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Karl Kautsky 19070828 Der Stuttgarter Kongress

Karl Kautsky: Der Stuttgarter Kongress

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 25.1906-1907, 2. Band (1906-1907), Heft 48 (28. August 1907), S. 724-730]

I.

Die Stuttgarter Tage bildeten eine stolze Heerschau des internationalen Proletariats, erhebend und anfeuernd für jeden, dem es vergönnt war, ihnen beizuwohnen. Aber sie bedeuteten noch mehr. Auf dem jüngsten internationalen Kongress dokumentierten die Arbeiterbataillone aller Länder nicht bloß eine Stärke und Entschlossenheit. wie sie bisher noch nicht bekundet worden, sie schmiedeten dort auch neue Waffen von auserlesener Wirksamkeit, die unseren Vormarsch wesentlich erleichtern und beschleunigen werden.

Das gilt vor allem von der Resolution über die Militärfrage, den Kernpunkt des Kongresses, aber nicht minder von den Entscheidungen der übrigen Fragen, die dort behandelt wurden. Nirgends begnügte man sich mit schöner Rhetorik oder vagen Sätzen, die jedem erlauben, sie nach Belieben auszulegen. Allgemein wurde diesmal der Standpunkt verlassen, der noch in Amsterdam so viele Vertreter fand, als hätten die internationalen Kongresse nicht das Recht, bestimmte Regeln des Handelns für die sozialistischen Organisationen der einzelnen Länder aufzustellen. Für jeden der fünf Punkte der Tagesordnung wurden solche Regeln, und oft sehr eingehende, festgesetzt. Nicht weil seit Amsterdam diktatorische Gelüste in den Proletariern einzelner Nationen erstanden und gewachsen wären, auch nicht, weil man eine Zentralgewalt gebildet hätte, die imstande wäre, den Beschlüssen der internationalen Kongresse Geltung zu verschaffen, sondern weil die proletarischen Bewegungen der einzelnen Länder nicht nur in ihren Grundsätzen, sondern auch in ihrer Praxis einander immer näher gekommen sind.

Fast jede der schließlich angenommenen Resolutionen wurde einstimmig votiert. In der Gewerkschaftsfrage machte nur ein Teil der französischen Genossen Vorbehalte, die aber nicht theoretischer, sondern bloß praktischer Natur waren. Sie erkannten den Standpunkt der Mehrheit als richtig an, erklärten aber, es hieße den Frieden zwischen Partei und Gewerkschaft in Frankreich gefährden, wollte man dort diese Resolution sofort in die Praxis umsetzen, andererseits waren die deutschen Genossen in der Militärfrage etwas isoliert, aber ebenfalls nicht wegen tiefgehender grundsätzlicher Gegensätze zwischen der deutschen und der übrigen Sozialdemokratie, sondern bloß deswegen, weil sie zweifelten, ob sie unter den besonderen Verhältnissen Deutschlands imstande seien, das Ziel der Erhaltung des Friedens auf dem Wege zu erreichen, den die große Mehrheit der anderen Nationen für geboten hielt.

Nur in einer Frage trat ein grundsätzlicher Gegensatz hervor, in der Kolonialfrage, wo plötzlich die Idee einer sozialistischen Kolonialpolitik auftauchte. Hier standen sich eine Mehrheit und eine Minderheit gegenüber, zwischen denen der Kongress entscheiden musste. Er entschied für die Minderheit der Kommission und gegen die Idee einer sozialistischen Kolonialpolitik. Die Mehrheit gegen diese wäre noch größer gewesen als die für das Amendement der Minderheit, wenn über den Antrag der französischen Delegation abgestimmt worden wäre, den ersten Absatz zu streichen, der die Idee der sozialistischen Kolonialpolitik enthielt. War es doch zum Beispiel die gesamte französische Delegation, die die Streichung des ersten Absatzes beantragte, obwohl Frankreich nur 8 Stimmen für den Antrag der Minorität und 12 Stimmen dagegen abgab.

Es unterliegt also keinem Zweiset. dass der Absatz, der den Gedanken einer sozialistischen Kolonialpolitik aussprach, mindestens mit 138 gegen 96 Stimmen abgelehnt worden wäre. Wahrscheinlich wäre die Majorität noch größer gewesen.

Die Episode der sozialistischen Kolonialpolitik war die einzige, die ein schärferes Aufeinanderprallen von Gegensätzen in Stuttgart hervorrief, die einzige, in der sich eine Verständigung unmöglich erwies. Sonst gelang es überall, trotz einzelner Differenzen, schließlich zu einer solchen zu kommen, zu einer wirklichen Verständigung, nicht zu einer Vertuschung.

Diese Einmütigkeit bildete das vornehmste Merkmal des jüngsten Kongresses; ebenso bedeutsam aber erscheint mir die Tatsache, dass von der führenden Rolle, die bisher die deutsche Sozialdemokratie in der neuen Internationale tatsächlich einnahm, diesmal nichts mehr zu merken war – sie hat ein Ende gefunden gerade auf dem ersten internationalen Kongress, der auf deutschen Boden stattfand.

Seit den Ereignissen von 1870 und 1871 war der Schwerpunkt der internationalen sozialistischen Parteien von England und Frankreich nach Deutschland geglitten, nicht weil die deutsche Sozialdemokratie nach einer Hegemonie in der Internationale strebte – nichts lag ihr ferner –, sondern weil die Verhältnisse die proletarische Bewegung Deutschlands aufs Rascheste anwachsen und erstarken ließen, während sie die Englands und Frankreichs zu einer gewissen Stagnation verurteilten; hier zu einer zünftigen Verknöcherung der Gewerkschaften führten, dort Sektiererei, Spaltungen, Schwäche der gewerkschaftlichen Bewegung, unstetes Experimentieren mit neuen Modeerscheinungen, heute mit dem Boulangismus, morgen mit dem radikalsozialistischen Ministerialismus, hervorriefen. Wenn dagegen die deutsche Sozialdemokratie gleichzeitig rasch an Kraft zunahm, verdankte sie das vor allem der raschen ökonomischen Entwicklung des Reiches, das nicht nur Frankreich, sondern auch England überholte; sie verdankte das aber auch der Marxschen Theorie, die ihr einen sicheren Leitstern bot, der den proletarischen Bewegungen Englands und Frankreichs wenn auch nicht ganz fehlte, so doch ungenügend bekannt war. Wohl ist der wissenschaftliche Sozialismus nicht ein rein deutsches Erzeugnis. Schon vor mehr als zwei Jahrzehnten habe ich in der „Neuen Zeit" ausgeführt, dass die revolutionären Erfahrungen Frankreichs, die kapitalistischen Erfahrungen Englands an seiner Entstehung ebenso beteiligt waren wie das methodische Denken, das aus der Philosophie Deutschlands hervorging. Nur Männer die in England und Frankreich ebenso zu Hause waren wie in Deutschland die das Wissen aller dieser Länder beherrschten, konnten den wissenschaftlichen Sozialismus begründen.

Aber trotz dieses internationalen Ursprungs wurde der wissenschaftliche Sozialismus oder Marxismus am ehesten von den Proletariern Deutschlands aufgenommen, in deren Sprache seine Hauptwerke erschienen, und deren Denken wie das der Deutschen überhaupt, damals noch leichter der Erkenntnis umfassender Zusammenhange zugänglich war, weil sie lange Zeit hindurch weniger als Engländer und Franzosen durch praktische Augenblickspolitik absorbiert wurden.

Schuf die ökonomische Entwicklung in Deutschland ein starkes Proletariat, so gab die Marxsche Lehre diesem die Fähigkeit, eine klare und einheitliche Politik ohne Schwankungen und Irrungen zu verfolgen, und die Einheitlichkeit der Theorie schuf die Möglichkeit der Einheitlichkeit der Organisation großer Massen, die nicht gelegentlich für die Erreichung der einen oder der anderen Forderung, sondern für die Durchsetzung eines großem weit umfassenden Programms dauernd zusammengeschweißt wurden.

Daher die Überlegenheit der deutschen Sozialdemokratie über die proletarische Bewegung Englands und Frankreichs in den siebziger, achtziger und auch noch neunziger Jahren, daher die Rolle, die sie als Vorbild und Lehrer jeder sozialistischen Partei spielte, die seit den siebziger Jahren erstand, daher das Übergewicht, das sie auf den internationalen Kongressen seit der Begründung der neuen Internationale tatsächlich besaß, ohne dass sie es in irgend einer Weise angestrebt hätte. Der Stuttgarter Kongress ist der erste seit 1889, auf dem dieses Übergewicht nicht mehr in Erscheinung tritt.

Es bestand noch in Amsterdam. Noch war damals der französische Sozialismus gespalten, der englische Sozialismus anscheinend ohne Einfluss auf die Massen, ebenso der amerikanische, und in Russland der Zarismus noch unerschüttert, eine offene Massenagitation im Proletariat unmöglich. Wie hat sich das alles seitdem geändert! Und nicht nur die Macht, auch das theoretische Verständnis der proletarischen Parteien des Auslandes ist überraschend gewachsen.

So sind wir jetzt in eine neue Epoche der Internationale getreten. Wurde die erste Internationale von England aus geleitet, hatte die zweite bisher ihren tatsächlichen Schwerpunkt in Deutschland, so besteht seit dem Stuttgarter Kongress neben der formellen Gleichberechtigung aller proletarischen Bewegungen auch die tatsächliche Gleichwertigkeit der wichtigsten unter ihnen, eine Gleichwertigkeit, die nicht aus einem Zurückbleiben der deutschen Sozialdemokratie, sondern auf einem rascheren Wachstum der bedeutendsten der ausländischen beruht, eine Gleichwertigkeit, die nicht zur Zersplitterung führt, sondern zu wachsender Harmonie und Geschlossenheit, weil sie auf dem Wachstum aller in gleicher Richtung beruht und weil sie allen Eifersüchteleien ein Ende macht, die im Stillen manche kleinere Organisation des Auslandes hie und da hegten, wenn sie die Überlegenheit der deutschen Sozialdemokratie bedrückend empfanden.

Diese selbst hat darum das Schwinden ihrer Überlegenheit aufs Freudigste zu begrüßen, entspringt es doch nicht einem Schwinden ihrer eigenen Kraft, sondern dem raschen Zunehmen der Kräfte ihrer Brüder. Die Gleichwertigkeit der sozialdemokratischen Organisationen aller großen Kulturländer, sie erst bietet die feste Grundlage, die jeden unserer Fortschritte zu einem allgemeinen und unzerstörbaren macht.

II.

Dürfen wir mit den Beschlüssen des Stuttgarter Kongresses zufrieden sein und versprechen sie uns fruchtbringende Wirkungen, so ist damit doch nicht gesagt, dass die angenommenen Resolutionen tadellos, dass nicht die meisten von ihnen in der Form und auch in manchen Details recht anfechtbar seien.

Das ist ein Missstand, der sich daraus erklärt. dass bei der Geschäftslage eines internationalen Kongresses eine Diskussion von Details im Plenum fast unmöglich ist. Man kann da eigentlich nur die Annahme oder Verwerfung einer Resolution im Ganzen begründen – wenn man überhaupt zum Worte kommt, was bei dem Mangel an Zeit nur wenigen Glücklichen passiert.

Wie es einem ergehen kann, der sich darauf einlässt, Schönheitsfehler aus einer Resolution ausmerzen zu wollen, sei hier an einem Beispiel gezeigt, das ich ausführlicher behandeln will, weil es mir hier gilt, ein Missverständnis aufzuhellen, das ich nicht gern auf mir sitzen lassen will.

Die Genossin Luxemburg und ich hatten in der sonst vortrefflichen Resolution über Ein- und Auswanderung gefunden, dass sie als „gesetzlichen Arbeiterschutz" verlangt: „Einführung eines Minimallohnsatzes, Regelung des Sweatingsystems und der Heimarbeit". Gegen diese Forderungen rebellierte unser wissenschaftliches Gewissen und wir versuchten, an Stelle der Regelung das Verbot des Sweatingsystems zu setzen und das Verlangen nach einem gesetzlichen Minimallohn auszumerzen. Die Geschäftslage des Kongresses machte es jedoch unmöglich, dass einer der Antragsteller zum Wort kam, den Antrag zu begründen, der Referent aber, Genosse Ellenbogen, wies den Antrag auf Streichung des Minimallohns zurück mit folgender Begründung:

Ich kenne die großen Theoretiker des Sozialismus sehr wohl und habe die größte Hochachtung vor diesen Männern der Wissenschaft. Ich weiß auch, dass sie vor mehreren Jahrzehnten die Forderung eines Minimallohns abgelehnt haben, weil sie befürchteten, dass er zum Maximallohnsatz werden würde. Die Tatsachen widersprachen aber dieser Anschauung. In Viktoria und in Zürich hat sich der Minimallohn bestens bewährt, und in Bern sträubt sich gegen seine Einführung, die die Arbeiterklasse fordert, die Bourgeoisie aufs Heftigste. Wollen Sie diesen Arbeitern in den Rücken fallen und der Bourgeoisie zu Hilfe kommen?"

Ich hoffe, es wäre mir gelungen, wenn ich das Wort erhalten hätte, den Kongress davon zu überzeugen, dass ich so hochverräterische Absichten gegen die Arbeiterklasse nicht hege und dass für unsere Forderung nicht bloß eine persönliche „Hochachtung vor den Männern der Wissenschaft", sondern auch die Tatsachen sprachen.

Vor allem darf man nicht zweierlei miteinander verwechseln: den Minimallohn, den die Gemeinde oder auch der Staat für ihre Arbeiter festsetzen. Solche Minimallöhne sind möglich und nützlich, die Arbeiterklasse hat sie mit aller Kraft anzustreben, wo immer sie Gelegenheit dazu findet. Dasselbe gilt von den in Tarifverträgen festgesetzten Minimallöhnen. Aber darum handelt es sich hier nicht, wo vom Minimallohn als einem Stücke des „gesetzlichen Arbeiterschutzes" die Rede ist. Ellenbogen hat auch ausdrücklich auf Viktoria hingewiesen. Unter dem hier gemeinten Minimallohnsatz ist ein Lohnsatz zu verstehen, der von Staats wegen für die privaten Unternehmen festgesetzt wird. Den Kampf für einen solchen Minimallohn haben unsere „Männer der Wissenschaft" stets verworfen, nicht weil sie fürchteten, der Minimallohn werde zum Maximallohn werden, davon ist mir nichts bekannt, und es ist unerfindlich, warum die Festsetzung des Minimallohns auf die Löhne herabrückend wirken sollte. Sie haben den Kampf darum verworfen, weil sie es für unmöglich erachteten, in der kapitalistischen Produktionsweise mit ihren unaufhörlichen Preisrevolutionen den Mindestpreis irgendeiner Ware, also auch nicht den der Ware Arbeitskraft festzusetzen und diesen Preis zu erzwingen. Der Kampf um eine wirkungslose Maßregel ist aber eine Kraftverschwendung. Das Proletariat vor einer solchen zu bewahren, seine Kräfte auf mögliche und notwendige Ziele zu konzentrieren, das ist für die Vorkämpfer der Arbeiterklasse der Hauptnutzen der Wissenschaft. Dazu bedürfen wir der Theorie und nicht zur Pflege persönlicher „Hochachtung vor den Männern der Wissenschaft“, was für den proletarischen Klassenkampf eine sehr gleichgültige Sache ist.

Die Tatsachen widersprechen aber durchaus nicht der Theorie, sondern, soweit überhaupt Erfahrungen über den Minimallohn vorliegen, was nur in dürftigem Maße der Fall, bestätigen sie diese.

Ellenbogen beruft sich auf die vortreffliche Bewährung des Minimallohns in Viktoria. Was setzt dort das Gesetz darüber fest? Es bestimmt nicht einen allgemeinen Minimallohn, sondern gibt dem Gouverneur das Recht, für Industriezweige, in denen besonders elende Löhne gezahlt werden, die Erwählung einer Kommission anzuordnen, in die Lohnarbeiter und Unternehmer gleich viele Vertreter entsenden. Diese erwählen einen „Unparteiischen" als Vorsitzenden. Die so zusammengesetzte Kommission hat das Recht, das Minimum festzusetzen, unter das der Lohn in dem Industriezweig nicht sinken darf. An dessen Festsetzung sind also die Unternehmer ebenso beteiligt wie die Arbeiter. Nichtsdestoweniger haben sie, das muss man zugeben, in manchen Fällen die Mindestlöhne nicht unerheblich erhöht. Was war aber die Folge? Die Unternehmer beschäftigten nur noch die kräftigsten und geschicktesten Arbeiter. Alle minder geschickten, schwächlichen oder alten Arbeiter wurden zu dauernder Arbeitslosigkeit verurteilt. Um dem Verhungern zu entgehen, blieb diesen Arbeitern nichts anderes übrig, als das Gesetz zu umgehen, unter dem Minimallohn zu arbeiten, dem Fabrikinspektor aber zu erklären, dass sie den Minimallohn erhielten. Entweder Umgehung des Gesetzes durch die schwächeren Arbeiter selbst, oder deren

dauernde Arbeitslosigkeit, das ist die Folge des gesetzlichen Minimallohns. Der Hauptfabrikinspektor von Viktoria erklärt denn auch, der Minimallohn sei nur durchführbar, wenn der Staat selbst die Arbeitslosen zu Minimallöhnen beschäftige und den alten Arbeitern ausreichende Pensionen zahle. Das ist sehr richtig, aber sind diese Maßregeln durchgeführt, dann wird der Minimallohn überflüssig.

Davon, dass er sich in Viktoria „bestens bewährt" habe, davon kann also gar keine Rede sein.

Derartige Details im Plenum eines internationalen Kongresses zu erörtern und richtigzustellen, ist in der Regel unmöglich; aber auch in den Kommissionen ist wenig Gelegenheit dazu. Sie bestehen aus zahlreichen Mitgliedern – hatte doch jede der 25 Nationen des Kongresses das Recht, vier Delegierte in jede der Kommissionen zu einsenden. Und für deren Verhandlungen ist die Zeit auch nur spärlich bemessen. Da muss man froh sein, wenn es gelingt. eine Grundlage zu finden, auf der sich die Mehrheit einigen kann und in der die Spezialwünsche der verschiedenen Nationen Berücksichtigung finden können. Zu einer sorgfältigen Feilung aller Details, einer knappen und einheitlichen Zusammenfassung aller wichtigen Gesichtspunkte fehlt da die Zeit.

Die Schwierigkeiten der Geschäftsführung und der Diskussion drohen aber von Kongress zu Kongress zu wachsen, zu wachsen gerade infolge einer erfreulichen Erscheinung, infolge der raschen Verbreitung und Erstarkung des Sozialismus in der ganzen Welt. In Amsterdam waren 476 Delegierte versammelt. diesmal fast die doppelte Zahl, fast 900. Schon ein einsprachiges Parlament kann nur schwer eine sachliche Diskussion führen, wenn es mehr als 400 bis 500 Mitglieder zählt, wie denn erst ein mehrsprachiges. Es ist ein glänzendes Zeugnis für die Leitung und Organisation des Kongresses einerseits wie für die Schulung und Disziplin seiner Mitglieder andererseits, dass er trotz alledem so viele positive Arbeit in so kurzer Zeit leisten konnte. Aber dass bei einer weniger zahlreichen Beteiligung mindestens das gleiche mit einem minderen Kraftaufwand geleistet werden konnte, ist sicher.

Es sei hier ganz abgesehen von den großen Geldmitteln, welche diese starke Beteiligung erheischte, Geldmitteln, die, ohne die Wirksamkeit des Kongresses zu beeinträchtigen, ja bei gleichzeitiger Erleichterung seiner Arbeiten, hätten gespart und anderen Zwecken zugeführt werden können.

Es wird dringend nötig sein, für künftige internationale Kongresse die Zahl der Teilnehmer zu beschränken. Man kann das um so leichter, als sich die Zuteilung der verschiedenen Stimmenzahlen auf die einzelnen Nationen diesmal vortrefflich bewährt und nirgends Widerstand gefunden hat. Nichts einfacher als nun das Maximum der Zahl der Delegierten jeder Nation in ein bestimmtes Verhältnis zur Zahl der ihr zustehenden Stimmen zu setzen, etwa das Dreifache dieser Zahl als Maximum zu bestimmen, was den größten Nationen 60, den kleinsten (außer Luxemburg) 12 Delegierte gäbe, insgesamt immer noch ein mögliches Maximum von etwa 700 Delegierten. Da aber eine Reihe kleiner Nationen nicht die volle ihnen zustehende Delegiertenzahl entsenden, dürfte die wirkliche Delegiertenzahl erheblich hinter diesem Maximum zurückbleiben. Ohne eine solche Beschränkung droht aber der nächste Kongress zu einer unlenkbaren, unförmlichen Massenhaftigkeit anzuschwellen.

Ebenso notwendig aber wäre es, der Öffentlichkeit die Möglichkeit zu geben, die dem Kongress vorzulegenden Resolutionen vor seinem Zusammentritt ausreichend zu beraten. Gleichzeitig mit der Festsetzung der Tagesordnung hätte das Internationale Büro auch die Referenten zu bestimmen und diese anzuweisen, ihre Referate und Resolutionen einige Monate vor dem Kongress zu veröffentlichen.

Übrigens würde es sich empfehlen, Referate über Gegenstände von grundsätzlicher Bedeutung auch für unsere deutschen Parteitage schon einige Zelt vor dessen Zusammentritt im Druck erscheinen zu lassen. Ihre Diskutierung wäre eine ausgiebigere und vielseitigere, die Delegierten selbst könnten das Referat gründlicher studieren, der Kongress endlich gewönne mehr Zeit und wir vermieden das so oft schon eingetretene peinliche Vorkommnis, dass ein hochwichtiges, vorzüglich ausgearbeitetes Referat aus Mangel an Zeit von der Tagesordnung abgesetzt werden oder am Schluss der Verhandlungen vor einem gänzlich erschöpfen Kongress flüchtig vorgebracht werden und ohne jede Diskussion erledigt werden musste.

Ein internationaler Kongress hat nur noch bei einem Verfahren von Art des hier vorgeschlagenen Aussicht, Resolutionen zu schaffen, die nicht bloß im Ganzen und Großem sondern auch in allen Details wohlüberlegt sind und jeder Kritik standhalten. Natürlich bliebe der Kongress souverän sowohl in der Bestimmung der Tagesordnung wie der Referenten. Aber ohne dringende Not wird er Beschlüsse des Internationalen Büros nicht umstoßen, und dies wird zu Referenten stets Genossen wählen, die das betreffende Gebiet beherrschen, die darüber Wichtiges zu sagen haben, deren Referate eine Bereicherung der Parteiliteratur bilden, auch wenn der Kongress ihre Schlussfolgerungen ablehnen sollte.

Unsere Kongresse sind keine Parlamente, die Hunderte von Tagen im Jahre beisammen sitzen und es ermöglichen, dass jeder Standpunkt aufs Ausführlichste vertreten wird. Nicht die Diskussion ist ihre wesentliche Funktion, nicht die Arbeit der Aufklärung und Begründung, sondern die Beschlussfassung, die Feststellung der Kraftverhältnisse der einzelnen Richtungen der proletarischen Bewegung. Sie haben nicht zu zeigen, welcher Standpunkt richtig, welcher falsch ist, sondern welcher von der Mehrheit geteilt wird, welcher nicht.

Der Kampf der Argumente ist weit weniger Sache der Kongresse als der Parteipresse. Je mehr unsere Kongresse, nationale wie internationale, von Fragen der Praxis, der Organisation und des Kampfes in Anspruch genommen werden, desto weniger werden sie Fragen der Grundsätze ausreichend diskutieren, desto mehr werden sie darüber bloß Abstimmungen herbeiführen können, desto mehr wird an Stelle der Diskussion bloß eine ausführlichere Motivierung der Abstimmung treten müssen.

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