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Karl Kautsky 19070227 Otto Pfleiderer, Die Entstehung des Christentums

Karl Kautsky: Otto Pfleiderer, Die Entstehung des Christentums

Otto Pfleiderer, Professor an der Universität Berlin, Die Entstehung des Christentums. Zweite Auflage. München, J. F. Lehmanns Verlag. VI, 255 Seiten.

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 25.1906-1907, 1. Band (1906-1907), Heft 22 (27. Februar 1907), S. 760]

Professor Pfleiderer gehört zu den modernen liberalen Theologen, die versuchen, das Christentum in den Strom der Geschichte zu stellen und es als Produkt seiner Zeit zu begreifen, die aber doch nicht so weit zu gehen vermögen wie ehedem Bruno Bauer und neuerdings Kalthoff, die das Christentum rein nur aus den Tendenzen der Zeit seiner Entstehung zu erklären trachten.

Obwohl die erhaltenen Berichte über die Person Jesu völlig unglaubwürdig sind, so dass es ganz unmöglich ist, aus ihnen einen sicheren historischen Kern über die von ihnen behandelten Personen herauszuschälen, versucht doch Pfleiderer, wie seine übrigen liberalen Kollegen, nach Ablösung alles dessen aus diesen Berichten, was von vornherein unmöglich und offenbar erfunden ist, aus dem verbliebenen dürftigen Rest des Möglichen ein Bild Christi aufzubauen, das, so wie die Schilderungen seiner Vorgänger von Strauß und Renan an, nichts darstellt als einen historischen Roman. Allerdings einen sehr belehrenden Roman, weil die Zeitumstände, in denen Jesus wirkte und die auf ihn wirkten, sehr anschaulich geschildert sind – jedoch unter geringerer Beachtung der ökonomischen Momente, als bei manchen anderen modernen theologischen Geschichtsschreibern des Christentums der Fall.

Aber der Erfolg des Buches dürfte nicht seiner Schilderung des Christentums als Produkt eines Entwicklungsprozesses zuzuschreiben sein, sondern gerade seiner schwachen Seite, dem Roman von Jesus. Der entspricht dem modernen Bedürfnis der Bourgeoisie nach Religion, nach dem Kultus eines Übermenschen, aber in Formen, die vereinbar sind mit den Ergebnissen der modernen Wissenschaft. Das konservative politische Pfaffentum kann sich nicht genug entrüsten über die Untergrabung der Religion durch die liberalen Theologen à la Harnack und Pfleiderer. Die pfäffische Borniertheit ahnt nicht den ungeheuren Dienst, den diese ihrer Religion erweisen, indem sie sie dem modernen Bewusstsein anpassen und dadurch ihre Existenzmöglichkeit verlängern.

K. K.

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