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Karl Kautsky 19071211 Tunis

Karl Kautsky: Tunis

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 26.1907-1908, 1. Band (1907-1908), Heft 11 (11. Dezember 1907), S. 383 f.]

Tunis soll auch zu den Ländern gehören, die dadurch gewonnen haben, dass sie unter die „Bevormundung" einer höheren Kultur kamen. Und in der Tat, wer bloß nach jenen Äußerlichkeiten urteilt. die den Bourgeois allein interessieren, der wird finden, dass Tunis sehr gewonnen hat, seitdem es von Frankreich besetzt wurde. Seine Finanzen sind in guter Ordnung, die Geschäfte blühen, große Anlagen aller Art werden mit französischem Kapital unternommen und verbreiten die „Zivilisation" im Lande.

Das alles aber wurde erkauft durch eine grenzenlose Ausbeutung und Degradierung des Bauern. Nicht irgend ein rein „negativ“ gerichteter Sozialdemokrat stellt diese Behauptung auf, das gestand in einem unbewachten Moment der Vertreter Frankreichs in Tunis, Herr Alapetite, bei einem Bankett, das ihm am 20. Oktober die Handelskammer von Lyon gab, dessen Kapitalisten in Tunis besonders stark engagiert sind. Der Generalresident des „Schutzstaates" hielt da eine Rede, in der er unter anderem folgendes ausführte (nach dem Bericht des Courrier Européen, 25. Oktober):

Es ist ein Land, dem noch vieles fehlt, was man den Franzosen in Frankreich nicht vorenthalten könnte, ohne Stürme der Entrüstung zu erregen; ein Land, in dem man in bewohnten Gegenden 80 Kilometer zurücklegen kann, ohne einen Arzt zu finden oder einen Polizisten (der Schmerz wäre zu ertragen. D. Red); wo Gebiete so groß wie ein französisches Departement keine gebahnte Straße haben, wichtige Städte kein trinkbares Wasser. Und wir finden da Bauern (Fellahs), die auf dem nackten Boden schlafen, das Ackerland mit einem hölzernen Pflug ritzen, die nichts ihr eigen nennen als ein paar Schafe. Dafür zahlen sie aber eine Kopfsteuer, gegen die sich der wohlhabendste französische Bauer empören würde. Es ist ein Land, derart erdrückt durch ein staatliches Ausbeutungssystem, dass es fast unmöglich ist, ihm noch eine neue Steuer aufzuerlegen, weil es fast unmöglich wäre, sie einzutreiben."

Die Marokkaner wissen ganz gut, warum sie sich gegen den europäischen Kultursegen so verzweifelt wehren.

K. K.

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