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Karl Kautsky 19080125 Methoden der Kolonialverwaltung

Karl Kautsky: Methoden der Kolonialverwaltung

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 26.1907-1908, 1. Band (1907-1908), Heft 18 (25. Januar 1908), S. 614-621]

Jüngst hat der Graf v. Pfeil ein Buch über Deutsch-Ostafrika herausgegeben,1 das dem Petersrummel sein Entstehen dankt und zu dem Bilde dieses Kolonialherren noch einige charakteristische Striche hinzufügt, die es gerade nicht verschönern.

Herr Peters ist freilich eine so unbeträchtliche Persönlichkeit, dass es höchst überflüssig wäre, zu ihrer Kennzeichnung noch mehr Zeit aufzuwenden, als im vergangenen Jahre jeder aufwenden musste, der sich mit öffentlichen Angelegenheiten beschäftigte.

Das Buch des Grafen v. Pfeil behandelt indes noch andere Objekte als die Verdienste des Peters. Zwischen Pfeil und Peters bestanden nicht bloß persönliche, sondern auch sachliche Gegensätze. Pfeil vertritt eine Kolonialmethode, die nicht bloß von der Petersschen, sondern von der im Deutschen Reiche überhaupt akzeptierten grundsätzlich abweicht. Pfeil verlangt größere Freiheit und Selbstverwaltung für die Kolonien. Seine koloniale Lehrzeit verbrachte er in Südafrika, die Buren waren seine Lehrmeister. Er ist ein Gegner der bürokratischen und militaristischen Verwaltung der Kolonien. Kein Wunder, dass er trotz seiner tatkräftigen Pionierarbeit in Deutsch-Ostafrika bald aus der deutschen Kolonialpolitik ausgeschaltet wurde, für die er ein unbequemes Hindernis zu werden drohte.

Die Verfechter der Idee einer Teilnahme der Sozialdemokratie an der Kolonialpolitik wenden sich gegen die heutigen, „kapitalistischen“ Methoden unserer Kolonialpolitik. Sie lassen leider nicht erkennen, welche Methode sie an deren Stelle setzen möchten. Sie verlangen „positives" Wirken, haben es aber bisher nicht für notwendig erachtet, das „positive" Kolonialprogramm zu schaffen, das ihnen dazu erforderlich erscheint. Wie stets, begnügen sich die Revisionisten auch hier damit, ein Problem aufzuwerfen und uns Marxisten der Impotenz anzuklagen, weil wir uns nicht daran machen, ihr Problem zu lösen, das für uns gar nicht existiert.

Sollte die Methode des Grafen Pfeil jene sein, die sie der jetzigen Methode der Kolonialverwaltung entgegenzusetzen gedenken? Die beiden Methoden sind die einzig möglichen.

Kein Zweifel, die von Pfeil empfohlene Methode ist die billigere und ökonomisch wirksamere. Der Beamte und Offizier, der in die Kolonie kommt, hat nicht jenes Interesse an ihrer ökonomischen Entwicklung wie derjenige, dessen ganze Existenz davon abhängt. Der Beamte und Offizier, der in die Kolonie geht, muss dort auf viele Genüsse verzichten, die ihm zu Hause winken. Nur ein hohes Gehalt kann ihn dafür entschädigen. Die Verwaltungskosten der Kolonie fließen nicht aus seiner Tasche, er hat keinen Grund, damit zu sparen. Zu ganz anderen Aufgaben erzogen, der Kolonie fremd, aber durch seinen Standesdünkel gehindert, die Landesbewohner um Rat zu fragen, muss er furchtbar viel Lehrgeld nicht selbst zahlen, sondern durch den Staat bezahlen lassen, bis er einigermaßen die Landesverhältnisse kennt. Und ist er so weit, dann wird er in die Heimat zurückberufen. Dazu kommt noch die Entfernung der Kolonie vom Mutterland, die jede Kontrolle durch dessen Regierung erschwert und dadurch alle Mängel des Absolutismus in der kolonialen Verwaltung auf die Spitze treibt.

Angesichts alles dessen ist es unschwer zu erkennen, warum eine Kolonie unter solchen Umständen ein schlechtes Geschäft werden muss und warum diese in der Verwaltung auch ein reiches Gebiet leicht rascher Verarmung entgegenführt.

Ganz anders, wenn die Verwaltung der Kolonie den Kolonisten selbst anvertraut wird, das Mutterland bloß als schützende Macht über ihnen steht. Die Kolonisten finden bald heraus, wie die Kolonie am raschesten und billigsten nutzbar zu machen, was ja durch ihr eigenes Interesse dringend erheischt wird. Da sie selbst die Verwaltungskosten zu tragen haben, drücken sie diese möglichst herab, und sie können das um so eher, als sie die nötigen Kräfte aus ihren eigenen Reihen stellen und es nicht notwendig haben, fette Posten für aristokratische Taugenichtse zu schaffen. Wer sich die Aufgabe stellt, die Entwicklung des Kapitalismus in den Kolonien möglichst rasch zu fördern, der wird dieser Art der Kolonialverwaltung den Vorzug vor der bürokratischen geben und für sie eintreten.

Sollte diese „demokratische" Methode der Kolonialverwaltung jene sein, die wir einem „positiven" Eingreifen unserer Partei in die Kolonialpolitik zugrunde zu legen haben?

Sozialdemokraten, die noch an dem „veralteten Dogma" hängen, dass die Sozialdemokratie eine Partei des proletarischen Klassenkampfes ist, welche nirgends die Interessen des Kapitals, sondern überall die in schroffem Gegensatz dazu stehenden Interessen der arbeitenden Klassen zu vertreten hat, werden freilich in dieser Methode der „Selbstverwaltung" bald ein Haar finden

Wir müssen uns immer wieder erinnern, dass Kolonien in einigermaßen größerem Maßstab heute nur noch in Gegenden möglich sind, die schwere physische Arbeit für Europäer ausschließen. Soweit diese nicht als bloße Händler zu vorübergehendem Aufenthalt hinkommen, sondern als Ansiedler, dann nehmen sie den Eingeborenen ihr Land, nicht um es selbst zu bebauen. sondern um es von Zwangsarbeitern für sich bebauen zu lassen.

Ohne Expropriierung von Eingeborenen ist eine Kolonisation unmöglich – herrenloses Land gibt es nicht. Was die Europäer herrenloses Land nennen, ist im besten Falle unbebautes Gebiet, aus dem Jägerstämme oder nomadische Viehzüchter ihre Nahrung gewinnen. Meist wird aber auch kultiviertes Land von kolonialen Eroberern für herrenlos ausgegeben, wenn es Leuten gehört, die sich gegen die Mordwaffen der Europäer nicht zu wehren vermögen.

Nicht nach Land allein sind aber die Kolonisten lüstern, sondern nach den Produkten des Landes, und diese kann man nicht haben ohne Arbeit. Verjagung der Eingeborenen von ihrem Lande und ihre zwangsweise Heranziehung zur Arbeit für andere – das ist das Wesen jeder Kolonialpolitik in den Tropen. An diesem Wesen ändert es nichts, ob man die Expropriierung und Versklavung offen im Namen des Profits proklamiert oder heuchlerischerweise im Namen Christi oder gar im Namen von Karl Marx. Die Eingeborenen sind verbohrt genug, sich auch durch Zitate von Karl Marx nicht imponieren zu lassen und sich auf das Energischste zur Wehr zu setzen, sobald sie merken, wo die Kolonialpolitik hinaus will. Nur mit brutaler Gewalt können sie niedergehalten werden. Die Praktiker der Kolonialpolitik haben daher allen Grund, sich über jene „Theoretiker" daheim lustig zu machen, die von ihnen eine humane Kolonialpolitik verlangen. Die vernünftigen unter ihnen verurteilen freilich ein sinnloses Wüten von Burschen wie Peters. Aber keineswegs jede Gewalttat. Der Mensch ist noch nicht geboren und wird nie geboren werden, der das Rezept entdeckte, intelligente Wesen ohne Gewaltanwendung zu expropriieren und zu versklaven.

Die Kolonialpraktiker lassen sich übrigens durch die sittliche Entrüstung derer, die eine humane Kolonialpolitik fordern, nicht stören. Sie wissen, dass in der kapitalistischen Gesellschaft stets, so oft Humanität und Profit miteinander in Konflikt kommen und dieser mit jener nicht zugleich zu haben ist, auch höchst zarte Gemüter eher auf die Humanität verzichten als auf den Profit.

Die Selbstverwaltung der Kolonie wird unter diesen Umständen nichts anderes als die vollständige Befreiung ihrer Ausbeuter von jener „Bevormundung", die manche Freunde einer „sozialistischen" Kolonialpolitik so dringend für die Arbeiter in den Kolonien und nur für diese fordern.

Dass die Arbeiter in den Kolonien, das heißt die Eingeborenen oder importierte Zwangsarbeiter, die volle Selbstverwaltung, also die Herrschaft über die Regierung der Kolonie erhalten, ist von vornherein ausgeschlossen. Man kann nicht Leute gleichzeitig versklaven und zu Herren der Regierung machen. Auch unsere sozialistischen Kolonialschwärmer denken nicht daran. Sie verlangen doch, dass man den eingeborenen Arbeitern der Kolonien ihr Land wegnimmt, weil sie es nicht zweckmäßig genug bewirtschaften, und dass man sie als Kinder behandle, die zu „erziehen" und zu „bevormunden" sind. Kindern gibt man nicht die Selbstregierung.

Nun wissen wir aus eigener Erfahrung in Europa, was dabei für die Arbeiter herauskommt, wenn ein Parlament unter einem Zensuswahlrecht gewählt wird, das die Arbeiter ausschließt. Aber in den Kolonien wirkt die Ausschließung der Arbeiter von den politischen Rechten noch weit schlimmer als in Europa. Bei uns gehören zu den besitzenden Klassen auch solche, die nicht direkt an der kapitalistischen Ausbeutung interessiert sind, die vielfach sogar unter ihr zu leiden haben, in Widerspruch zu ihr stehen, Intellektuelle und Kleinbürger aller Art, die den schlimmsten Ausschreitungen des Kapitalismus mitunter entgegenwirken. Andererseits konnte sich der Aufstieg der Bourgeoisie zur politischen Herrschaft in Europa nicht vollziehen ohne die Mithilfe der arbeitenden Klassen, ohne die Entwicklung ihres Kraftgefühls und ihrer Intelligenz. Auch das setzt dem kapitalistischen Regime gewisse Grenzen in der Wirtschaft wie im Staate. Alles das fehlt in den Kolonien. Dort fehlen zwischen den Ausbeutern und den Ausgebeuteten jene an der politischen Herrschaft teilnehmenden Menschenschichten, die sich in Europa finden.

Die Kreise, die durch die Selbstverwaltung der Kolonie in ihr zur Herrschaft kommen, das sind ausschließlich die Expropriateure und Sklavenhalter. Und die Arbeiter sind dort völlig wehrlos, meist bloße Sklaven – Arbeiter, die noch nicht durch das wirtschaftliche Getriebe, sondern nur durch physischen Zwang zur Arbeit für die Ausbeuter herangetrieben werden, die stets bereit sind, sich ihr zu entziehen, wenigstens durch Entlaufen. Unter solchen Verhältnissen äußert sich die Profitgier des Kapitalismus in ihrer vollen Infamie. Da enthüllt sich die ganze Nichtigkeit des Geredes von seiner Kulturmission, womit er in Europa den bürgerlichen Intellektuellen und ihrem Anhang in Arbeiterkreisen die Köpfe verwirrt.

Seine Kulturmission, das ist die Produzierung eines revolutionären Proletariats. Nur soweit es ein solches erzeugt und nur durch dessen Gegenwirkung bedeutet das kapitalistische Regime einen gesellschaftlichen Aufstieg. Wo ihm ein solches Proletariat nicht entgegentritt, wo es hilflose Sklaven produziert, da entfaltet es schrankenlos seine verwüstenden und zerstörenden Seiten. Und die „Selbstverwaltung" der Kapitalisten bedeutet da nichts anderes als die Beseitigung der letzten Schranken, die den Zerstörungsdrang der Profitgier einengen. Man erinnere sich des wahnsinnigen Wütens im Kongostaat. So schlimme Resultate die bürokratische Verwaltung der Kolonien zeitigt, noch schlimmere gehen aus deren „Selbstverwaltung" hervor.

Auch Graf Pfeil leidet nicht an übermäßigen Bedenken gegenüber den Eingeborenen. Was er entwickelt, ist bloß Theorie, aber die ist schon grausam genug. Natürlich mit zivilisatorischen Phrasen gespickt. Das gehört zum Kolonialgeschäft, wie das Gebet vor der Madonna zum Geschäft des italienischen Banditen. Man muss indes sehr harmlos sein, wenn man diese Redensarten ernst nimmt.

Sehr charakteristisch ist eine Rede, die der Graf 1886 in Berlin auf einem Kongress zur Förderung deutscher Interessen im Ausland hielt. Er führte dort aus:

Unter den Erwägungen, die bei der afrikanischen Kolonisation in Frage kommen, ist die Arbeiterfrage eine der hervorragend wichtigsten. Der Boden jungfräulicher Länder mag noch so fruchtbar, ihre Produkte noch so mannigfaltig sein, der Wert beider ist gleich Null, wenn uns die Hände fehlen, den Boden zu bebauen, die Produkte zu sammeln. Der Europäer kann erwiesenermaßen in tropischen Gegenden sich den körperlichen Arbeiten nicht unterziehen, welche die Kultivation eines Landes erfordert. Es bietet indessen die zahlreiche schwarze Bevölkerung Afrikas ein Arbeitermaterial, welches in dieser Richtung den Europäer unter dessen Oberleitung völlig ersetzt.

Es handelt sich lediglich darum, 1. eine Art und Weise aufzufinden dieses Menschenmaterial zur Arbeitsleistung heranzuziehen, und die Sicherheit zu schaffen, dass die Arbeitsleistung keine zeitweilige, sondern eine dauernde sei.

In Europa regelt sich das Arbeitsverhältnis nach Bedarf und Angebot, in Afrika gilt dieser Grundsatz nicht, da Bedarf bisher kaum vorhanden war und Angebot nicht existiert. Man darf sich auch nicht der Täuschung hingeben, dass freiwillige Gestellung des Negers zur Arbeit, die hie und da vorkommt. als ein wirtschaftliches Arbeitsangebot aufzufassen sei.

Genügen auch solche Arbeiter wohl einmal, um die zeitweiligen Arbeiten einer kleinen Plantage zu bewältigen, so wird doch die Arbeitslust nur so lange andauern als sie den Reiz der Neuheit besitzt, oder gerade lange genug, um die wenigen Ellen Kaliko zu verdienen, die zufällig das zeitweilige Bedürfnis des Negers ausmachen. Hierzu bedarf es keiner übergroßen Ausdauer, und der Reiz der Neuheit ist bald vorüber. Sobald aber der Grund für seine Arbeitsleistung nicht mehr vorhanden ist, hört der Neger auf, das Angebot derselben zu machen.

Es fehlt dem Neger die Grundlage für das Angebot europäischer Arbeit, der Erwerbstrieb. Für seinen Lebensunterhalt sorgt durch ihren Feldbau sein Weib.

Abgesehen von der Arbeit, die wir für die Kultivation neuer Länder gebrauchen, liegt uns aber auch die Pflicht ob, deren rohe Einwohner zu erziehen, zu zivilisieren. Was man auch von dem Einfluss des guten Beispiels. sagen und welchen Erfolg man von der Mission in ihrer jetzigen Art erwarten mag, der einzige wirksame Faktor der Zivilisation ist die Arbeit. Durch sie lernt der Mensch seinen Wert kennen, erlangt das Gefühl seiner Würde, welches entspringt aus dem Bewusstsein der Nützlichkeit des eigenen Daseins."

Glaubt man nicht, einen Verfechter sozialistischer Kolonialpolitik zu hören? Dass dies „Gefühl der Würde" gerade nur einer Arbeit entspringen soll, die die Ausbeuter nicht selbst verrichten wollen, die der Neger für sie zu vollziehen hat, und dass die Würde aus dem „Bewusstsein der Nützlichkeit des eigenen Daseins" für den fremden Ausbeuter entspringen soll, ist natürlich nur ein Zufall.

Nun aber die Kehrseite der „Erziehung" zur „Zivilisation" und „Würde“: „Unsere Ansichten über den Neger waren bisher ganz eigentümlich verschroben. …

Man sprach von dem Neger als einem freien Manne, der über seine Handlungen in gleicher Berechtigung wie die Europäer verfügen könne. Dieses freie Verfügungsrecht über sich selbst wird aber ohne moralische Selbstbeschränkung zur Zügellosigkeit.

Solche Anschauungen über Neger stammen noch aus der Zeit des unseligen Humanitätsdusels, der seinen Ursprung nahm, als übertriebene Berichte über die Grausamkeit der Sklaverei nach England gelangten, hier eine Sympathie für den arg unterdrückten misshandelten schwarzen Bruder wachriefen und später die Aufhebung der Sklaverei herbeiführten. So berechtigt diese Sympathie in einzelnen Fällen sein mag, so hat sie doch eine Verzärtelung des Negers zur Folge gehabt, die uns schließlich fast auf den Standpunkt brachte, den Neger überhaupt für Arbeitsleistung untauglich zu halten. Man gewöhnte sich ab, ihn zu zwingen; ohne Zwang arbeitet er nicht, und so suchte man an seiner Stelle lieber andere Arbeiter. …

Jene Zeiten verschwinden jedoch allmählich; eine gesunde Reaktion beginnt sich gegenüber den damaligen superhumanen Anschauungen geltend zu machen, solange der Neger ungekannt in seiner Wildnis lebt, mag er jede Berechtigung zu seiner zügellosen Lebensweise haben, diese muss aber sofort aufhören, wenn er mit dem Europäer in Berührung kommt und dieser unter der Willkür des Negers leidet. Der Kulturmensch muss die Berechtigung haben, von dem Neger ein gewisses Maß von Arbeit verlangen zu können, wie es von ihm in Kulturverhältnissen gefordert wird; diese wird, den Fähigkeiten des Negers entsprechend, mechanischer Natur zu sein haben. …

Wenn der Neger alle die Kulturphasen durchgemacht haben wird, durch welche wir uns vom Pfahlbauern bis zum Kulturmenschen entwickelten, wird er die Berechtigung auf ethischem Gebiet ebenfalls erworben haben. Sie ihm jetzt schon zuzusprechen, ist verfrüht."

Diese „ethische Berechtigung" wird der Neger in der Kolonie erst dann erlangen, wenn der „Kulturmensch" dort den Kapitalismus so weit entwickelt hat, dass dem Eingeborenen die Hungerpeitsche seine „zügellose Willkür" austreibt und ihn der zügellosen Willkür des Kapitals bedingungslos überliefert. Bis der Neger völlig zum Lohnproletarier geworden ist, muss er „bevormundet" und „erzogen" werden, und um das zu erreichen, dazu verlangte Graf Pfeil vor allem die Schaffung eines „Mittelpunktes" in der Kolonie, „um den später Operationen sich gruppieren".

Dieser Mittelpunkt kann aber nur aus einer, wenn auch noch so kleinen, so doch organisierten Macht bestehen. Diese soll nicht dazu dienen, nach Maßgabe europäischer Begriffe von Recht und Gesetz zu richten, denn letztere können nur erfolgreich angewandt werden, wo sie gekannt und anerkannt sind. Die Art und Weise der Verwendung wird im Gegenteil um so mehr Erfolg haben, je mehr sie sich den Ansichten und Gebräuchen der Eingeborenen anschließt.

Überall finden sich kräftige Stämme, deren kriegerischer Sinn sich dadurch kundtut, dass sie ihre schwächeren Nachbarn befehden. So unzulässig diese Raubzüge aus Anlass einer kleinen Viehherde oder ein paar Maiskolben sind, so können sie doch geschickt ausgenutzt und zu einem wesentlichen Faktor in unserem zivilisatorischen Programm gemacht werden.

Bei einiger Geschicklichkeit im Umgang mit Negern kann es nicht schwer halten, den Häuptling eines solchen kriegerischen Stammes zum Verbündeten zu gewinnen. Er und sein Volk werden von der allgemeinen Arbeitsleistung dispensiert, übernehmen jedoch die Verpflichtung, andere Stämme, die bei der Stellung von Arbeiten sich saumselig erweisen, und das werden gewöhnlich die friedlichen sein, die familienweise ohne allgemeines Oberhaupt leben, nötigenfalls mit bewaffneter Hand dazu zu veranlassen. Ein solch kriegerisches Volk wird in dieser Maßnahme nur die Möglichkeit erblicken, mit größerer Unbeschränktheit seinen Räubereien obliegen zu können, namentlich da sie den Weißen, die sie im Besitz starker Kriegsmedizin glauben, als ihre Verbündeten betrachten. Wir aber wissen, dass ihre rohe Gewalt nur dem höheren Endzweck allgemeiner Zivilisation dienen soll.“

Man sieht. in der Kolonie dient alles dem „höheren Endzweck der Zivilisation", sogar der Raubzug. Nachdem man durch derartige famose Mittel die Eingeborenen unterworfen hat, tritt nun an Stelle des kriegerischen Raubes der friedliche, gesetzliche durch Erpressung von Arbeitsleistungen. Zunächst sollen die Neger, die über weite Gebiete zerstreut leben, in kleinere Kreise zusammengetrieben und dort zwangsweise festgesetzt werden.

Hierdurch wird die Aufsicht der Neger erleichtert und eine bessere Kontrolle ermöglicht, inwieweit sie sich der Erwerbspflicht zu entziehen oder ihr nachkommen suchen. Diese besteht darin, dass man ihnen eine Kopfsteuer auferlegt. Jeder erwachsene Neger hat eine Abgabe von bestimmtem Werte zu entrichten. Um den Betrag zu erwerben, wird der Neger seine Arbeit zu Markte tragen müssen, die wiederum nur bei den Weißen Abnahme findet. …

Ist erst der Zeitpunkt herbeigekommen, wo selbständige Farmer sich in den Kolonien niedergelassen haben, so kann man ferner das Verfahren einschlagen, dass dann jeder, je nach der Größe seines Grundbesitzes, eine Anzahl Familien von Eingeborenen zugewiesen bekommt, die auf seinem Lande wohnen und nach privater Übereinkunft zu einer gewissen jährlichen Arbeitsleistung zu bestimmtem Lohne sich verpflichten. .…

Nicht mit Theorien und Phrasen löst man die vorliegende Aufgabe, sondern mit tätigem, energischem Eingriff. Deswegen habe ich mich nicht weitläufig darüber verbreitet, dass der Neger zur Arbeit gezwungen werden muss, sondern ich habe gezeigt, wie es geschehen kann. Dass man dabei nicht mit den weichen Mittel von Überredung und Beispiel zu Werke gehen kann, ist klar, es bedarf kräftiger Beilhiebe, ehe der gänzlich rohe Klotz eine Gestalt bekommt, der ihr letztes Gepräge mit der Feile gegeben wird. Überlassen wir die Anschauung von Würde und Freiheit der Neger dem Philanthropen, und wie wir uns politisch zur Macht aufgeschwungen haben, emanzipieren wir auch unser Urteil von dem Einfluss der Anschauung fremder Völker und lösen wir die vor uns liegende Frage auf spezifisch deutsche Art.“

Zur Ehrenrettung der deutschen Art darf man konstatieren, dass die Rezepte des Grafen Pfeil vor ihm schon von mannigfachen Kolonialstaaten angewandt wurden. Sie entspringen nicht dem Deutschtum, sondern dem Wesen der Kolonialpolitik. Vielleicht wäre man versucht, als spezifisch deutsch die Methode anzusehen, zuerst die Arbeit der Neger als eine notwendige Vorbedingung für sie hinzustellen, damit sie zum „Gefühl ihrer Würde" kommen, um dann, nachdem sich diese Arbeit als Sklaverei entpuppt hat, die „Würde" der Neger hohnlachend den „Philanthropen'' zu überlassen.

Aber auch dies ungenierte Übergehen von der ethischen Phrase zum profitwütigen Zynismus hat bei anderen Nationen, die Kolonialpolitik treiben, Vorbilder aufzuweisen.

So leicht sich heute dieser Übergang vollzieht, vor zwei Jahrzehnten, als Graf Pfeil seine Rede hielt, war man in Deutschland durch koloniale Erfahrungen noch nicht genügend abgestumpft dazu. Seine zivilisatorische Raubzugs- und Versklavungspolitik begegnete lautem Widerspruch in der Versammlung. Der Missionsinspektor Büttner wandte sich gegen Pfeil, und zwar – das gehört zum Humor der Weltgeschichte – im Auftrag des Peters, der selbst auch nach Büttner in gleichem Sinne sprach!

Mit Hohn weist jetzt Graf Pfeil darauf hin, dass seine Kritiker es unterließen, zu sagen, wie es anders gemacht werden könne, und dass heute tatsächlich in den deutschen Kolonien seine Vorschläge alle durchgeführt sind. Was als Zivilisierung Afrikas beginnt. endet als Verwilderung Europas.

Aber vom Standpunkt der Kolonialpolitik hat Graf Pfeil ganz recht. Wenn man einmal Kolonialpolitik treiben will, wird man sie nicht viel anders treiben können. Gründlich humanisieren kann man sie nur durch Vermehrung der Widerstandskraft der Eingeborenen. Dahin vermögen aber bloß Leute zu wirken, die der Kolonialpolitik prinzipiell ablehnend gegenüberstehen; denn je größer die Widerstandskraft der Eingeborenen gegen kapitalistische Ausbeutung, desto großer auch ihr Drang und ihre Fähigkeit, das Joch der Fremdherrschaft abzuwerfen. Nur wer ihnen zu voller Befreiung verhelfen will, kann den Ausschreitungen der Kolonialpolitik wirklich nicht bloß durch Redensarten entgegenwirken. Wer dagegen die Erwerbung und Festhaltung von Tropenkolonien für notwendig hält, der wird, ob er mag oder nicht, schließlich durch die Logik der Tatsachen gezwungen, „Erziehung" und „Bevormundung" der Eingeborenen durch brutale Mittel zuzustimmen.

Ihm bleibt nur die Wahl zwischen zwei Methoden der Kolonialpolitik: der bürokratischen, die aus Unverstand, Dünkel, Interesselosigkeit und Entgegenkommen gegen die Bedürfnisse der Ausbeuter sündigt, oder der Selbstverwaltung der Ausbeuter, die intelligenter und anpassungsfähiger ist, aber leicht noch gieriger und grausamer wird als das bürokratische Regime.

Eine dritte Methode der Kolonialverwaltung gibt es nicht. Oder kennen unsere sozialistischen Kolonialfreunde eine solche? Dann rasch heraus damit!

Ethische Redensarten über Kultur und Zivilisation aber bilden keine Verwaltungsmethode. Mit solchen Phrasen sind die grausamsten Kolonialtyrannen reichlich versehen.

1 Dr. Joachim Graf v. Pfeil, Zur Erwerbung von Deutsch-Ostafrika. Ein Beitrag zu seiner Geschichte. Berlin, Verlag von Karl Curtius. 232 Seiten.

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