Karski 19110410 Ernste Fragen und nichtige Eitelkeiten

Julian Marchlewski (Karski): Ernste Fragen und nichtige Eitelkeiten

[„Bremer Bürger-Zeitung“, Nr. 85, 10. April 1911, mit „J. Karski“ gezeichneter Leitartikel]

Die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Partei, die anlässlich der Interpellation über Einschränkung der Rüstungen zutage getreten sind, zeugen davon, dass hier eine ernste Frage vorliegt, die ausgetragen werden muss. Da es der Stolz der deutschen Sozialdemokratie ist, Problemen, die sie bewegen, bis auf den Grund zu gehen, so dürfen wir wohl sicher sein, dass es auch hier zu richtiger Zeit geschehen wird. Von Übel jedoch ist es, wenn die Auseinandersetzungen auf das Niveau einer von nichtiger Eitelkeit diktierter Herunterreißerei herabgedrückt werden. Diese Gefahren scheint mir vorzuliegen, wenn auch weiterhin die Polemik im Stile der vom Genossen K.R. veröffentlichten Artikel geführt werden sollte.

Diese Polemik richtet sich gegen meine Ausführungen in der „Leipziger Volkszeitung“ vom 3. April und es sei mir gestattet, die Anzapfung mit einigen Worten zurückzuweisen. Vorausgeschickt mag sein, dass die Redaktion der „L[eipziger] V[olkszeitung]“ meinen Artikel mit dem Hinweis einleitete, er teile den Standpunkt der Fraktion. Das war nur insofern richtig, als ich im Gegensatz zu der genannten Redaktion der Meinung bin, die Einbringung der Interpellation sei ein taktisch richtiger Schritt gewesen. Dagegen ist es mir absolut nicht eingefallen, mich als Verteidiger der Fraktion aufzuspielen, die einer solchen Verteidigung nicht bedarf. Die Argumentation in Bezug auf die Beschränkungen fällt durchaus auf mein Konto und sie ist ja auch — wie ein Vergleich mit dem inzwischen im „Vorwärts“ veröffentlichten Artikel des Genossen Ledebour ergibt — von der Argumentation des Wortführers der Fraktion durchaus verschieden.

Genosse K.R. in seiner Fixigkeit hat indessen das Bedürfnis, mich als Verteidiger der Fraktion hinzustellen. Wozu das? Etwa weil es der Eitelkeit dieses Genossen nicht genügt, mich zu zermalmen, sondern nur ein Triumph über die ganze Fraktion seiner Mühe wert ist? Das erinnert beinahe an das Schneiderlein, das mit den „sieben auf einen Schlag“ prahlte.

Mich hat nun Genosse K.R., wie er versichert, allerdings vollkommen zermalmt und es bleibt mir nur der Trost, dass Leute, die meine Ausführungen im Zusammenhang und nicht das das Ragout des Genossen K.R. [lesen], mich trotzdem nicht für den Quadrattrottel ansehen werden, den er aus mir macht. Denn nach seiner Behauptung wäre ich 1. „auf dem Boden der Tatsachen verunglückt“, 2. Fabriziere ich „aus den Tatsachen Tendenzen“, 3. Wird meine „Tendenz zu Wasser“. Schade nur, dass alle diese Behauptungen ebenso willkürlich sind wie der Stil, in dem sie vorgebracht werden, schlampig [ist].

Dem gegenüber sei mir gestattet, den Lesern der „Bremer Bürger-Zeitung“ im dürftigsten Umrisse wiederzugeben, was ich gesagt habe.

Ich gehe von der Tatsache aus, dass das englische und das französische Parlament sich, wenn auch unklar und unbestimmt, für die Eindämmung des Wettrüstens aussprechen. Als Marxist gewohnt, politische Vorgänge aus den sozialwirtschaftlichen Erscheinungen herzuleiten, suche ich dafür eine Erklärung. Diese scheint mir darin zu liegen, dass der Bourgeoisie, die in diesen Parlamenten vertreten ist, die Lasten unbequem werden, weil sie fürder nicht mehr ausschließlich auf die Volksmassen abgewälzt werden können. Dafür liegt in England der strikte Beweis vor in der notwendig gewordenen und durchgesetzten Steuerreform, die den Profit belastet, während in Frankreich die Dinge noch nicht so weit gediehen sind, aber auch hier die Unmöglichkeit, die indirekten Steuern weiterhin zu erhöhen, klar geworden ist und das Gespenst der Einkommenssteuer die Bourgeoisie schreckt. Gehen die Rüstungen auf Kosten des Profits, so erhält der Rüstungskoller einen Dämpfer. Da aber jene Länder parlamentarisch regiert werden, so kommt das sofort zum Ausdruck und die Regierungen geben Erklärungen ab, die immerhin einen schwachen Versuch darstellen, dem Rüstungswahnsinn zu entgehen. Dagegen lebt in dem halbabsolutistischen Deutschland mit seinem bornierten Junkerregiment die Regierung in dem Wahne, sie könne auch fürder dem Volke ungemessene Lasten aufbürden, daher die brutale und unsinnige Rede des Herrn Bethmann-Hollweg.

Was hat dagegen Genosse K.R. zu sagen? 1. Es ist nicht wahr, „dass die französische und englische Bourgeoisie sich gegen die Rüstungen wendet.“ Dann müssten entweder die Parlamente nicht den Willen der Bourgeoisie ausdrücken oder diese Parlamente sind durch ein Gotteswunder zu ihren Voten gekommen. 2. Kann Genosse K.R. „natürlich“ nicht die englischen und französischen Finanzverhältnisse darlegen — aus Raummangel nämlich. Sonderbar, wie doch der Raum da ist für unglaublich weitschweifiges Gerede und mangelt, wenn es auf die Hauptsache ankommt! Vorläufig werden wir also annehmen müssen, dass nach Genossen K.R. die englische Regierung zum puren Vergnügen ihre verzweifelte Kampagne um die Steuerreform geführt hat.

Im zweiten Teil meines Artikels in der „L[eipziger] V[olkszeitung] gehe ich dann kurz auf die Frage ein: Ist eine Einschränkung der Rüstungen im kapitalistischen Staate überhaupt möglich, ist sie denkbar? Dies ist eben die Frage, die zur Diskussion steht und die einer eingehenden wissenschaftlichen Erörterung bedarf. Ich maße mir nun keineswegs ah, in den fünfzig Zeilen, die ich ihr widme, diese Frage gelöst zu haben. Es genügt mir, angedeutet zu haben, dass heute die Bourgeoisien einzelner Staaten es dahin bringen, ihre Interessengegensätze bei der Nutzbarmachung neuer Gebiete für die kapitalistische Ausbeutung auszugleichen, indem sie gemeinsame Sache machen. Es lag mir fern, zu behaupten, dass diese Bourgeoisien heute bei diesem Vorgehen auf das Säbelrasseln verzichten, sondern ich begnügte mich darauf hinzuweisen, dass von den fortgeschrittenen Bourgeoisien „der Gedanke der internationalen Interessengemeinschaft (nämlich der kapitalistischen Interessengemeinschaft, wie aus dem Zusammenhange deutlich hervorgeht) ventiliert werde.“

Wie man sieht, handelt es sich da um „Tendenzen“, die ich wahrzunehmen glaube und andeute. Mein grimmiger Kritiker schimpft mich darob einen Phantasten und erklärt, ich „fabriziere Tendenzen aus Tatsachen, ohne zu fragen, ob das Material ausreicht.“ Ja, mit Verlaub, woher weiß denn Genosse K.R., auf welches Material ich mich stütze? Ich habe nämlich überhaupt keine Tatsachen angeführt und kein Material genannt. Wäre es ihm um die Sache zu tun, so hätte er wohl gewartet oder mich aufgefordert, meine Beweise beizubringen, so verfahren wenigstens gewissenhafte Leute bei einer Polemik. Da es ihm indessen nicht auf eine Polemik, sondern auf eine ordinäre Herunterreißerei ankommt, so verfährt er nach einem anderen Rezept, das darin besteht, sich einen Popanz zurechtzumachen, den man mit kindlichem Triumphgeschrei zerzaust. Im vorliegenden Falle wird der alte Trick variiert, indem der alte Popanz gleich als Verkörperung der ganzen Fraktion herhalten muss, auf dass der Sieg um so herrlicher erscheine.

Auf die schülerhaften Explorationen des Gen[ossen] K.R. über Weltpolitik einzugehen, dazu fehlt mir Zeit und Lust. Worauf es mir ankommt, ist einzig, vor der widerlichen Art der Polemik zu warnen, bei der statt der Austragung verschiedener Ansichten der Zweck ist, durch Beschimpfung und Verhöhnung des Gegners der eigenen Eitelkeit zu frönen, und bei der, wie im gegebenen Falle, die Anmaßung des „Kritikers“ nur noch von seiner Unwissenheit übertroffen wird.

J. Karski

[Redaktion der „Bremer Bürger-Zeitung“:] Wir haben der obigen Entgegnung die Aufnahme nicht versagt, weil Genosse J. Karski der Angegriffene war. Wir sind aber der Ansicht, der gereizte Ton hätte lieber unterbleiben sollen. Er konnte umso besser unterbleiben, wenn Genosse Karski sich in der Sache wirklich so stark fühlte, wie er sich den Anschein gibt. Uns wird er es nicht verübeln, wenn wir einstweilen noch der Überzeugung sind, dass er sachlich den Genossen K.R. noch nicht überwunden hat.]

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