige Resultate bringen, erhält die Regierung, was sie anstrebte, eine Majorität, die ihr in allem zu willen ist. Die Sozialdemokratie zieht in den Reichstag an Mandaten geschwächt ein, der Liberalismus an Umfang wohl etwas erweitert, aber kastriert, das Zentrum unzuverlässig und höchstens in Kleinigkeiten zu energischer Opposition geneigt: so findet die Regierung keinen Hemmschuh mehr für ihren Tatendrang. Ja, die neue Majorität hemmt sie nicht nur nicht, sie drängt sie vorwärts.

Der Wahlkampf wurde geführt im Zeichen der Kolonien, er wurde von den bürgerlichen Parteien gewonnen durch Entfesselung der ausschweifendsten Erwartungen über die Leistungen der Kolonien. Nun werden die Sieger verlangen, dass die Versprechungen zur Wirklichkeit werden, dass aus den fabelhaften Dattelkisten auch wirkliche Palmen ersprießen, und zwar möglichst bald. Unter diesen Palmen wird aber Dernburg nicht lange ungestraft wandeln. Er mag sich drehen und wenden, wie er will, aus unseren Kolonien ist in absehbarer Zeit nichts zu holen. Um so krampfhafter wird man sich bemühen, unsere Kolonialpolitik profitabel zu gestalten, man wird ungezählte Millionen für sie verpulvern und wird, da mit den gegebenen Gebieten doch nichts anzufangen ist, nach anderen, gewinnreicheren Gebieten die Hand ausstrecken. So wachsen die Flottenrüstungen, die Steuern, aber auch das Misstrauen des Auslands, die Isolierung Deutschlands, die Gefahr internationaler Verwicklungen, selbst eines Weltkriegs.

Die Sozialdemokratie ist der Friede. Eine starke Sozialdemokratie in Deutschland bildete bisher den sichersten Hort des Weltfriedens. Und nun hat ein plötzlicher Paroxismus der schlafmützigsten, ängstlichen, am wenigsten kampflustigen Elemente Deutschlands, die die erhabene Partei der Nichtwähler ausmachen, die Schutzwehr des Weltfriedens niedergerissen und die Bahn frei gemacht für eine Ära ungehemmter Weltpolitik, deren abschüssige Bahn im Weltkriege endet.

Es ist nicht die Sozialdemokratie, welche diese Katastrophenpolitik betreibt. Sie wirkt ihr vielmehr auf Kraftvollste entgegen. Aber sie ist die letzte Partei, die ihre Wirkungen zu fürchten hat. Diese können vielmehr den Gang der Entwicklung ungeheuer beschleunigen. So ist es nicht unmöglich, dass gerade unsere Niederlage vom 25. Januar, die aus den ersten Blick dazu angetan scheint, unseren Sieg um ein Erhebliches weiter hinauszuschieben, ein Mittel wird, ihn rascher herbeizuführen, als wir es selbst geahnt. Die großen Ereignisse der Weltgeschichte kommen stets überraschend, und der Überraschung vom 25. Januar für uns mag bald eine noch größere Überraschung für unsere Gegner folgen.

Kommentare