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Karl Kautsky 19080926 Einige Feststellungen über Marx und Engels

Karl Kautsky: Einige Feststellungen über Marx und Engels

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 27.1908-1909, 1. Band (1908-1909), Heft 1 (26. September 1908), S. 1-7]

1. Marx

Wie früher schon so oft, haben auch bei den jüngsten Parteidiskussionen die Gegner der Marxisten uns durch Berufungen auf Marx und Engels zu schlagen versucht. Zwei derartige Berufungen seien hier näher betrachtet. da sich deren Haltlosigkeit nicht ohne weiteres ergibt.

Die eine geschah auf dem Nürnberger Parteitag bei der Diskussion über die Parteischule. Von Eisner wurde im Anschluss an einen Artikel Maurenbrechers der Satz verteidigt, die Arbeiterbildung habe darin zu bestehen, den Arbeitern die wichtigsten Einzeltatsachen namentlich der Geschichte beizubringen, dagegen sei es geradezu schädlich, sie mit den großen Zusammenhängen in Geschichte und Ökonomie, mit materialistischer Geschichtsauffassung und Werttheorie bekannt zu machen. Die könnten sie ja doch nicht verstehen. Die Arbeiterbildung sollte also in der Weise jener Universitätsbildung betrieben werden, die Mephisto so fein verspottet:

Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben,

Sucht erst den Geist herauszutreiben.

Dann hat er die Teile in seiner Hand,

Fehlt leider! nur das geistige Band.

Dem Proletarier sollten seine Lehrer nur die Teile in die Hand geben, das geistige Band aber für sich behalten. Man soll den Arbeitern bloß Geschichten erzählen, nicht aber sie in wissenschaftliches Denken einführen.

Andererseits meinte Maurenbrecher, der Unterricht in den Parteischulen habe den Arbeitern nicht Theorie, sondern Entschlossenheit und Willenskraft beizubringen. Dazu solle man ihnen große Taten und die Schicksale starker Männer, Lassalles, Napoleons, Friedrichs II., Bismarcks usw., vorführen.

Darüber ließe sich natürlich sehr viel sagen. Wir sind der Anschauung, dass den Proletariern Entschlossenheit und Willenskraft durch die Kämpfe des Lebens beigebracht werden. Wer sie daraus nicht gewinnt, den werden ein paar Biographien auch zu keinem Helden machen. Was den Arbeitern fehlt, was ihnen das Leben nicht beibringt, das ist die Erkenntnis ihrer Stellung in der Gesellschaft und ihrer daraus erwachsenden historischen Aufgaben, das ist also die „Theorie".

Aber diese Frage wollen wir jetzt nicht weiter erörtern, wir wollen uns nur den Zeugen ansehen, auf den Eisner sich berief. Hätte er sich auf den Pfarrer Naumann gestützt, so wäre das vollkommen berechtigt gewesen. Eben jetzt veröffentlicht dieser in der „Neuen Deutschen Rundschau" einen Artikel, in dem er genau wie Eisner und Maurenbrecher erklärt, den Proletariern brauche von der Sozialdemokratie nicht ökonomische Erkenntnis beigebracht zu werden, sondern ein starkes Wollen. Das heißt mit anderen Worten, das, was man die Arbeiter lehren müsse, sei nicht wissenschaftlicher Sozialismus, sondern Gefühlssozialismus.

Dass die für das Proletariat nötige ethische Erhebung und Erbauung ihm am besten durch die Biographien hervorragender Männer eingeflößt werden, dieser Gedanke liegt den theologischen Doktoren des Nationalsozialismus sehr nahe. Gerade von dieser Auffassung ließen sich die christlichen Propagandisten bei der Niederschrift der Evangelien und sonstiger erbaulicher Legendensammlungen leiten.

Aber freilich wäre Eisner ausgelacht worden, hätte er Friedrich Naumann herangezogen. Er berief sich vielmehr auf Karl Marx, auf den Mann, der mehr als jeder andere dahin gewirkt hat, und den Köpfen der Proletarier den Gefühlssozialismus durch wissenschaftlichen Sozialismus zu verdrängen.

Seine famose Auffassung glaubt Eisner zu stützen durch einen Marxschen Satz, in dem bemerkt wird, die Arbeiter, wenn sie die Arbeit aufgäben und Literaten würden, richteten theoretisch stets Unheil an.

Für die Frage der Arbeiterbildung. ist dieser Satz freilich belanglos. Es steht hier kein Wort davon, dass die Arbeiter unfähig seien, den historischen Materialismus und die Werttheorie zu verstehen. Er wendet sich bloß dagegen, dass Arbeiter „Literaten von Profession" werden. Immerhin könnte er zu falschen Auffassungen Veranlassung geben, es ist daher gut, seinen wahren Sinn aus dem Zusammenhang, in dem er steht, festzustellen.

Marx schrieb den Satz in einem Briefe an Sorge am 19. Oktober 1877*. Damals begann in die deutsche Sozialdemokratie ein Geist einzudringen, der Marx sehr besorgt machte. Ideen machten sich in unseren Reihen breit, die dann das Sozialistengesetz wegfegte, die aber nach dessen Überwindung im Revisionismus ihre Auferstehung feierten. Höchberg predigte zu jener Zeit einen „ethisch-ästhetischen" Sozialismus, Schäffle, Dühring und andere akademische Lehrer gewannen Einfluss auf die Arbeitermassen durch Vermittlung einzelner Parteigenossen, Arbeiter, die, ohne gründliche Vorbildung, bloß auf ihre Intelligenz, ihr starkes sozialistisches Empfinden und ihre Federgewandtheit gestützt, zu Berufsschriftstellern geworden waren und nun jeder neuen sozialistischen Erscheinung, jeder neuen Mode haltlos gegenüberstanden, dabei aber durch ihre unleugbaren literarischen und agitatorischen Fähigkeiten Einfluss auf die Massen gewannen und so in diesen anstatt Klarheit und Einheitlichkeit Verworrenheit und Verwirrung säten. Am meisten machte sich in dieser Beziehung Johann Most bemerkbar.

Darüber schrieb Marx:

In Deutschland macht sich in unserer Partei, nicht so sehr unter den Massen als unter den Führern (Höherklassigen und Arbeitern) ein fauler Geist geltend.

Der Kompromiss mit den Lassalleanern hat zum Kompromiss auch mit anderen Halbseiten (?)1 geführt, in Berlin (siehe Most) mit Dühring und seinen Bewunderern, außerdem aber mit einer ganzen Bande halbreifer Studiosen und überweiser Doktors, die dem Sozialismus ,höhere ideale' Wendung geben wollen, das heißt die materialistische Basis, die ernstes objektives Studium erheischt, zu ersetzen suchen durch moderne Mythologie, mit ihren Göttinnen der Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und Fraternité. (Brüderlichkeit.). Herr Dr. Höchberg, der die ,Zukunft' herausgibt, ist ein Vertreter dieser Richtung und hat sich in die Partei eingekauft – ich unter stelle mit ,den edelsten' Absichten, aber ich pfeife auf ,Absichten'. Etwas Miserableres als sein Programm der ,Zukunft' hat selten mit mehr ,bescheidener Anmaßung' das Licht erblickt.

Die Arbeiter selbst, wenn sie, wie Herr Most und Konsorten, die Arbeit aufgeben und Literaten von Profession werden, stiften stets theoretische Unheil an und sind stets bereit, sich an Wirrköpfe aus der angeblich gelehrtem Kaste anzuschließen."

Es gehört eine eigenartige Auffassungsgabe dazu, in diesen Sätzen ein Plädoyer dafür zu sehen, dass die Aufklärung des Proletariats bei denen, die ihm „moderne Mythologie" beibringen wollen, besser aufgehoben sei als bei jenen, die sich's zur Aufgabe stellen, ihm das Verständnis der „materialistischen Basis, die ernstes objektives Studium erheischt", zu erschließen. Von einer Warnung vor theoretischer Aufklärung des Proletariats ist hier keine Spur zu finden, sondern nur eine Warnung davor, dass die Arbeiter zu „Literaten von Profession" werden, die über alles und jedes ohne gründliche Vorbildung schreiben, da sie sich dann nur zu leicht von jedem „Wirrkopf ans der gelehrten Kaste", der den Doktor oder gar Professortitel trägt, imponieren lassen, was aber bei ihrem Einfluss in der Partei nicht bloß die Infizierung ihrer Person, sondern auch die weiter Proletarierschichten mit bürgerlicher Konfusion bedeutet.

Wie wenig Marx mit diesem Satze sagen wollte, dass die Arbeiter sich nicht mit ökonomisch historischer Theorie oder deren Propagierung beschäftigen sollten, dass sie dazu nicht fähig seien, das weiß jeder, den die große Ehrfurcht vor der Wissenschaft nicht gehindert hat, den Schriften von Marx näherzutreten. So schrieb er zum Beispiel in seinem „Nachwort" zur 1. Auflage des „Kapital", S. 814 (24. Januar 1873, vier Jahre vor seinem Briefe an Sorge):

Das Verständnis, welches das ,Kapital' rasch in weiten Kreisen der deutschen Arbeiterklasse fand, ist der beste Lohn meiner Arbeit. Ein Mann, ökonomisch auf dem Bonrgeoisstandpunkt. Herr Meyer, Wiener Fabrikant, tat in einer während des Deutsch-Französischen Krieges veröffentlichten Broschüre treffend dar, dass der große theoretische Sinn, der als deutsches Erbgut galt, den sogenannten gebildeten Klassen Deutschland durchaus abhanden gekommen ist, dagegen in seiner Arbeiterklasse neu auflebt."

Wie weit entfernt Marx von der Meinung war, die Arbeiter sollten sich nicht mit ökonomischer Theorie beschäftigen, solche nicht lehren und nicht darüber schreiben, dafür sei nur eine bezeichnende Tatsache vorgebracht.

Im Jahre 1850 veröffentlichte der Schneider Eccarius. einen Artikel über „Die Schneiderei in London oder der Kampf des großen und. des kleinen Kapitals" in der von Marx und Engels herausgegebenen „Revue der Neuen Rheinischen Zeitung“. Die Redaktion begleitete den Artikel mit folgender Anmerkung:

Der Verfasser dieses Artikels ist selbst Arbeiter in einem der Londoner Schneidershops. Wir fragen die deutschen Bourgeois, wie viele Schriftsteller sie zählen, die fähig wären, in ähnlicher Weise die wirkliche Bewegung aufzufassen?

Ehe das Proletariat seine Siege aus Barrikaden und in Schlachtlinien erficht, kündigt es die Ankunft seiner Herrschaft durch eine Reihe intellektueller Siege an.

Der Leser wird bemerken, wie an die Stelle der sentimentalen moralischen und psychologischen Kritik, wie sie Weitling und andere schriftstellernde Arbeiter geltend machten gegen die bestehenden Zustände, hier eine rein materialistische und freiere Auffassung, von keinen Gemütsmucken gestört, der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Bewegung gegenübertritt" (5. und 6. Heft. S. 128)

Auch hier finden wir wieder eine Spitze gegen „schriftstellernde Arbeiter", aber hier zeigt sich's deutlich, dass Marx gegen die Beschäftigung der Arbeiter mit der ökonomischen Theorie und deren Verfechtung in der Presse nicht nur nichts einzuwenden hatte, sondern sogar erwartete, die Arbeiter könnten auf diesem Gebiet die Bourgeoisie schlagen. Er wendet sich bloß gegen jene schriftstellernden Arbeiter, die sich das Studium der materiellen Wirklichkeit durch „sentimentale moralische und psychologische" – heute würden wir sagen ethisch-ästhetische – Kritik zu ersparen suchten.

Gerade das Beispiel von Eccarius beweist, dass Marx seinen persönlichen Einfluss nicht dazu aufbot, Arbeiter vom Studium der ökonomischen Theorie und von der Zeitungsschreiberei abzuhalten, sondern dass er sie dazu vielmehr aufmunterte, wobei er allerdings suchte, ihnen die nötige solide theoretische Grundlage beizubringen

Der Schneider Eccarius selbst gab 1868 eine theoretische Untersuchung heraus, „Eines Arbeiters Widerlegung der nationalökonomischen Lehren John Stuart Mills". In der Vorrede kommt er auf seinen eben erwähnten Artikel zu sprechen und bemerkt weiter:

Derselbe Artikel öffnete mir die Spalten der englischen Arbeiterzeitungen, und ich habe seitdem meine Mußezeit hauptsächlich damit zugebracht, Zeitungsartikel für Arbeiterzeitungen zu schreiben. Ob meine literarischen Arbeiten stets der Meinung entsprachen, welche die Redaktion der Neuen Rheinischen Zeitung im vorstehenden kundgibt, muss ich anderen zu beurteilen überlassen. Durch die persönliche Freundschaft und den Umgang mit Karl Marx wurde meine Aufmerksamkeit vorzugsweise auf die politische Ökonomie gelenkt" – und nicht etwa aus die Biographien Friedrichs II. und Napoleons.

In der Tat, politische Ökonomie, das ist das A und O eines jeden, der den proletarischen Klassenkampf wissenschaftlich begreifen und nicht etwa bei sentimentaler moralisch-psychologischer Kritik stehen bleiben will. Es gibt aber keine politische Ökonomie ohne Werttheorie. Ein Lehrer des Proletariats, der diese für seine Schüler beiseite lassen will, beweist damit, dass er selbst von politischer Ökonomie keine Ahnung hat.

Eisner ereiferte sich über einen Schüler der Parteischule, der sich herausgenommen hatte, einen Kursus von zwanzig Vorträgen über die Werttheorie zu halten. Ich kenne diese Vorträge nicht und habe kein Urteil über sie. Aber so ungeheuerlich erscheint es mir keineswegs, dass ein Arbeiter zwanzig Vorträge über die Werttheorie hält. Eng mit dieser verbunden ist die Theorie des Mehrwerts, des absoluten und relativen Mehrwerts. Die Lehre vom absoluten Mehrwert umfasst die Kapitel vom Arbeitsprozess und vom Arbeitstag. Die Lehre vom relativen Mehrwert umfasst das Verhältnis zwischen Arbeiter und Maschine, Frauenarbeit, Kinderarbeit. Endlich umfasst die Werttheorie die Lehre vorn Wert und Preis der Arbeitskraft, die Theorie des Arbeitslohns, Zeitlohn, Stücklohn, nationale Verschiedenheit der Arbeitslöhne. Und über alles das soll ein Arbeiter nicht fähig sein, zu sprechen und zwanzig Vorträge darüber zu halten? Und alles das soll für die Aufklärung der Arbeiterschaft von keinem Belang sein, dagegen unentbehrlich die Biographien einiger Staatsmänner und Feldherren?

Sollten sich durch die Ausführungen Eisners und Maurenbrechers einige Genossen abgeschreckt fühlen, der Werttheorie näherzutreten, hinter der sie ein geheimnisvolles unentwirrbares Chaos leeren Spekulierens ohne praktische Bedeutung vermuten, so werden diese Zeilen vielleicht beitragen, ihnen zu zeigen, welche große Bedeutung nicht nur für ihr Denken, sondern auch für ihr praktisches Verhalten die Werttheorie hat, wie sie den Leitfaden bildet, ohne den sie sich unmöglich mit Sicherheit zurechtfinden in den Verhältnissen, die sie täglich und stündlich umgeben.

2. Engels

Ebenso wie Marx wurde jüngst auch Engels gegen uns aufgeboten.

Die katholischen Pfaffen lieben es bekanntlich, von großen Gegnern ihrer Kirche, zum Beispiel von Voltaire, zu erzählen, sie hätten sich zu Ende ihres Lebens bekehrt und seien fromm geworben. Ein ähnliches Märchen wird seit einem Jahrzehnt von Friedrich Engels erzählt. Er sei in den letzten Monaten vor seinem Tode zur Erkenntnis gelangt. welch großen Irrtum seine revolutionäre Gesinnung bedeutete, und habe die Grundlage zum Revisionismus gelegt, den vollständig zu entwickeln ihm freilich nicht mehr vergönnt war. Diese Ausgabe hinterließ er seinen Nachfolgern.

Als sein politisches Testament, in dem er dies bezeugte, gilt seine Einleitung zu den Marxschen „Klassenkämpfen in Frankreich", die er im März 1895 schrieb.

In der jüngsten Zeit, in den Diskussionen über die Budgetbewilligung, wurde sie wieder als Waffe gegen uns Marxisten hervorgeholt, so vom Abgeordneten Heymann in einer Versammlung in Stuttgart.

Wer die Einleitung ohne vorgefasste Meinung liest und ihren Gedankengang mit den sonstigen Ausführungen vergleicht, die Engels in den letzten Jahren seines Lebens machte und veröffentlichte, kann freilich nicht im Zweifel sein, wie die letzte Schrift unseres Meisters aufzufassen ist, die kurz vor seinem Tode erschien. Er findet überall den gleichen revolutionären Gedankengang und stets die gleiche Überzeugung, dass die Taktik, welche die deutsche Sozialdemokratie von ihrem Beginn an verfolgte, unter den gegebenen Verhältnissen die zweckmäßigste sei. Nirgends eine Spur davon, dass diese bei Engels Tod schon drei Jahrzehnte lang verfolgte Taktik irgendwie zu ändern sei.

Ich habe den Beweis dafür schon vor zehn Jahren geführt („Neue Zeit", XVII, 2, in dem Artikel „Bernstein und die Dialektik", S.47) und brauche ihn heute nicht zu wiederholen. Meine Darstellung wurde von den Revisionisten nicht widerlegt, aber trotzdem krebsen sie immer wieder mit der Engelsschen Einleitung. Und man muss ja gestehen, dass manches Wort, für sich allein genommen, zu bestätigen scheint, Engels habe erwartet, die Sozialdemokratie werde durch das allgemeine Stimmrecht instand gesetzt, ohne revolutionären Kampf friedlich in den „Zukunftsstaat" „hineinzuwachsen".

Da wird es Zeit, einmal Engels selbst darüber zu hören, woher dieser Schein stammt und wie wenig er davon erbaut war.

Die schwere Krankheit, an der Engels litt, zwang ihn, sich in seiner Korrespondenz äußerst zu beschränken. Es sind nur wenige Zeilen, die er mir über seine Einleitung schrieb, aber sie sind bezeichnend.

Die Einleitung zu den Marxschen Klassenkämpfen ist datiert vom 6. März 1895. Wenige Wochen darauf erschien das Buch in der Öffentlichkeit. Ich hatte Engels gebeten, mir den Abdruck der Einleitung vor ihrem Erscheinen in der „Neuen Zeit" zu gestatten,

Darauf antwortete er mir am 25. März:

Dein Telegramm sofort beantwortet: ,Mit Vergnügen.' Per Streifband folgt der Text in Korrekturabzug mit Titel: Einleitung zum Neudruck von Marx' Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848/50. von F. E. Dass der Inhalt im Abdruck der alten Artikel aus der Revue der N. Rh. Z. (Neuen Rheinischen Zeitung) besteht, ist im Text gesagt. Mein Text hat einiges gelitten unter umsturzvorlagenfurchtsamlichen Bedenken unserer Berliner Freunde, denen ich unter den Umständen wohl Rechnung tragen musste."

Um das zu verstehen, muss man sich erinnern, dass die sogenannte Umsturzvorlage, die zur Erschwerung der sozialistischen Propaganda erhebliche Verschärfungen bestehender Gesetze beantragte, am 5. Dezember 1894 dem deutschen Reichstag vorgelegt wurde, der sie am 14. Januar einer Kommission überwies, wo über drei Monate lang (bis 25. April) darüber beraten wurde. Gerade in dieser Zeit wurde die Engelssche Einleitung verfasst.

Wie ernst Engels die Situation auffasste, erhellt aus einer späteren Stelle desselben Briefes, wo er schrieb:

Eine Wahlreform, die uns ins Parlament bringt, halte ich in Österreich für absolut sicher, es sei denn, eine plötzliche allgemeine Reaktionsperiode bräche herein. Auf eine solche scheint man in Berlin gewaltsam hinzuarbeiten, aber leider weiß man dort selbst von heute auf morgen nicht, was man will."

Schon früher, am 3. Januar, unmittelbar ehe er sich an die Abfassung der Einleitung machte, hatte Engels mir geschrieben:

Ihr bekommt, wie es scheint, ein recht lebhaftes Jahr in Deutschland. Wenn … der Herr v. Köller so fortfährt, ist nichts unmöglich: Konflikt, Auflösung, Staatsstreich. Natürlich wird man auch mit weniger vorlieb nehmen. Die Junker wären mit verstärkten Liebesgaben schon zufrieden, aber um diese zu erhalten, wird man an gewisse Gelüste persönlicher Herrschbegier appellieren, diesen bis zu einem gewissen Grade nachgeben müssen, wo dann auch die Faktoren des Widerstands mit ins Spiel kommen, und da tritt der Zufall, das heißt das Nichtgewollte, Nichtberechenbare, ins Spiel. Um die Liebesgaben zu sichern, muss man mit dem Konflikt drohen … ist man einen Schritt weiter gegangen, dann wird der ursprüngliche Zweck, die Liebesgabe, Nebensache, dann steht Krone gegen Reichstag, Biegen oder Brechen, dann kann's lustig werden. Ich lese gerade Gardiners ,Personal Government of Charles I.' (Das persönliche Regiment Karl I.), die Dinge stimmen oft bis zur Lächerlichkeit mit dem heutigen Deutschland. So die Argumente wegen der Immunität der im Parlament begangenen Handlungen. Wäre Deutschland ein romanisches Land, so wäre der revolutionäre Konflikt unvermeidlich, so aber – nix Gewisses weiß man nicht, wie Jollymeier (Schorlemmer) sagt."

So ernst und konfliktreich fasste Engels die Situation zu jener Zeit auf, wo ihn die Revisionisten verkünden lassen, die Ära unbedingter gesetzlicher und friedlicher Entwicklung sei herangebrochen und für immer gesichert, die Ära der Revolutionen liege hinter uns.

Es ist klar, dass Engels bei einer solchen Auffassung der Situation alles vermied, was gegen die Partei von den Gegnern hätte ausgenutzt werden können, dass er in der Sache natürlich unbeugsam blieb, aber sich so zurückhaltend als möglich ausdrückte.

Als aber der „Vorwärts", wohl um die Kommissionsberatungen der Umsturzvorlage günstig zu beeinflussen, einige Stücke der Einleitung in einer Weise zusammenstellte und veröffentlichte, dass sie für sich allein jenen Eindruck hervorriefen, der nach den späteren Behauptungen der Revisionisten von Engels beabsichtigt war, da entbrannte dieser in hellem Zorn. In einem Brief vom 1. April schrieb er:

Zu meinem Erstaunen sehe ich heute im ,Vorwärts' einen Auszug aus meiner Einleitung ohne mein Vorwissen abgedruckt und derartig zurecht gestutzt, dass ich als friedfertiger Anbeter der Gesetzlichkeit quand même (um jeden Preis) dastehe. Um so lieber ist es mir, dass das Ganze jetzt in der ,Neuen Zeit' erscheint, damit dieser schmähliche Eindruck verwischt wird. Ich werde Liebknecht sehr bestimmt darüber meine Meinung sagen und auch denjenigen, die, wer sie auch seien, ihm diese Gelegenheit gegeben haben, meine Meinung zu entstellen."

Er ahnte nicht, dass bald nachher vertraute Freunde, die in erster Linie berufen waren, seine Meinungen vor Entstellungen zu schützen, zur Ansicht kommen sollten, diese entstellte Meinung sei seine wirkliche gewesen, und was ihm schmachvoll erschien, bedeute die herrlichste Großtat seines Lebens, der revolutionäre Kämpfer habe als „friedfertiger Anbeter der Gesetzlichkeit um jeden Preis" geendet.

Als das geschah, war Friedrich Engels schon tot und nicht mehr imstande, dem Unfug zu wehren, der mit seinen Worten getrieben wurde.

Möge es den Briefen, die er mir geschrieben, gelingen, diesem Unfug ein Ende zu machen und sein Andenken von jenem „schmählichen Eindruck“ zu reinigen, den er so bitter empfand. Unser großer Meister starb wie er gelebt, als glühender Revolutionär.

* Briefe und Auszüge von Briefen von J. Ph. Becker., J. Dietzgen, F. Engels, K. Marx und andere an F. A. Sorge. S. 158 ff.

1In Marx Engels Werke, Band 34: „Halbheiten“

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