Karl Kautsky‎ > ‎1907‎ > ‎

Karl Kautsky 19071023 L. Mahler, Marxismus und soziale Entwicklung

Karl Kautsky: L. Mahler, Marxismus und soziale Entwicklung

Drei Fehler der neueren Marxkritik. Berlin, Puttkamer Mühlbrecht. 16 Seiten. 35 Pf.

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 26.1907-1908, 1. Band (1907-1908), Heft 4 (23. Oktober 1907), S. 141 f.]

Der revisionistischen Kritik des Marxismus gegenüber findet Herr Mahler manche treffende Bemerkung. Doch ist er leider selbst im Marxismus nicht ganz sattelfest. So bringt er zum Beispiel als Beweis für das Stattfinden der kapitalistischen Akkumulation folgende der preußischen Steuerstatistik entnommene Tabelle vor. Es betrug die Zahl der über 6000 Mark besitzenden Zensiten samt ihren Angehörigen Prozent der Gesamtbevölkerung:


1895

1896

1897

1899

1902

1905

In den Städten

13,85

13,59

13,29

13,08

12,98

12,69

Auf dem Lande

14,44

14,3

14,3

14,55

14,45

14,66

Überhaupt

14,14

13,97

13,93

13,92

13,81

13,78

Der erste Blick, den wir auf die Tabelle werfen," sagt Mahler, „überzeugt uns von einer Abnahme der besitzenden Klasse, also von einer Akkumulation.“

Das ist falsch! Unter Akkumulation versteht Marx das Wachstum der Masse des Kapitals in der Gesellschaft, das dadurch erzeugt wird, dass die Kapitalistenklasse von der Menge des Mehrwerts nur einen Teil konsumiert, einen anderen Teil in neues Kapital verwandelt, „spart'', akkumuliert.

Die Akkumulation des Kapitals bedingt an sich keineswegs eine Abnahme der Zahl der Kapitalisten oder der Kapitale. Mit der Masse des Kapitals kann auch die Zahl der einzelnen Kapitale wachsen. „Das Wachstum des gesellschaftlichen Kapitals," sagt das „Kapital", „vollzieht sich im Wachstum vieler individuellen Kapitale. … Zugleich reißen sich Ableger von den Originalkapitalen los und fungieren als neue, selbständige Kapitale. … Mit der Akkumulation des Kapitals wächst also auch mehr oder minder die Anzahl der Kapitalisten" (I. 3. Aufl., S. 642). Als weitere Ursache einer solchen Zunahme bei fortschreitender Akkumulation nennt die französische Übersetzung (S. 275) die Verwandlung bisher totliegender Werte (valeurs dormantes) in Kapital.

Aber diese Tendenz nach Vermehrung der individuellen Kapitale wird durchkreuzt durch eine andere, die von einem bestimmten Punkte der Entwicklung an jene überwindet. Es ist die nach Zusammenfassung bereits bestehender individueller Kapitale in ein einziges, welche Tendenz Marx ursprünglich „eigentliche Konzentration", dann aber in der französischen Ausgabe Zentralisation nannte, im Unterschied von jener Konzentration des Kapitals, welche durch die ans der Akkumulation folgende Vergrößerung individueller Kapitale bewirkt wird. Engels hat in die von ihm besorgten Auflagen des deutschen „Kapital" die Bezeichnung der französischen Ausgabe übernommen.

Die Zentralisation der Kapitalien und nicht ihre Akkumulation ist es, die eine Abnahme der Zahl der individuellen Kapitale bewirkt. Aber auch diese Zentralisation muss nicht notwendigerweise eine Abnahme der Zahl der Besitzenden bewirken. In der .französischen Übersetzung des „Kapital“ handelt Marx ausführlicher von der Zentralisation als im deutschen Original, und er weist dort ausdrücklich auf das Aktienwesen als eines der mächtigsten Mittel der Zentralisation der Kapitalien hin. So können an einem einzelnen Kapital, einer einzelnen Firma, gar viele Besitzer Anteil haben.

Freilich, von einer gewissen Höhe der Entwicklung an macht die Zentralisation der Kapitalien solche Fortschritte, dass sie auch zur Abnahme der Zahl der Besitzenden führt. Aber stets wird diese Abnahme, dank dem Aktienwesen, weit weniger rasch vor sich gehen, als die Zentralisation der Kapitale, die dem Proletariat im Klassenkampf gegenüber stehen. Die Zahl und Größe der Kapitale aber ist es, die über Formen und Schärfe des Klassenkampfs entscheidet, und nicht die Zahl der Besitzenden.

Eine Zunahme der Zahl der Besitzenden beweist noch nichts gegen das Stattfinden einer Zentralisation der Kapitalien, dagegen bildet allerdings eine Abnahme der Besitzenden einen starken Beweis dafür. Nicht aber beweist sie, wie Mahler meint, die Akkumulation des Kapitals, das heißt des gesellschaftlichen Reichtums. Marx führt im „Kapital" als Illustration dafür die Zunahme der Masse der Profite und Grundrenten und nicht eine Abnahme der Besitzenden an.

Das sind keine überflüssigen Haarspaltereien, denn gerade aus ungenauen Gedankengängen aus diesen Gebieten erwächst die Verwirrung, die der Revisionismus anrichtet. Wer ihn widerlegen will, muss sich vor allem selbst vor solchen Ungenauigkeiten hüten.

K. K.

Kommentare