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Karl Kautsky 19080229 Luigi Barzini, Peking-Paris im Automobil

Karl Kautsky: Luigi Barzini, Peking-Paris im Automobil

Eine Wettfahrt durch Asien und Europa in 60 Tagen. Mit einer Einleitung von Fürst Scipione Borghese. Mit 168 Abbildungen und einer Karte. Leipzig, F. A. Brockhaus. 558 Seiten. Gebunden 10 Mark.

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 26.1907-1908, 1. Band (1907-1908), Heft 23 (29. Februar 1908), S. 812-814]

Es ist ein bemerkenswertes Zeichen unserer Zeit, dass das Streben nach Verschwendung der Produktivkräfte anfängt, auf die Entwicklung der Technik immer bestimmender einzuwirken. Die beiden Transportmittel, die für den Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts charakteristisch sind, das Automobil und das lenkbare Luftschiff, verdanken beide ihre Entwicklung nicht dem Streben nach größerer Produktivität der Arbeit oder nach leichterem und billigerem Transport von Massen, sondern dem Luxus und dem Militarismus, die unbekümmert um die Kosten nach Mitteln suchen, durch die es einigen wenigen möglich werden soll, sich in jedem Sinne des Wortes über die Masse zu erheben und ihr zuvorzukommen. Die Erfindungen in dieser Richtung können vielleicht einmal rückwirkend dazu kommen, auch die Wissenschaft und die Produktivkräfte zu befruchten. Vorläufig bilden sie bloße Mittel, die Verschwendung der herrschenden Klassen auf die Spitze zu treiben.

Auch die Automobilfahrt Peking-Paris stellt sich als ein völlig nutzloses Unternehmen heraus. Sie wurde durch den „Matin veranlasst, ein Pariser Sensationsblatt ordinärster Sorte, dessen Erpresser- und Reklametaktik unser Pariser Bruderorgan, die „Humanité“ erst jüngst trefflich gekennzeichnet hat. Der Erfindergeist der Leiter und Ausbeuter des „Matin“ ist wahrhaft bewunderungswürdig. Kein anderes Blatt weiß so wie dieses Mittel ausfindig zu machen, die eine Riesenreklame bewirken und nichts kosten. Im Frühjahr 1907 war die Bande auf den Einfall gekommen, die Schar der automobilfahrenden Nichtstuer zu einer Wettfahrt herauszufordern, die in Peking beginnen und in Paris vor der Redaktion des „Matin“ enden sollte. Die telegrafischen Berichte darüber sollten regelmäßig im „Matin“ erscheinen und ihm die Kundschaft jener meist sehr zahlungsfähigen Kreise zuführen, denen der Sport nichts ist als ein Mittel, ihre Gedankenlosigkeit zu unterbrechen.

Am 10. Juni begann die Wettfahrt, aber, wie die „Humanité“ jetzt bekannt gibt, bereitete schon am 16. April der „Matin“ die Plakate vor, in denen die einzelnen Phasen dieser Fahrt in marktschreierischer Weise angekündigt werden sollten, mit dem Hinweis, dass der „Matin“ Näheres darüber berichte. Am 16. April war der Wortlaut der Plakate schon entworfen, in denen es hieß: „Die Automobilisten werden von den Kungusen verfolgt!“ „Der Samum und die Qualen des Durstes!“ „Eis im Juli. Der Bagno Sibiriens!" usw., Plakate, die zum wirklichen Verlauf der Wettfahrt passten wie die Faust aufs Auge. Die Redaktion des „Matin“ war übrigens so rücksichtsvoll, den Teilnehmern an dieser Fahrt die vorbereiteten Plakate zu verschweigen, „um sie nicht zu erschrecken". Wie zartfühlend!

Der Sieger in der Wettfahrt war ein italienischer Fürst, dessen Reklamebedürfnis wohl ebenso groß ist wie das des „Matin“, der aber genügend viel Naivität besitzt, dafür Geld und Kraft aufzuwenden, während der „Matin“ es trefflich versteht, sich seine Reklame noch von den Dummköpfen bezahlen zu lassen, die sie für ihn besorgen.

Beschrieben endlich wurde diese famose Wettfahrt von einem jener Journalisten, die sich sehr geschmeichelt fühlen, wenn ein leibhaftiger Fürst oder anderer Würdenträger sie seiner Ansprache würdigt und sich umso mehr über das gemeine Volk erhaben dünken. Man vergleiche nur, mit welcher Geringschätzung Herr Barzini von den Chinesen spricht, mit welcher wohlwollenden Herablassung er auf den russischen Bauern herabblickt. wie ihm dagegen jeder Europäer, der einen Orden oder ein höheres Amt hat, als der Ausbund aller Tugenden erscheint. Nicht minder versetzt ihn jeder Journalistenklüngel in Ekstase. Vom „Matin“ kann er nicht sprechen ohne das Beiwort „genial".

Dass aus einem von solchen Elementen fabrizierten Buche nicht viel zu lernen ist, liegt nahe. Wie macht sich zum Beispiel Herr Barzini über die Chinesen lustig, die den komischen Einfall haben, ihre Eisenbahnen selbst bauen zu wollen, statt sie von den Europäern bauen zu lassen. In Wahrheit ist das eine Erscheinung, die den Europäern noch sehr viel Kopfzerbrechen verursachen wird. China sollte das Eldorado für die Kapitalisten Europas und Amerikas werden, die dort ihre überschüssigen Kapitalien und Produkte mit Profit los zu werden hofften und dadurch China ebenso in hoffnungslose Abhängigkeit von sich zu bringen gedachten wie etwa Russland oder Indien. Aber die Chinesen merken den Braten, sie sehen weiter als das Zarentum, sind freilich auch nicht in so verzweifelter Lage wie dieses. Fieberhaft arbeiten die Chinesen daran, sich vom Kapital und der Industrie Europas unabhängig zu machen, das Kaufmannskapital des eigenen Landes in industrielles Kapital zu verwandeln, im eigenen Lande die Maschinen und Werkzeuge zu produzieren, deren sie bedürfen, oder sie doch lieber von Japan als von Europa oder Amerika zu beziehen.

So kommt die Industrialisierung Chinas rasch herbei, aber sie scheint nicht jenen kolossalen Aufschwung der europäisch-amerikanischen Industrie mit sich zu bringen, den diese erwartete. China scheint ohne dies Zwischenstadium gleich als Konkurrent des Abendlandes auftreten zu wollen. Auf jeden Fall sind die ohne Hilfe Europas unternommenen chinesischen Bahnbauten der höchsten Beachtung wert. Es ist bezeichnend für unseren Reporter, dass er nur schlechte Witze darüber reißt.

Besser kommt bei ihm Sibirien weg. Es macht einen gewaltigen Eindruck auf ihn, dass dieses Land, welches in der europäisieren Fantasie nur als trostlose Einöde existiert, ein ganz modernes Leben aufweist. „Es erweist sich als ein Land, das weit unternehmungslustiger und reicher ist als Russland."

In der Tat steht Sibirien vor einer sprunghaften, fast amerikanischen Entwicklung, zu der ihm nur eines fehlt: die Freiheit. Aber gerade, weil es ihrer bedarf, wird es um sie kämpfen. Es gehört zu den kolossalsten Ironien der Weltgeschichte, dass Sibirien, bestimmt, die Begräbnisstätte der Revolution zu bilden, nun zu einer ihrer Geburtsstätten wird. Sibirien ist nicht bloß voll von politischen Verbannten, es ist auch voll von ausgewanderten russischen Bauern, die das Elend von der Scholle vertrieb, an der sie zäh hängen, die aber mit dieser Scholle auch ihre überlieferten Vorurteile hinter sich gelassen haben. Nur die Energischsten und Intelligentesten wandern aus, die fremden Verhältnisse regen ihr Denken an, andererseits geht zugrunde, wer nicht Anpassungsfähigkeit an Neues besitzt. Alles Ursachen, die den Sibirier ebenso dem Russen überlegen machen wie den Amerikaner dem Europäer. Von Sibirien dürfen wir noch viel erwarten, zunächst für die russische Revolution.

Diese kommt bei dem literarischen Handlanger des Fürsten Borghese noch schlechter weg als die Chinesen. Er hat von ihr fast nichts bemerkt, und was er bemerkte, war gerade nicht großartiger Natur: die Automobilisten wurden nämlich von russischen Bauern mit Hass betrachtet, der einmal besonders stark zutage trat, als das Automobil in einem Dorfe ein Pferd zum Durchgehen brachte und dadurch einen Knaben in Lebensgefahr versetzte!

Erst einige Tage später, in Moskau, erhielten wir Aufklärung über jene Wut und die verbissene Feindseligkeit, die uns in so vielen Ortschaften des russischen flachen Landes entgegengetreten war. Das Automobil war verschiedentlich von Revolutionären benutzt worden, um Proklamationen umstürzlerischen Inhaltes zu verbreiten. Sicher ist, dass sich in vielen russischen Ortschaften die Ansicht gebildet hatte, die Automobile seien Fahrzeuge der Feinde der Religion und des Zaren" (S. 482).

Also aus überschäumender Loyalität verfolgen die russischen Bauern die Automobile. Das erzählten dem Herrn Fürsten und seinen Leibliteraten freilich nicht russische Bauern, sondern Mitglieder des Moskauer Automobilklubs; für Herrn Barzini ein Evangelium, an dem zu zweifeln Sünde. Bei etwas Nachdenken hätte er den Leuten ins Gesicht gelacht. Einmal bezeugt der russische Bauer heute alles andere als Zarenverehrung, dann aber dürfte es sehr ausnahmsweise vorkommen, dass revolutionäre Proklamationen per Automobil verbreitet werden. Der russische Bauer wird wie jeder andere das Automobil als Fahrzeug der Herren Automobilbesitzer kennen gelernt haben, der großen Ausbeuter, die er hasst und gegen die er sich erhoben hat. Selbst in Westeuropa herrscht bei der Masse der Bevölkerung eine Abneigung gegen das Automobil, weil es als Charakteristikum des rücksichtslosesten Protzentums gilt. Um wie viel mehr muss es den Ingrimm einer Bevölkerung erregen, die eben voll verzweifelnder Wut die Schlösser und Herrenhäuser ihrer Peiniger niederbrennt. Deren Feuerschein hätte Herrn Barzini ein Licht aufstecken können darüber, warum das Automobil des Fürsten Borghese auf so viel Feindseligkeit beim russischen Bauern stieß. Aber viel wichtiger war es ihm, die rührende Sorgfalt hervorzuheben, die sämtliche Behörden Russlands im besonderen Auftrag der Regierung aufboten, um das Unternehmen des Pariser Schwindelblatts zu fördern. Für solche Kulturaufgaben hat das Knutenregiment noch Interesse, Zeit und Geld übrig.

Wen der Automobilsport interessiert, wird in dem Buche manches finden, das ihn anzieht. Zu lernen ist daraus blutwenig. Aber das ganze Unternehmen ist charakteristisch für unsere Zeit.

K. K.

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