Kienthaler Konferenz 19160501 Manifest

Manifest der zweiten sozialistischen internationalen Konferenz in Kienthal

[Abgedruckt aus „Die Internationale und der Weltkrieg“ Materialien, gesammelt von Carl Grünberg, II, Leipzig 1928. Nach Lenin, Sämtliche Werke, Band 19, Wien-Berlin 1930, S. 517-520]

Proletarier aller Länder vereinigt euch!

Zwei Jahre Weltkrieg! Zwei Jahre der Verwüstung! Zwei Jahre der Blutopfer und des Wütens der Reaktion!

Wer trägt die Verantwortung? Wer steht hinter denen, welche die Brandfackel ins Pulverfass warfen? Wer hat den Krieg seit langem gewollt und vorbereitet?

Es sind die herrschenden Klassen!

Als wir Sozialisten aus kriegführenden und neutralen Ländern im September 1915 uns über den blutigen Wirrwarr hinweg die Hände reichten und uns in Zimmerwald mitten in den entfesselten Kriegsleidenschaften vereinigten, sagten wir in unserm Manifest:

Die herrschenden Gewalten der kapitalistischen Gesellschaft, in deren Händen das Geschick der Völker ruhte, die monarchischen wie die republikanischen Regierungen, die Geheimdiplomatie, die mächtigen Unternehmerorganisationen, die bürgerlichen Parteien, die kapitalistische Presse, die Kirche – sie alle tragen das volle Gewicht der Verantwortung für diesen Krieg, welcher aus der sie nährenden und von ihnen geschützten Gesellschaftsordnung entstanden ist und für ihre Interessen geführt wird.“

Jede Nation“, so sprach Jaurès einige Tage vor seinem Tode, „ist mit brennender Fackel durch die Straßen Europas geeilt.“

Nachdem Millionen Männer ins Grab gesunken, Millionen Familien in Trauer versetzt, Millionen zu Witwen und Waisen gemacht worden sind, nachdem Ruinen auf Ruinen gehäuft und unersetzliche Kulturwerte zerstört wurden, ist dieser Krieg in eine Sackgasse geraten.

Trotz der Hekatomben von Opfern auf allen Fronten keine entscheidenden Resultate! Um diese Fronten auch nur zu erschüttern, müssten die Regierungen neue Millionen Männer opfern.

Keine Sieger, keine Besiegten, oder vielmehr alles Besiegte, das heißt: alle verblutend, alle ruiniert, alle erschöpft, das wird die Bilanz dieses gräuelreichen Krieges sein. Die herrschenden Klassen können so feststellen, dass ihre phantastischen Träume von der imperialistischen Weltherrschaft nicht in Erfüllung gegangen sind.

Es hat sich von neuem gezeigt, dass einzig jene Sozialisten den Interessen ihrer Völker gedient haben, die trotz der Verfolgungen und Verleumdungen dem nationalistischen Wahn entgegengetreten sind und einen sofortigen Frieden ohne Annexionen gefordert haben.

Vereinigt euch deshalb mit uns in dem Feldgeschrei: Nieder mit dem Kriege! Es lebe der Frieden!

Arbeiter in Stadt und Land!

Die Regierungen, die imperialistischen Cliquen und ihre Presse sagen euch, man müsse durchhalten, um die unterdrückten Nationen zu befreien. Von allen Mitteln der Irreführung, die in diesem Kriege angewendet werden, ist dies das gröbste. Das wirkliche Ziel dieser allgemeinen Schlächterei ist für die einen die Sicherung dessen, was sie in Jahrhunderten zusammengerafft, in vielen Kriegen erobert haben; die andern wollen die Welt von neuem teilen, um ihren Besitz zu vergrößern; sie wollen neue Gebiete annektieren, Völker zerschneiden und zerreißen, sie zu gewöhnlichen Knechten und Heloten erniedrigen.

Eure Regierungen und ihre Presse sagen euch, dass man den Krieg fortsetzen müsse, um den Militarismus zu vernichten.

Lasst euch nicht täuschen! Der Militarismus einer Nation kann nur durch sie selbst vernichtet werden, und in allen Ländern gilt es, ihn niederzuringen.

Eure Regierungen und ihre Presse sagen euch weiter, dass man den Krieg verlängern müsse, damit es der letzte sei.

Auch das ist eine Täuschung. Niemals hat der Krieg den Krieg getötet. Im Gegenteil. Er weckt Revanchegelüste, denn Gewalt gebiert Gewalt.

So werden eure Peiniger nach jedem Opfer neue von euch fordern und aus diesem infernalischen Ring führt auch der Weg der bürgerlichen Friedensschwärmer nicht heraus.

Nur ein wirksames Mittel gibt es, um Kriege in der Zukunft zu verhindern: die Eroberung der politischen Macht und die Abschaffung des kapitalistischen Eigentums durch die arbeitenden Klassen.

Der dauerhafte Friede wird erst die Frucht des siegreichen Sozialismus sein.

Proletarier! Wer sind die, die euch die „Durchhaltepolitik“ bis zum „Siege“ predigen?

Es sind die verantwortlichen Urheber des Krieges, die feile Presse, die Kriegslieferanten und alle Nutznießer des Krieges; es sind die Sozialpatrioten, die Nachbeter bürgerlicher Kriegslosungen; die Reaktionäre sind es, die sich insgeheim darüber freuen, dass auf den Schlachtfeldern jene fallen, welche gestern noch die Vorrechte der Herrschenden bedrohten: die Sozialisten, die Gewerkschaftler, alle, die den Samen des Sozialismus in Stadt und Land ausstreuten.

Das ist die Partei der Durchhaltepolitiker!

Sie verfügen über die Regierungsgewalt, sie beherrschen die lügnerische Presse, die das Volk vergiftet, sie haben die Freiheit der Agitation zugunsten der Fortsetzung des Krieges, der Häufung der Blutopfer und der Verwüstung.

Ihr aber seid die Opfer; ihr habt nur das Recht zu hungern und zu schweigen und dazu die Ketten des Belagerungszustandes, die Fesseln der Zensur, die dumpfe Luft des Kerkers.

Ihr, das Volk, die arbeitenden Massen, werdet das Opfer des Krieges, der nicht euer Krieg ist.

In den Schützengräben, in den vordersten Reihen steht ihr, Arbeitende aus Stadt und Land. Hinter der Front aber seht ihr viele der Reichen und ihre Helfershelfer, die Drückeberger, in Sicherheit.

Für sie bedeutet der Krieg den Tod der andern!

Und während sie ihren Klassenkampf noch schärfer gegen euch führen als je zuvor, predigen sie euch den Burgfrieden. Während sie euer Elend, eure Not schonungslos ausbeuten, suchen sie euch zum Verrat an der Pflicht gegen eure Klasse zu bewegen und euch eure beste Kraft, die Hoffnungen auf den Sozialismus aus dem Herzen zu reißen.

Noch deutlicher als im Frieden zeigen sich im Kriege die soziale Ungerechtigkeit und die Klassenherrschaft.

Im Frieden raubt das kapitalistische System dem Arbeiter die Lebensfreude, im Kriege raubt es ihm alles, das Leben selbst.

Genug des Mordens! Genug des Leidens!

Genug der Verheerung nicht minder!

Denn auf euch, ihr Arbeitenden, fallen heute und in Zukunft diese jetzt aufgetürmten Ruinen.

Hunderte von Milliarden werden heute dem Kriegsgott in den Rachen geworfen und sind so für die Wohlfahrt des Volkes, für die Kulturziele und für die Zwecke der sozialen Reformen verloren, die euer Los erleichtern, die Volksbildung fördern und das Elend mildern könnten.

Und morgen werden neue schwere Steuern auf eure gedrückten Schultern fallen.

Ein Ende darum der Vergeudung eurer Arbeit, eures Geldes, eurer Lebenskraft! Auf zum Kampfe für den sofortigen Frieden ohne Annexionen.

In allen kriegführenden Ländern sollen sich die Frauen und Männer der Arbeit gegen den Krieg und seine Folgen, gegen das Elend und die Entbehrung, gegen die Arbeitslosigkeit und die Teuerung wenden. Mögen sie ihre Stimme erheben, für die Wiederherstellung der ihnen entrissenen bürgerlichen Freiheiten, für die soziale Gesetzgebung, für die Forderungen der arbeitenden Klassen in Stadt und Land.

Mögen die Proletarier der neutralen Länder den Sozialisten in den kriegführenden Staaten in ihrem schweren Kampfe beistehen und sich mit aller Kraft der weiteren Ausbreitung des Krieges widersetzen.

Mögen die Sozialisten aller Länder gemäß den Beschlüssen der internationalen Kongresse handeln, wonach es die Pflicht der Arbeiterklasse ist, alle Anstrengungen zu machen, um ein rasches Ende des Krieges herbeizuführen.

Übt auf eure Abgeordneten, auf eure Parlamente, auf eure Regierungen den stärksten Druck aus.

Fordert die sofortige Ablehnung jeglicher Unterstützung der Kriegspolitik der Regierungen durch die Vertreter der sozialistischen Parteien. Verlangt von den sozialistischen Parlamentariern, dass sie von nun an gegen alle Kriegskredite stimmen.

Wirkt mit allen euch zu Gebote stehenden Mitteln für die rasche Beendigung der Menschenschlächterei!

Sofortige Waffenruhe, das sei eure Losung! Auf zum Kampfe, ihr Völker, die man ruiniert und tötet!

Mut! Denkt daran, dass ihr die Mehrzahl seid und, wenn ihr es wollt, die Macht sein könnt.

Die Regierungen sollen es wissen, dass in allen Ländern der Hass gegen den Krieg und der Wille zur sozialen Vergeltung wächst, und dann wird die Stunde des Völkerfriedens herannahen.

Nieder mit dem Kriege!

Es lebe der Frieden, der sofortige Frieden ohne Annexionen!

Es lebe der internationale Sozialismus!

    1. Mai 1916

Die zweite internationale sozialistische Zimmerwalder Konferenz

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