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Wladimir I. Lenin 18960000 Entwurf und Erläuterung des Programms der Sozialdemokratischen Partei

Wladimir I. Lenin: Entwurf eines Programms

der Sozialdemokratischen Partei samt Erläuterungen1

1895–1896

[Ausgewählte Werke, Band 1. Die Voraussetzungen der ersten russischen Revolution. Wien-Berlin 1932, S. 332-359]

Programmentwurf

A. 1. In immer rascherem Tempo entwickeln sich in Russland große Fabriken und Werke, welche die kleinen Heimarbeiter und Bauern ruinieren, sie in besitzlose Arbeiter verwandeln und immer größere Volksmassen in die Städte, in die Fabrik- und Industriedörfer und -flecken treiben.

    2. Dieses Wachstum des Kapitalismus bedeutet ein gewaltiges Wachstum des Reichtums und des Luxus eines Häufleins von Fabrikanten, Kaufleuten und Grundherren sowie ein noch rascheres Wachstum der Armut und der Unterdrückung der Arbeiter. Die von den großen Fabriken eingeführten Verbesserungen in der Produktion und die Maschinen, welche die Steigerung der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit fördern, dienen zur Verstärkung der Macht der Kapitalisten über die Arbeiter, zur Vermehrung der Arbeitslosigkeit und damit zur Wehrlosmachung der Arbeiter.

    3. Dadurch aber, dass die großen Fabriken die Bedrückung der Arbeit durch das Kapital bis aufs Äußerste steigerten, schufen sie eine besondere Klasse der Arbeiter, welche die Möglichkeit erhält, gegen das Kapital zu kämpfen, da ihre Lebensbedingungen an sich schon ihre gesamten Verbindungen mit der eigenen Wirtschaft zerstören; und dadurch, dass die großen Fabriken die Arbeiter durch gemeinsame Arbeit verbinden und sie aus einem Betrieb in den anderen werfen, schweißen sie die Arbeitermassen zusammen. Die Arbeiter beginnen ihren Kampf gegen die Fabrikanten mit Streiks und es entsteht unter ihnen ein intensives Streben nach Zusammenschluss. Aus den Einzelaufständen der Arbeiter erwächst der Kampf der russischen Arbeiterklasse.

    4. Dieser Kampf der Arbeiterklasse gegen die Klasse der Kapitalisten ist ein Kampf gegen alle Klassen, die von fremder Arbeit leben, und gegen jedwede Ausbeutung. Enden kann er nur mit dem Übergang der politischen Macht an die Arbeiterklasse, der Übergabe des gesamten Grund und Bodens, der Arbeitsgeräte, der Fabriken, der Maschinen und der Bergwerke in die Hände der gesamten Gesellschaft zum Zwecke des Aufbaus einer sozialistischen Produktion, in welcher alles, was die Arbeiter erzeugen, sowie alle Vervollkommnungen der Produktion den Werktätigen selbst zugute kommen.

5. Nach ihrem Charakter und ihrem Ziel ist die Bewegung der russischen Arbeiterklasse ein Teil der internationalen Bewegung der Arbeiterklasse aller Länder.

6. Das Haupthindernis im Kampfe der russischen Arbeiterklasse für ihre Befreiung bildet die unumschränkte absolutistische Regierung mit ihren unverantwortlichen Beamten. Gestützt auf die Vorrechte der Grundherren und der Kapitalisten und auf die Dienstfertigkeit gegenüber den Interessen dieser Klassen, hält die Regierung die niederen Stände in völliger Rechtlosigkeit, fesselt damit die Arbeiterbewegung und hemmt die Entwicklung des ganzen Volkes. Aus diesem Grunde ruft der Kampf der russischen Arbeiterklasse für ihre Befreiung notwendigerweise den Kampf gegen die unumschränkte Macht der absolutistischen Regierung hervor.

B. 1. Die russische sozialdemokratische Partei erklärt es als ihre Aufgabe, diesen Kampf der russischen Arbeiterklasse durch Entwicklung des Klassenbewusstseins der Arbeiter, durch Förderung ihrer Organisation und durch Aufklärung über das wahre Ziel des Kampfes zu unterstützen.

2. Der Kampf der russischen Arbeiterklasse für ihre Befreiung ist ein politischer Kampf, und sein nächstes Ziel bildet die Erlangung politischer Freiheit.

3. Darum wird die russische sozialdemokratische Partei, die sich mit der Arbeiterbewegung eins weiß, jede soziale Bewegung gegen die unumschränkte Macht der absolutistischen Regierung, gegen die Klasse der privilegierten adeligen Grundherren und gegen alle Überreste der die Freiheit der Konkurrenz hemmenden Leibeigenschaft und des Ständesystems unterstützen.

4. Dagegen wird die russische sozialdemokratische Partei alle Bestrebungen bekämpfen, die werktätigen Klassen unter der Vormundschaft der absolutistischen Regierung und ihrer Beamten mit „Wohltaten zu beglücken“ sowie die Entwicklung des Kapitalismus und damit auch die Entwicklung der Arbeiterklasse aufzuhalten.

5. Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiter selbst sein.

6. Das russische Volk bedarf nicht der Hilfe der absolutistischen Regierung und ihrer Beamten, sondern der Befreiung von der Unterdrückung durch dieselben.

C. Ausgehend von diesen Anschauungen, fordert die russische sozialdemokratische Partei vor allem:

    1. Die Einberufung einer aus Vertretern aller Staatsbürger bestehenden Landesversammlung zur Ausarbeitung einer Verfassung.

    2. Das allgemeine und direkte Wahlrecht für alle russischen Staatsbürger vom 21. Lebensjahre an, ohne Unterschied der Religion und der Nationalität.

    3. Versammlungs-, Koalitions- und Streikfreiheit.

    4. Pressefreiheit.

    5. Aufhebung der Stände und volle Gleichstellung aller Bürger vor dem Gesetz.

    6. Glaubensfreiheit und Gleichberechtigung aller Nationalitäten. Übertragung der Führung der Standesregister an selbständige, von der Polizei unabhängige Zivilbeamte.

    7. Gewährung des Rechts an jeden Bürger, jeden Beamten ohne Beschwerde bei seinem Vorgesetzten gerichtlich zu belangen.

    8. Abschaffung des Passzwanges, volle Freizügigkeit und Übersiedlungsfreiheit.

    9. Gewerbe- und Berufsfreiheit und Aufhebung der Zünfte.

D. Für die Arbeiter fordert die russische sozialdemokratische Partei:

    1. Die Schaffung von Gewerbegerichten für alle Industriezweige mit Richtern, die von den Kapitalisten und Arbeitern paritätisch gewählt werden.

    2. Gesetzliche Beschränkung des Arbeitstages auf 8 Stunden.

    3. Gesetzliches Verbot der Nachtarbeit und der Arbeit in Schichten, Verbot der Beschäftigung von Kindern unter 15 Jahren.

    4. Gesetzliche Sicherstellung der Feiertagsruhe.

    5. Ausdehnung der Fabrikgesetze und Fabrikinspektion auf sämtliche Industriezweige ganz Russlands und auf die Staatsbetriebe, desgleichen auf die Arbeiter in der Hausindustrie.

    6. Die Fabrikinspektion muss selbständig und darf nicht dem Finanzministerium unterstellt sein; die Mitglieder der Gewerbegerichte werden bei der Überwachung der Einhaltung der Fabrikgesetze den Fabrikinspektionen gleichgestellt.

    7. Bedingungsloses allgemeines Verbot der Entlohnung mit Waren.

    8. Überwachung der Einhaltung der Lohntarife, der Ausmusterung der Ausschuss wäre, der Verwendung der Strafgelder und der Fabrikwohnungen der Arbeiter durch von den Arbeitern gewählte Vertrauensmänner.

9. Ein Gesetz, wonach alle Abzüge vom Arbeitslohn, welchen Zwecken sie auch dienen mögen (Strafen, Ausschussware usw.), insgesamt 10 Kopeken pro Rubel nicht überschreiten dürfen.

9. Ein Gesetz über die Verantwortlichkeit der Unternehmer für Arbeitsanfälle und die Verpflichtung des Unternehmers, den Nachweis zu führen, dass die Schuld den Arbeiter trifft.

10. Ein Gesetz über die Verpflichtung der Unternehmer, Schulen zu unterhalten und den Arbeitern ärztliche Hilfe zur Verfügung zu stellen.

E. Für die Bauern fordert die russische sozialdemokratische Partei:

1. Abschaffung der Ablösungszahlungen und Entschädigung der Bauern für die bereits geleisteten Ablösungszahlungen; Rückerstattung der der Staatskasse zugeflossenen überschüssigen Zahlungen an die Bauern.

2. Rückgabe der im Jahre 1861 vom Bauernland abgetrennten Bodenstücke an die Bauern.

3. Völlige Gleichstellung der Bauern- und der Gutsbesitzerländereien bei der Bemessung von Steuern und Abgaben.

4. Abschaffung der Solidarhaft und aller Gesetze, welche die Bauern in der Verfügung über ihr Land behindern.

Erläuterungen zum Programm

Das Programm zerfällt in drei Hauptteile. Im ersten Teil werden alle jene Anschauungen dargelegt, denen die übrigen Teile des Programms entspringen. In diesem Teil wird gezeigt, welche Stellung die Arbeiterklasse in der heutigen Gesellschaft einnimmt, worin der Sinn und die Bedeutung ihres Kampfes gegen die Fabrikanten besteht und welches die politische Lage der Arbeiterklasse im russischen Staate ist.

Im zweiten Teil wird die Aufgabe der Partei dargelegt und gezeigt, in welchem Verhältnis sie zu den anderen politischen Strömungen in Russland steht. Hier wird gezeigt, worin die Tätigkeit der Partei und aller Arbeiter, die sich ihrer Klasseninteressen bewusst sind, zu bestehen hat und wie sie sich zu den Interessen und Bestrebungen der anderen Klassen der russischen Gesellschaft zu verhalten haben.

Der dritte Teil enthält die praktischen Forderungen der Partei. Dieser Teil zerfällt in drei Abschnitte. Der erste Abschnitt enthält die Forderung nach staatlicher Umgestaltung im Allgemeinen, der zweite Abschnitt die Forderungen und das Programm der Arbeiterklasse, der dritte die Forderungen zugunsten der Bauern. Einige vorausgehende Erläuterungen zu diesen Abschnitten werden weiter unten vor dem Übergang zum praktischen Teil des Programms gegeben.

A. 1) Das Programm handelt zunächst von der raschen Zunahme der großen Fabriken und Werke, weil das die wichtigste Erscheinung des gegenwärtigen Russland ist, die alle alten Lebensverhältnisse, insbesondere die Existenzbedingungen der werktätigen Klasse, völlig verändert. Unter den alten Verhältnissen wurde fast der gesamte Reichtum von Kleinbesitzern produziert, die die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung ausmachten. Die Bevölkerung blieb ans Dorf gebunden und produzierte den größeren Teil ihrer Erzeugnisse entweder für den Selbstverbrauch oder für den kleinen, mit den benachbarten Märkten schwach verbundenen Absatzmarkt der umliegenden Ansiedlungen. Für die Gutsbesitzei arbeiteten dieselben Kleinbesitzer, und die Gutsbesitzer zwangen sie hauptsächlich für den eigenen Verbrauch zu produzieren Die zu Hause hergestellten Produkte wurden zur Bearbeitung Handwerkern übergeben, die ebenfalls im Dorfe lebten oder sich in dessen Umgebung Arbeit zusammensuchten.

Seit der Bauernbefreiung haben nun diese Lebensverhältnisse der Volksmassen eine völlige Umwälzung erfahren. An die Stelle der gewerblichen Kleinbetriebe traten nach und nach große, außerordentlich rasch wachsende Fabriken; sie verdrängten die Kleinbesitzer, verwandelten sie in Lohnarbeiter und zwangen Hunderte und Tausende von Arbeitern, vereint zu arbeiten und eine gewaltige Menge von Waren herzustellen, die in ganz Russland verkauft wurden.

Die Befreiung der Bauern beseitigte die Sesshaftigkeit der Bevölkerung und versetzte die Bauern in eine solche Lage, dass sie sich von den ihnen verbliebenen kleinen Landstücken nicht mehr zu ernähren vermochten. Große Volksmassen ergossen sich bei der Suche nach Arbeit in die Fabriken oder fanden Beschäftigung beim Bau von Eisenbahnlinien, die verschiedene Gegenden Russlands miteinander verbinden und die Waren der großen Fabriken überallhin befördern. Große Volksmassen suchten in den Städten Arbeit und fanden beim Bau von Fabriken und dem Handel dienender Bauten, bei der Heranschaffung von Heizmaterial und Rohstoffen für die Fabriken Verwendung. Schließlich widmeten sich viele der Heimarbeit, die von jenen Händlern und Fabrikanten vergeben wurde, die ihre Betriebe nicht entsprechend schnell zu erweitern vermochten. Die gleichen Veränderungen fanden auch in der Landwirtschaft statt. Die Großgrundbesitzer begannen nun, Getreide für den Markt zu produzieren; es erschienen Bauern und Händler mit großen Anbauflächen auf dem Plan, Hunderte Millionen Pud an Getreide wurden ans Ausland verkauft. Die Produktion erforderte Lohnarbeiter, und Hunderttausende und Millionen von Bauern gaben ihre Zwergwirtschaften auf und verdingten sich als Landarbeiter und Tagelöhner bei den neuen Unternehmern, die Getreide für den Markt produzierten. Diese Veränderungen der alten Lebensverhältnisse schildert das Programm, wenn es ausführt, dass die großen Fabriken und Werke die kleinen Heimarbeiter und Bauern ruinieren und in Lohnarbeiter verwandeln. Die Kleinproduktion wird überall durch die Großproduktion ersetzt, und in dieser Großproduktion sind die Massen der Arbeiter bereits gewöhnliche Lohnarbeiter, die gegen Arbeitslohn für den Kapitalisten arbeiten, der über ein gewaltiges Kapital verfügt, riesige Werkstätten errichtet, große Mengen von Produktionsmitteln ankauft und den ganzen Gewinn dieser Massenproduktion der vereinigten Arbeiter einsteckt. Die Produktion ist kapitalistisch geworden und bedrückt schonungslos und unbarmherzig alle Kleinunternehmer, zerstört ihre Dorfansässigkeit und zwingt sie, als gewöhnliche Handlanger von einem Ende des Landes zum anderen zu wandern und ihre Arbeitskraft dem Kapital zu verkaufen. Ein immer größerer Teil der Bevölkerung wird vom Dorfe und von der Landwirtschaft endgültig losgerissen und sammelt sich in den Städten, in den Fabrik- und Industriedörfern und -flecken an, wo sie eine besondere Masse von Menschen bilden, die über keinerlei Eigentum verfügen, die Klasse der Lohnarbeiter, der Proletarier, die nur vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben.

Darin bestehen alle jene gewaltigen Veränderungen im Leben des Landes, welche die großen Fabriken und Betriebe herbeigeführt haben: die Kleinproduktion wird durch die Großproduktion ersetzt, die Kleinunternehmer werden in Lohnarbeiter verwandelt. Was bedeutet nun dieser Umschwung für das gesamte werktätige Volk, und wohin führt er? Davon handelt nun das Programm im Weiteren.

A. 2) Im Gefolge der Verdrängung der Kleinproduktion durch die Großproduktion treten an die Stelle der geringen Geldmittel des einzelnen Kleinunternehmens gewaltige Kapitalien, an die Stelle der kleinen, minimalen Gewinne die Millionengewinne. Daher führt die Entwicklung des Kapitalismus überall zu einer Zunahme des Luxus und des Reichtums. In Russland ist eine ganze Klasse großer Geldprotzen, Fabrikanten, Eisenbahnunternehmer, Kaufleute und Bankiers entstanden, hat sich eine ganze Klasse von Menschen gebildet, die von den Einkünften aus Geldkapitalien leben, die gegen Zinsen an Industrielle verliehen werden: bereichert haben sich die Großgrundbesitzer, die von den Bauern große Ablösungsgelder für den Boden erhalten haben, die den Landmangel der Bauern ausnützen, um die Preise für das in Pacht gegebene Land zu steigern, und auf ihren Gütern große Rübenzuckerfabriken und Spiritusbrennereien errichten. Der Luxus und die Verschwendung haben bei allen diesen Klassen der Reichen unerhörte Ausmaße erreicht, und in den Hauptstraßen der großen Städte sind ihre fürstlichen Paläste und prachtvollen Schlösser gebaut worden. Die Lage des Arbeiters dagegen verschlechterte sich mit der Entwicklung des Kapitalismus immer mehr. Hat sich der Verdienst nach der Befreiung der Bauern auch da und dort erhöht, so nur geringfügig und für eine kurze Zeit, da die aus dem Dorfe herein strömenden hungrigen Volksmassen auf die Löhne drückten, während die Nahrungsmittel und Bedarfsartikel andauernd teurer wurden, so dass der Arbeiter selbst bei erhöhtem Lohne weniger Lebensmittel erhielt. Arbeit zu finden, wurde immer schwerer, und neben den prachtvollen Palästen der Reichen (oder in den Vorstädten) wuchs die Zahl der elenden Hütten der Arbeiter, die gezwungen waren, in Kellern, in überfüllten, feuchten und kalten Mietsräumen, ja selbst in Erdhütten in der Nähe der neuen Industriebetriebe zu wohnen. Das anwachsende Kapital bedrückte die Arbeiter immer mehr, verwandelte sie in Bettler, zwang sie, ihre ganze Zeit der Fabrik zu widmen, und trieb auch ihre Frauen und Kinder zur Arbeit. Der erste Umschwung, den die Entwicklung des Kapitalismus zur Folge hat, besteht mithin darin, dass eine Handvoll Kapitalisten ungeheure Reichtümer anhäuft, während die Volksmassen zu Bettlern werden.

Der zweite Umschwung besteht darin, dass die Verdrängung der Kleinproduktion durch die Großproduktion viele Verbesserungen in der Produktion herbeigeführt hat. Vor allem ist an die Stelle der individuellen, in jeder kleinen Werkstatt abgesonderten, bei jedem Kleinunternehmer einzeln vollzogenen Arbeit die vereinte Arbeit zusammengefasster Arbeiter, die gemeinsame Arbeit der Werktätigen in einer Fabrik, bei einem Grundbesitzer, einem Bauunternehmer getreten. Vereinte Arbeit ist viel erfolgreicher (produktiver) als individuelle und gibt die Möglichkeit, die Waren weit leichter und schneller herzustellen. Allein bei allen diesen Verbesserungen gewinnt lediglich der Kapitalist, der die Arbeiter mit ihren eigenen Groschen bezahlt, sich selbst dagegen kostenlos den ganzen Vorteil aus der vereinten Tätigkeit der Arbeiter aneignet. Der Kapitalist wird somit noch stärker, der Arbeiter aber noch schwächer, da er sich an eine bestimmte Arbeit gewöhnt und es ihm schwerer wird, eine andere Arbeit auszuführen, die Beschäftigung zu wechseln.

Eine andere, weit wichtigere Vervollkommnung der Produktion bilden die vom Kapitalisten eingeführten Maschinen. Das Ergebnis der Arbeit erhöht sich durch die Verwendung von Maschinen um ein Vielfaches. Der Kapitalist nützt jedoch diese ganzen Vorteile gegen die Arbeiter aus. Den Umstand ausnützend, dass die Maschinen eine geringere physische Arbeit erfordern, lässt er sie durch Frauen und Kinder bedienen, denen er einen niedrigeren Lohn zahlt. Den weiteren Umstand ausnützend, dass Maschinen weit weniger Arbeiter erheischen, wirft er die Arbeiter massenweise auf die Straße und bedient sich dann dieser Arbeitslosigkeit, um den Arbeiter noch mehr zu versklaven, um den Arbeitstag zu verlängern, um dem Arbeiter die Nachtruhe zu rauben und ihn in ein Anhängsel der Maschine zu verwandeln. Die durch die Maschinen hervorgerufene und stets zunehmende Arbeitslosigkeit führt jetzt zur völligen Wehrlosigkeit des Arbeiters. Seine Handfertigkeit verliert ihren Wert, er wird leicht durch einen gewöhnlichen Handlanger ersetzt, der sich schnell an die Maschine gewöhnt und sich bereitwillig für einen geringeren Lohn einstellen lässt. Jeder Versuch, sich des zunehmenden Druckes des Kapitals zu erwehren, hat die Entlassung zur Folge. Als einzelner bleibt der Arbeiter gegenüber dem Kapital völlig machtlos, die Maschine droht ihn zu erdrücken.

A. 3) Wir haben in der Erläuterung zum vorhergehenden Punkte gezeigt, dass der Arbeiter als Einzelner gegenüber dem Kapitalisten, der Maschinen einführt, macht- und schutzlos ist. Der Arbeiter muss sich um jeden Preis nach Mitteln umsehen, dem Kapitalisten Widerstand zu leisten, sich zu verteidigen. Und ein derartiges Mittel findet er in der Vereinigung. Machtlos als einzelner, wird der Arbeiter durch die Vereinigung mit seinen Genossen zu einer Macht und erhält die Möglichkeit, gegen den Kapitalisten zu kämpfen und ihm Widerstand zu leisten.

Die Vereinigung wird für den Arbeiter, dem bereits das Großkapital gegenübersteht, zu einer Notwendigkeit. Allein, ist es denn möglich, Massen einander fremder, zusammengewürfelter, wenn auch in einer und derselben Fabrik arbeitender Elemente zu vereinigen? Das Programm nennt die Bedingungen, welche die Arbeiter zur Vereinigung reif machen und in ihnen die Fähigkeit und das Verständnis dafür entwickeln. Diese Bedingungen sind: 1. Der Großbetrieb mit maschineller Produktion, die eine beständige Arbeit während des ganzen Jahres erfordert, die Verbindung des Arbeiters mit dem Lande und mit der eigenen Wirtschaft gänzlich zerstört und ihn in einen Vollproletarier verwandelt. Die eigene Wirtschaft auf einem kleinen Landstück führte, zur Absonderung der Arbeiter, ließ jeden seinen besonderen Interessen nachgehen, die mit denen seines Nachbars nicht verbunden waren, und behinderte damit ihre Vereinigung. Die Lostrennung des Arbeiters vorn Lande beseitigt diese Hindernisse. 2. Ferner erzieht schon die gemeinsame Arbeit Hunderter und Tausender von Arbeitern an und für sich die Arbeiter zu gemeinschaftlicher Besprechung ihrer Nöte, zu gemeinschaftlichem Handeln, da sie ihnen die Gleichheit der Lage und der Interessen der ganzen Arbeitermasse vor Augen führt. 3. Endlich veranlasst das beständige Hin- und Herwerfen von Fabrik zu Fabrik die Arbeiter, die Verhältnisse und Zustände in den verschiedenen Fabriken gegeneinander zu halten, sie miteinander zu vergleichen, sich von der Gleichheit der Ausbeutung in allen Fabriken zu überzeugen, die Erfahrung anderer Arbeiter in ihren Konflikten mit den Kapitalisten auszunützen, und fördert damit den Zusammenschluss, die Solidarität der Arbeiter. Die Gesamtheit dieser Bedingungen führte nun dazu, dass das Aufkommen der großen Fabriken und Betriebe auch die Vereinigung der Arbeiter hervorrief. Unter den russischen Arbeitern findet diese Vereinigung ihren häufigsten und stärksten Ausdruck in den Streiks (wir werden weiter unten davon sprechen, warum unseren Arbeitern die Vereinigung in der Form von Gewerkschaften oder Versicherungskassen unmöglich ist). Je mehr sich die Großbetriebe entwickeln, desto zahlreicher, stärker und hartnäckiger werden die Streiks der Arbeiter; denn je stärker der Druck des Kapitalismus wird, desto notwendiger wird auch der gemeinschaftliche Widerstand der Arbeiter. Die Streiks und Einzelaufstände der Arbeiter bilden, wie es im Programm heißt, in den russischen Fabriken gegenwärtig eine ganz allgemeine Erscheinung. Mit der weiteren Entwicklung des Kapitalismus und der Zunahme der Häufigkeit der Streiks erweisen sich diese jedoch als ungenügend. Die Fabrikanten begegnen ihnen durch gemeinsame Maßnahmen; sie verbinden sich, werben Arbeiter aus anderen Orten an, wenden sich um Unterstützung an die Staatsmacht, die ihnen hilft, den Widerstand der Arbeiter zu brechen. Den Arbeitern steht nun nicht mehr allein der einzelne Fabrikant jeder einzelnen Fabrik, sondern bereits die ganze Klasse der Kapitalisten samt der sie unterstützenden Regierung gegenüber. Die ganze Kapitalistenklasse nimmt den Kampf gegen die gesamte Arbeiterklasse auf und sucht gemeinsame Maßnahmen gegen die Streiks zu treffen, indem sie von der Regierung die Einführung von Gesetzen gegen die Arbeiter fordert, die Fabriken und Betriebe in abgelegene Gegenden verlegt sowie zur Vergebung von Arbeiten an Heimarbeiter und zu tausenderlei anderen Schlichen und Kniffen gegenüber den Arbeitern ihre Zuflucht nimmt. Die Vereinigung der Arbeiter einer einzelnen Fabrik, selbst eines einzelnen Industriezweiges erweist sich als ungenügend zum Widerstand gegen die ganze Kapitalistenklasse. Die vereinte Aktion der gesamten Arbeiterklasse wird zu einer unbedingten Notwendigkeit. So entwickelt sich aus den Einzelaufständen der Arbeiter der Kampf der gesamten Arbeiterklasse. Der Kampf der Arbeiter gegen die Fabrikanten wird zum Klassenkampf. Alle Fabrikanten vereinigt ein Interesse: die Arbeiter niederzuhalten und ihnen einen möglichst geringen Arbeitslohn zu zahlen. Und die Fabrikanten erkennen, dass sie ihre Sache nicht anders verteidigen können als durch gemeinsames Handeln der ganzen Fabrikantenklasse und durch Gewinnung eines entsprechenden Einflusses auf die Staatsmacht. Die Arbeiter sind genau ebenso durch ein gemeinsames Interesse verbunden: sich vom Kapital nicht unterdrücken zu lassen, ihr Existenzrecht und ihre Ansprüche auf ein menschenwürdiges Dasein zu verteidigen. Die Arbeiter überzeugen sich genau ebenso davon, dass auch für sie die Vereinigung, das vereinte Handeln der ganzen Klasse – der Arbeiterklasse – und die Gewinnung von Einfluss auf die Staatsmacht erforderlich sind.

A. 4. Wir haben erläutert, auf welche Weise und weshalb der Kampf der Fabrikarbeiter gegen die Fabrikanten zum Klassenkampf wird, zum Kampf der Arbeiterklasse, der Proletarier gegen die Klasse der Kapitalisten, die Bourgeoisie. Welche Bedeutung besitzt nun dieser Kampf für das gesamte Volk und alle Werktätigen? Unter den gegenwärtigen Verhältnissen, von denen wir bereits bei der Erläuterung des 1. Punktes sprachen, verdrängt die mit Hilfe von Lohnarbeitern betriebene Produktion die Kleinproduktion immer mehr. Die Anzahl der Menschen, die von Lohnarbeit leben, steigt rasch, und es erhöht sich nicht nur die Anzahl der ständigen Fabrikarbeiter, sondern noch mehr die Anzahl der Bauern, die, um sich zu ernähren, ebenfalls Lohnarbeit suchen müssen. Gegenwärtig bildet die Lohnarbeit, die Arbeit für den Kapitalisten, bereits die am meisten verbreitete Form der Arbeit. Die Herrschaft des Kapitals über die Arbeit hat nicht nur in der Industrie, sondern auch in der Landwirtschaft die Masse der Bevölkerung erfasst. Und eben diese der modernen Gesellschaft zugrunde liegende Ausbeutung der Lohnarbeit bringen die Großbetriebe zur höchsten Entwicklung. Alle Ausbeutungsmethoden, die von sämtlichen Kapitalisten in sämtlichen Industriezweigen angewandt werden und unter denen die ganze Masse der arbeitenden Bevölkerung Russlands leidet, finden hier, in der Fabrik, ihre Zusammenfassung, werden hier verschärft, werden zur ständigen Einrichtung, erstrecken sich hier auf alle Seiten der Arbeitstätigkeit und des Daseins des Arbeiters und bilden ein ganzes Regime, ein ganzes System der Aussaugung der Arbeiter durch den Kapitalisten. Wir wollen das durch ein Beispiel erläutern. Jeder, der sich wo immer zur Arbeit verdingt, stellt an den für seine Gegend üblichen Feiertagen die Arbeit ein und ruht sich aus. Ganz anders in der Fabrik: die Fabrik, die einen Arbeiter einstellt, verfügt über ihn nach eigenem Ermessen, ohne jede Rücksicht auf die Gepflogenheiten des Arbeiters, auf seine gewohnte Lebensführung, seine Familienverhältnisse und seine geistigen Bedürfnisse. Die Fabrik treibt ihn zur Arbeit, wann es ihr notwendig erscheint, zwingt ihn, sein ganzes Leben ihren Bedürfnissen anzupassen, seine Ruhezeit aufzuteilen und bei Schichtarbeit sowohl nachts als auch an Feiertagen zu arbeiten. Alle nur denkbaren Missbräuche bei der Regelung der Arbeitszeit sind in der Fabrik gang und gäbe, während sie gleichzeitig ihre „Regeln“ und ihre „Ordnung“ einführt, denen jeder Arbeiter unterworfen ist. Die Fabrikordnung verfolgt bewusst das Ziel, aus dem eingestellten Arbeiter alle Arbeit, deren er fähig ist, herauszupressen, dies so schnell wie möglich zu tun und ihn dann hinauszuwerfen! Ein anderes Beispiel. Jeder, der sich als Arbeiter verdingt, verpflichtet sich natürlich, dem Besitzer zu gehorchen und auszuführen, was ihm befohlen wird. Aber wenn der sich Verdingende sich verpflichtet, zeitweilig eine Arbeit zu verrichten, so verzichtet er damit keineswegs auf seinen eigenen Willen. Erscheint ihm eine Forderung des Unternehmers als ungerechtfertigt oder übertrieben, so verlässt er ihn. Die Fabrik dagegen fordert, dass der Arbeiter auf seinen eigenen Willen vollständig verzichte; sie schafft eine bestimmte Disziplin, zwingt den Arbeiter, die Arbeit mit dem Glockenschlag zu beginnen und beendigen, nimmt sich das Recht, den Arbeiter selbst zu bestrafen und für jede Verletzung der von ihr selbst geschaffenen Fabrikordnung über ihn Geldbußen oder Lohnabzug zu verhängen. Der Arbeiter verwandelt sich in einen Teil eines gewaltigen maschinellen Apparates; er soll allen Widerstandes und jedes eigenen Willens beraubt und versklavt, soll zur Maschine werden.

Endlich ein drittes Beispiel. Jeder, der sich als Arbeiter verdingt, ist sehr häufig mit dem Unternehmer unzufrieden und wendet sich mit einer Beschwerde gegen ihn ans Gericht oder an die Behörde. Sowohl die Behörde als auch das Gericht entscheiden nun den Konflikt gewöhnlich zugunsten des Unternehmers und stellen sich auf seine Seite. Diese Nachsicht gegenüber den Unternehmerinteressen stützt sich indessen nicht etwa auf eine allgemeine Regel oder auf ein Gesetz, sondern auf die Dienstfertigkeit der einzelnen Beamten, die in der Verteidigung der Unternehmerinteressen das eine Mal mehr, das andere Mal weniger eifrig sind und die Angelegenheit entweder aus Gründen freundschaftlicher Verbundenheit mit dem Unternehmer, oder aus Unkenntnis der Arbeitsverhältnisse, oder endlich aus Unvermögen, den Arbeiter zu verstehen, ungerechterweise zugunsten des Unternehmers entscheiden. Jeder einzelne Fall solcher Ungerechtigkeit hängt von jedem einzelnen Konflikt des Arbeiters mit dem Unternehmer, von jedem einzelnen Beamten ab. Die Fabrik vereinigt jedoch eine solche Masse von Arbeitern und bedrückt sie in einem solchen Maße, dass die Untersuchung jedes einzelnen Falles unmöglich wird. Es werden allgemeine Regeln geschaffen, es wird ein Gesetz über das Verhältnis der Arbeiter zu den Fabrikanten ausgearbeitet, ein Gesetz, das für alle bindend ist, und in diesem Gesetz wird die Förderung der Interessen des Unternehmers nun mehr durch die Staatsmacht festgelegt. An die Stelle der Ungerechtigkeit einzelner Beamten tritt nun die Ungerechtigkeit des Gesetzes selbst. Es erscheinen z. B. Verordnungen, denen zufolge der Arbeiter bei Arbeitsversäumnis nicht nur den Lohn verliert, sondern auch noch eine Buße zu entrichten hat, während der Unternehmer, der den Arbeiter entlässt, diesem nichts zahlt; ferner kann der Unternehmer nach dieser Verordnung den Arbeiter wegen Grobheit entlassen, während der Arbeiter bei gleichem Anlass den Unternehmer nicht verlassen kann; schließlich erhält der Unternehmer das Recht, Bußen zu verhängen, Lohnabzüge vorzunehmen oder Überstundenarbeit zu fordern, und dergl. mehr.

Alle diese Beispiele zeigen uns, wie die Fabrik die Ausbeutung der Arbeiter verschärft und diese Ausbeutung allgemein macht, sie in eine förmliche „Ordnung“ verwandelt. So hat es nun der Arbeiter, ob er will oder nicht, nicht mehr mit dem einzelnen Unternehmer, seinem Willen und der Unterdrückung durch ihn zu tun, sondern mit der Willkür und dem Unterdrückungssystem der ganzen Unternehmerklasse. Der Arbeiter erkennt, dass seine Unterdrückung nicht irgend einem einzelnen Kapitalisten zuzuschreiben, sondern das Werk der ganzen Kapitalistenklasse ist, weil in allen Unternehmungen dieselbe Ordnung der Ausbeutung herrscht. Der einzelne Kapitalist kann sogar von dieser Ordnung gar nicht abweichen. Wenn er beispielsweise versuchte, die Arbeitszeit zu verkürzen, so würden ihn die Waren teurer zu stehen kommen als seinen Nachbar, den anderen Fabrikanten, der den Arbeiter bei gleichem Lohn länger zu arbeiten zwingt. Will der Arbeiter seine Lage verbessern, so hat er es nunmehr mit einem die Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital bezweckenden ganzen gesellschaftlichen System zu tun. Dem Arbeiter steht nun nicht mehr die einzelne Ungerechtigkeit irgend eines Beamten gegenüber, sondern bereits die Ungerechtigkeit der Staatsgewalt selbst, welche die gesamte Kapitalistenklasse in Schutz nimmt und zugunsten dieser Klasse allgemein verbindliche Gesetze herausgibt. So verwandelt sich der Kampf der Fabrikarbeiter gegen die Fabrikanten unvermeidlich in einen Kampf gegen die ganze Kapitalistenklasse, gegen die gesamte auf der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital beruhende Gesellschaftsordnung. Darum erhält auch der Kampf der Arbeiter eine soziale Bedeutung, er wird zu einem Kampf der Werktätigen als solcher gegen alle von fremder Arbeit lebenden Klassen. Der Kampf der Arbeiter eröffnet damit eine neue Epoche der russischen Geschichte und erscheint als die Morgenröte der Befreiung der Arbeiter.

Worauf stützt sich nun aber die Herrschaft der Kapitalistenklasse über die ganze Masse des arbeitenden Volkes? Auf den Umstand, dass sich in den Händen der Kapitalisten als ihr Privateigentum alle Fabriken, Betriebe, Bergwerke, Maschinen und Arbeitswerkzeuge befinden, dass sie über gewaltige Landflächen verfügen (vom gesamten Grund und Boden des Europäischen Russland gehört mehr als ein Drittel den Grundherren, deren Zahl weniger als eine halbe Million beträgt). Die Arbeiter, die selbst weder Arbeitsmittel noch Rohstoffe besitzen, müssen ihre Arbeitskraft den Kapitalisten verkaufen, die den Arbeitern nur so viel bezahlen, als ihr Lebensunterhalt erfordert, und den ganzen durch die Arbeit geschaffenen Überschuss einstecken. Sie bezahlen somit nur einen Teil der von den Arbeitern aufgewandten Arbeitszeit und eignen sich den Rest an. Der ganze Zuwachs an Reichtum, der durch die vereinigte Arbeit einer Masse von Arbeitern oder durch die Verbesserung der Produktion zustande kommt, fällt somit der Kapitalistenklasse zu, und die von Generation zu Generation schaffenden Arbeiter verbleiben in der Lage besitzloser Proletarier. Es gibt daher nur ein Mittel, der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital ein Ende zu setzen: die Beseitigung des Privateigentums an den Arbeitsmitteln, die Überführung aller Fabriken, Betriebe, Bergwerke, desgleichen aller großen Landgüter in den Besitz der gesamten Gesellschaft und die gemeinsame, von den Arbeitern selbst geleitete sozialistische Produktion. Die durch gemeinsame Arbeit erzeugten Produkte werden dann zum Nutzen der Werktätigen selbst verwendet werden, während der von ihnen über die Kosten ihres Unterhalts hinaus erzeugte Überschuss zur Befriedigung der Bedürfnisse der Arbeiter selbst, zur vollen Entwicklung aller ihrer Fähigkeiten und zur gleichberechtigten Teilnahme an allen Errungenschaften der Wissenschaft und Kunst dienen wird. Daher heißt es auch im Programm, dass der Kampf der Arbeiterklasse gegen die Kapitalisten erst damit seinen Abschluss findet. Allein das erfordert, dass die politische Macht, d. h. die Regierungsmacht, aus den Händen einer Regierung, die sich unter dem Einfluss der Kapitalisten und Grundherren befindet, oder aus den Händen einer Regierung, die sich unmittelbar aus gewählten Vertretern der Kapitalisten zusammensetzt, in die Hände der Arbeiterklasse übergeht.

Das ist das Endziel des Kampfes der Arbeiterklasse, das ist die Voraussetzung ihrer vollständigen Befreiung. Diesem Endziel haben die klassenbewussten, vereinigten Arbeiter zuzustreben. Bei uns in Russland stoßen sie jedoch noch auf gewaltige Hindernisse, die sich ihrem Befreiungskampf in den Weg stellen.

A. 5. Den Kampf gegen die Herrschaft der Kapitalistenklasse führen gegenwärtig bereits die Arbeiter aller europäischen Länder, desgleichen die Arbeiter Amerikas und Australiens. Die Vereinigung und der Zusammenschluss der Arbeiterklasse beschränken sich nicht auf ein Land oder eine Nationalität: die Arbeiterparteien der verschiedenen Länder verkünden laut die völlige Gleichheit (Solidarität) der Interessen und Ziele der Arbeiter der ganzen Welt. Sie versammeln sich auf gemeinsamen Kongressen, richten gemeinsame Forderungen an die Kapitalistenklasse aller Länder, bestimmen einen internationalen Feiertag für das gesamte, vereinigte, seine Befreiung erstrebende Proletariat (den 1. Mai) und fassen die Arbeiterklasse aller Nationalitäten und aller Länder zu einer großen Arbeiterarmee zusammen. Diese Vereinigung der Arbeiter wird dadurch zur Notwendigkeit, dass die die Arbeiter beherrschende Kapitalistenklasse ihre Herrschaft nicht auf ein Land beschränkt. Die Handelsbeziehungen zwischen den verschiedenen Ländern werden immer inniger und ausgedehnter; das Kapital wandert beständig aus einem Lande in das andere; die Banken, diese gewaltigen Lager von Kapitalien, die das Kapital von überall herholen und als Darlehen an die Kapitalisten verteilen, werden aus nationalen zu internationalen Banken, sammeln die Kapitalien aller Länder und verteilen sie an die Kapitalisten Europas und Amerikas. Schon werden gewaltige Aktiengesellschaften zur Errichtung kapitalistischer Unternehmen nicht mehr bloß in einem Lande, sondern zugleich in mehreren Ländern gegründet; es entstehen internationale Gesellschaften der Kapitalisten. Die Herrschaft des Kapitals ist international. Darum ist auch der Befreiungskampf der Arbeiter aller Länder nur dann erfolgreich, wenn er ein gemeinsamer Kampf der Arbeiter gegen das internationale Kapital ist. Darum sind sowohl der deutsche als auch der polnische und der französische Arbeiter die Bundesgenossen des russischen Arbeiters im Kampfe gegen die Kapitalistenklasse, wie andererseits sowohl die russischen als auch die polnischen und die französischen Kapitalisten seine Feinde sind. So überführen in der letzten Zeit die ausländischen Kapitalisten ihre Kapitalien besonders gern nach Russland, errichten hier Filialen ihrer Fabriken und Betriebe und gründen Gesellschaften zur Errichtung neuer Unternehmen in Russland. Sie stürzen sich gierig auf das junge Land, in welchem die Regierung gegenüber dem Kapital so wohlwollend und diensteifrig ist wie nirgends sonst, in welchem sie in geringerem Maße vereinigte, zum Widerstand weniger fähige Arbeiter finden als in Westeuropa und in welchem das Lebensniveau der Arbeiter und daher auch ihre Arbeitslöhne weit niedriger sind, so dass die ausländischen Kapitalisten gewaltige, verglichen mit ihren heimischen Verhältnissen unerhörte Gewinne einstecken können. Das internationale Kapital hat seine Hand bereits auch nach Russland ausgestreckt. Die russischen Arbeiter strecken ihre Hände der internationalen Arbeiterbewegung entgegen.

A. 6. Wir haben bereits davon gesprochen, wie die großen Fabriken den Druck des Kapitals auf die Arbeit bis zum Äußersten steigern, wie sie ein ganzes System von Ausbeutungsmethoden schaffen, wie die sich gegen das Kapital erhebenden Arbeiter unvermeidlich die Notwendigkeit der Vereinigung aller.Arbeiter, die Notwendigkeit eines gemeinsamen Kampfes der ganzen Arbeiterklasse erkennen. In diesem Kampfe gegen die Kapitalistenklasse geraten die Arbeiter in Konflikt mit den allgemeinen Staatsgesetzen, die die Kapitalisten und ihre Interessen beschützen.

Aber wenn die sich vereinigenden Arbeiter imstande sind, die Kapitalisten zu Zugeständnissen zu zwingen und ihnen Widerstand zu leisten, so könnten die Arbeiter durch ihre Vereinigung doch genau ebenso die Staatsgesetze beeinflussen und ihre Änderung erreichen. Das tun auch die Arbeiter aller anderen Länder, aber die russischen Arbeiter vermögen keinen direkten Einfluss auf den Staat auszuüben. Die Arbeiter Russlands sind der elementarsten Bürgerrechte beraubt. Es ist ihnen untersagt, sich zu versammeln, ihre Angelegenheiten gemeinsam zu beraten, Vereine zu gründen, eigene Erklärungen zu drucken. Mit andern Worten: die Staatsgesetze sind nicht nur im Interesse der Kapitalistenklasse verfasst, sondern berauben die Arbeiter direkt jeder Möglichkeit, diese Gesetze zu beeinflussen und ihre Änderung zu erreichen. Das rührt daher, dass sich in Russland (und unter allen europäischen Staaten allein in Russland) auch heute noch die unbeschränkte Macht der absolutistischen Regierung aufrecht erhält, d. h. einer Staatsordnung, bei welcher der Zar allein die für das ganze Volk bindenden Gesetze nach eigenem Ermessen erlassen kann und nur die von ihm ernannten Beamten die Befolgung dieser Gesetze überwachen können. Die Staatsbürger sind von jeder Teilnahme an der Herausgabe und an der Beratung der Gesetze, am Vorschlägen neuer Gesetze und an der Forderung nach Aufhebung aller Gesetze ausgeschlossen. Sie sind jedes Rechtes beraubt, von den Beamten Rechenschaft zu fordern, ihre Handlungen zu überprüfen oder sie gerichtlich zu belangen. Sie entbehren sogar des Rechtes, staatliche Angelegenheiten zu behandeln: es ist ihnen untersagt, ohne Erlaubnis derselben Beamten Versammlungen zu veranstalten oder Vereine zu gründen. Die Beamten sind mithin im vollen Sinne des Wortes frei von jeder Verantwortung; sie bilden sozusagen eine besondere, über der Bevölkerung stehende Kaste. Die Verantwortungslosigkeit, die Willkür der Beamten und die völlige Unterdrückung der Stimme der Bevölkerung erzeugen derart schreiende Missbräuche der Beamtengewalt und derartige Verletzungen der Rechte der Volksmassen, wie es wohl in keinem Lande Europas möglich ist.

Laut Gesetz erscheint somit die Gewalt der russischen Regierung als völlig uneingeschränkt, sie wird gewissermaßen als vom Volke völlig unabhängig, über allen Ständen und Klassen stehend betrachtet. Allein, wenn dem tatsächlich so ist, warum ergreifen dann sowohl das Gesetz als auch die Regierung in allen Konflikten der Arbeiter mit den Kapitalisten die Partei der Kapitalisten? Warum erhalten dann die Kapitalisten in dem Maße, wie ihre Zahl und ihr Reichtum zunehmen, eine immer stärkere Unterstützung, während die Arbeiter auf zunehmenden Widerstand und zunehmende Unterdrückung stoßen?

In Wirklichkeit steht die Regierung nicht über den Klassen, sondern nimmt die eine Klasse gegen die andere in Schulz, schützt die Klasse der Besitzenden gegen die Nichtbesitzenden, die Kapitalisten gegen die Arbeiter. Die absolutistische Regierung würde auch einen so gewaltigen Staat überhaupt nicht leiten können, wenn sie den besitzenden Klassen nicht allerhand Vergünstigungen gewährte und ihnen gegenüber nicht jedwede Nachsicht übte.

Obwohl die Regierung laut Gesetz eine unumschränkte und unabhängige Gewalt darstellt, verfügen die Kapitalisten und Grundbesitzer in Wirklichkeit über tausende Arten der Beeinflussung der Regierung und der Staatsgeschäfte. Sie besitzen ihre eigenen, vom Gesetz anerkannten Ständeinstitutionen, Adels- und Kaufleutevereine, Handels- und Manufakturkomitees usw. Ihre gewählten Vertreter werden entweder direkt zu Beamten und beteiligen sich an der Verwaltung des Staates (z. B. die Adelsmarschälle) oder werden zu Mitgliedern sämtlicher Regierungsinstitutionen, wie z. B. die Fabrikanten, die laut Gesetz in den Fabrikaufsichtsrat (das ist die der Fabrikinspektion vorgesetzte Behörde) ihre eigenen Vertreter wählen. Sie beschränken sich jedoch nicht auf diese unmittelbare Teilnahme an der Verwaltung des Staates. In ihren Körperschaften beraten sie die Staatsgesetze und arbeiten Gesetzentwürfe aus; die Regierung ihrerseits holt bei jeder Gelegenheit ihre Meinung ein, legt ihnen diesen oder jenen Gesetzentwurf vor und ersucht sie, hierzu Vorschläge zu machen.

Die Kapitalisten und die Grundherren veranstalten allrussische Kongresse, auf denen sie über ihre Angelegenheiten beraten, verschiedene Maßnahmen zum Wohle ihrer Klasse ausdenken und im Namen des Gutsbesitzeradels und der „allrussischen Kaufmannschaft“ Gesuche um Erlass neuer Gesetze oder Abänderung alter verfassen. Sie können ihre Angelegenheiten in den Zeitungen behandeln, denn so sehr die Regierung die Rechte der Presse durch ihre Zensur einschränkt, so darf sie doch nicht einmal daran denken, die besitzenden Klassen des Rechts zu berauben, ihre Angelegenheiten zu behandeln. Sie verfügen über allerhand Schliche und Wege, um vor die höchsten Regierungsstellen zu gelangen, können leichter die Willkür der unteren Beamten besprechen und leicht die Aufhebung sie besonders behindernder Gesetze und Verordnungen erzielen. Und gibt es auch in keinem Lande der Welt eine solche Unzahl von Gesetzen und Verordnungen, eine so beispiellose polizeiliche Bevormundung durch die Regierung, die jedweden Kleinkram vorsieht und jede wahrhaft lebendige Betätigung erstickt, so werden anderseits auch in keinem Lande der Welt dieselben bürgerlichen Verordnungen so leicht verletzt und dieselben Polizeigesetze auf dem Wege einer einfachen gnadenweisen, obrigkeitlichen Genehmigung so leicht umgangen. Und eine solche gnadenweise Genehmigung wird niemals verweigert.

B. 1. Dieser Punkt des Programms ist der wichtigste, hauptsächlichste, weil er zeigt, worin die Tätigkeit der die Interessen der Arbeiterklasse vertretenden Partei und die Tätigkeit aller klassenbewussten Arbeiter zu bestehen hat. Er zeigt, auf welche Weise das Streben zum Sozialismus, das Streben nach der Beseitigung der ewigen Ausbeutung des Menschen durch den Menschen mit jener Volksbewegung zu vereinigen ist, die auf der Grundlage der durch die großen Fabriken und Betriebe geschaffenen Lebensverhältnisse entsteht.

Die Tätigkeit der Partei hat in der Unterstützung des Klassenkampfes der Arbeiter zu bestehen. Die Aufgabe der Partei besteht nicht im Ausklügeln irgendwelcher neumodischer Mittel der Hilfe für die Arbeiter, sondern darin, den Anschluss an die Arbeiterbewegung zu finden, Licht in sie zu bringen und den Arbeitern in dem Kampfe, den sie selbst schon begonnen haben, zu helfen. Die Aufgabe der Partei besteht im Schutze der Arbeiterinteressen und in der Vertretung der Interessen der gesamten Arbeiterbewegung. Worin soll nun die Unterstützung des Kampfes der Arbeiter ihren Ausdruck finden?

Das Programm sagt, dass diese Hilfe erstens in der Entwicklung des Klassenbewusstseins der Arbeiter bestehen muss. Wie der Kampf der Arbeiter gegen die Unternehmer zum Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie wird, davon haben wir bereits gesprochen.

Aus dem, was wir darüber ausgeführt haben, geht hervor, was unter dem Klassenbewusstsein der Arbeiter zu verstehen ist. Das Klassenbewusstsein der Arbeiter ist die Erkenntnis der Arbeiter, dass das einzige Mittel zur Verbesserung ihrer Lage und zu ihrer Befreiung der Kampf gegen die Klasse der Kapitalisten und Unternehmer ist, die der Großbetrieb geschaffen hat. Sodann bedeutet das Klassenbewusstsein der Arbeiter die Erkenntnis, dass alle Arbeiter eines gegebenen Landes die gleichen Interessen besitzen, dass sie solidarisch sind, dass sie eine einheitliche Klasse darstellen, die sich von allen übrigen Gesellschaftsklassen unterscheidet. Schließlich bedeutet das Klassenbewusstsein der Arbeiter die Erkenntnis der Arbeiter, dass sie zur Erreichung ihrer Ziele Einfluss auf die Staatsgeschäfte gewinnen müssen, wie ihn die Grundbesitzer und die Kapitalisten bereits gewonnen haben und noch weiter gewinnen.

Wie eignen sich nun die Arbeiter alle diese Erkenntnisse an? Die Arbeiter schöpfen sie andauernd aus demselben Kampfe, den sie gegen die Fabrikanten zu führen beginnen, der sich ständig erweitert, verschärft und von dem im Maße der Zunahme der Großbetriebe eine ständig wachsende Anzahl von Arbeitern erfasst wird. Es gab eine Zeit, da die Feindschaft der Arbeiter gegen das Kapital lediglich in einem dumpfen Hassgefühl gegen ihre Ausbeuter, in einem unklaren Bewusstsein ihrer Unterdrückung und Versklavung und in dem Wunsche zum Ausdruck kam, sich an den Kapitalisten zu rächen. Der Kampf äußerte sich damals in einzelnen Aufständen der Arbeiter, welche Fabrikgebäude zerstörten, Maschinen demolierten, ihre Vorgesetzten in der Fabrik verprügelten usw. Das war die erste, die ursprüngliche Form der Arbeiterbewegung. Sie war ein notwendiges Stadium, weil der Hass gegen den Kapitalisten stets und überall der erste Anstoß war, der bei den Arbeitern das Streben nach Selbstverteidigung erweckte. Allein, diesem Anfangsstadium ist die russische Arbeiterbewegung bereits entwachsen. An die Stelle des dumpfen Hasses der Arbeiter gegen den Kapitalisten ist bereits die Erkenntnis der Unvereinbarkeit der Interessen der Arbeiterklasse mit jenen der Kapitalistenklasse, an die Stelle des unklaren Gefühls des Unterdrücktseins ist das Verständnis für die Mittel und die Art des kapitalistischen Druckes getreten. Die Arbeiter erheben sich gegen diese oder jene Art der Unterdrückung, setzen dem Druck des Kapitals gewisse Schranken und widersetzen sich der Habgier der Kapitalisten. Statt an den Kapitalisten Rache zu üben, gehen sie zum Kampfe für Zugeständnisse über und beginnen an die Kapitalistenklasse fortdauernd Forderungen zu stellen; sie fordern Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Erhöhung des Arbeitslohnes, Einhaltung der Arbeitszeit. Jeder Streik konzentriert die gesamte Aufmerksamkeit und alle Anstrengungen der Arbeiter bald auf die eine, bald auf die andere Seite der Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse. Jeder Streik ruft eine Besprechung dieser Verhältnisse hervor, erleichtert es den Arbeitern, dieselben richtig einzuschätzen und sich darüber klar zu werden, worin im gegebenen Fall der Druck des Kapitals besteht und mit welchen Mitteln dieser Druck bekämpft werden kann. Jeder Streik bereichert die Erfahrung der gesamten Arbeiterklasse. Ist der Streik erfolgreich, so zeigt er die Macht der Vereinigung der Arbeiter und regt die anderen Arbeiter an, den Erfolg ihrer Genossen zu verwerten. Ist er erfolglos, so fuhrt er zu einer Besprechung der Ursachen des Misserfolges und zum Suchen nach besseren Kampfmethoden. In diesem, gegenwärtig überall in Russland einsetzenden Übergang der Arbeiter zu einem hartnäckigen Kampfe für die Befriedigung ihrer dringendsten Bedürfnisse, zu einem Kampfe für Zugeständnisse, für bessere Lebensbedingungen, um Arbeitslohn und Arbeitszeit liegt ein gewaltiger Fortschritt der russischen Arbeiterbewegung. Auf diesen Kampf und seine Unterstützung haben daher die sozialdemokratische Partei und alle klassenbewussten Arbeiter ihr Hauptaugenmerk zu richten. Die Unterstützung der Arbeiter hat in der Darstellung jener dringendsten Bedürfnisse zu bestehen, für deren Befriedigung der Kampf geführt werden soll, in der Aufhellung jener Ursachen, welche die Lage dieser oder jener Arbeiter besonders verschlechtern, und in der Erläuterung jener Fabrikgesetze und Verordnungen, deren Verletzung (neben den betrügerischen Kniffen der Kapitalisten) die Arbeiter so oft doppelt beraubt. Die Unterstützung soll darin bestehen, die Forderungen der Arbeiter möglichst präzis und bestimmt zu formulieren und sie vor der Öffentlichkeit aufzustellen, den geeignetsten Augenblick zur Widerstandsleistung zu wählen, die Kampfmethode auszusuchen, die Lage und die Kräfte beider kämpfenden Lager zu prüfen und zu untersuchen, ob nicht eine noch bessere Art des Kampfes ausfindig zu machen wäre (möglicherweise, je nach den Umständen, in der Form eines Briefes an den Fabrikanten oder einer Berufung an den Inspektor oder an den Arzt, sofern nicht unmittelbar zum Streik gegriffen werden kann, usw.).

Wir sagten, der Übergang der russischen Arbeiter zu dieser Kampfesweise zeuge von einem gewaltigen Fortschritt. Dieser Kampf leitet die Arbeiterbewegung ins richtige Geleise und bildet eine sichere Bürgschaft für ihren weiteren Erfolg. In diesem Kampfe lernen die Massen des arbeitenden Volkes, erstens die verschiedenen Methoden der kapitalistischen Ausbeutung zu erkennen und zu unterscheiden und sie sowohl mit den Gesetzen als auch mit den eigenen Lebensbedürfnissen und mit den Interessen der Kapitalistenklasse in Zusammenhang zu bringen. Indem sie die einzelnen Formen und Fälle der Ausbeutung analysieren, lernen die Arbeiter die Bedeutung und das Wesen der Ausbeutung als Ganzes verstehen, lernen sie die auf der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital beruhende gesellschaftliche Ordnung verstehen. Zweitens prüfen die Arbeiter in diesem Kampfe ihre Kräfte, lernen es, sich zu vereinigen und die Notwendigkeit und Bedeutung dieser Vereinigung einzusehen. Die Erweiterung dieses Kampfes und die Zunahme der Zusammenstöße führen unvermeidlich zur Entwicklung des Gefühls der Zusammengehörigkeit, des Gefühls der Solidarität, zunächst unter den Arbeitern einer bestimmten Gegend, sodann unter den Arbeitern des ganzen Landes innerhalb der gesamten Arbeiterklasse. Drittens entwickelt dieser Kampf das politische Bewusstsein der Arbeiter. Die Masse des arbeitenden Volkes hat infolge ihrer Lebenslage weder die Zeit noch die Möglichkeit, über irgendwelche staatliche Fragen nachzudenken. Allein, der Kampf der Arbeiter gegen die Unternehmer für die Befriedigung ihrer Tagesbedürfnisse treibt die Arbeiter von selbst und unvermeidlich zur Beurteilung staatlicher, politischer Fragen, der Frage, wie der russische Staat regiert wird, wie die Gesetze und Verordnungen erlassen werden und wessen Interessen sie dienen. Jeder Konflikt in der Fabrik bringt die Arbeiter unvermeidlich auch mit den Gesetzen und den Vertretern der Staatsgewalt in Konflikt. Die Arbeiter hören dabei zum ersten Male „politische Reden“, zunächst beispielsweise Reden der Fabrikinspektoren, die ihnen erklären, dass die Schliche, mit deren Hilfe der Fabrikant sie auspresst, genau dem Sinne der Verordnungen entsprechen, die von den zuständigen Gewalten sanktioniert sind und es der Willkür des Fabrikanten anheimstellen, die Arbeiter beliebig zu unterdrücken, oder dass die Bedrückungen durch den Fabrikanten durchaus berechtigt seien, da der Fabrikant lediglich von seinem Rechte Gebrauch mache, sich auf dieses oder jenes Gesetz stütze, das von der Staatsgewalt sanktioniert ist, und unter deren Schutz stehe. Auf die politischen Erläuterungen der Herrn Inspektoren folgen zuweilen noch nützlichere „politische Aufklärungen“ des Herrn Ministers, der die Arbeiter an die Gefühle der „christlichen Liebe“ erinnert, zu der sie gegenüber den Fabrikanten dafür verpflichtet seien, dass dieselben auf Kosten der Arbeit der Arbeiter Millionen einstecken. Zu diesen Belehrungen der Vertreter der Staatsgewalt und der unmittelbaren Erfahrung der Arbeiter, die ihnen zeigt, wessen Interessen diese Gewalt vertritt, kommen noch Flugblätter oder sonstige Aufklärungsschriften der Sozialisten, sodass die Arbeiter bei einem solchen Streik schon ihre politische Erziehung erhalten. Sie lernen nicht nur die besonderen Interessen der Arbeiterklasse, sondern auch jene besondere Stellung verstehen, welche die Arbeiterklasse im Staate einnimmt. Die Unterstützung, die die sozialdemokratische Partei dem Klassenkampf der Arbeiter erweisen kann, hat somit in der Entwicklung des Klassenbewusstseins der Arbeiter durch die Förderung ihres Kampfes für die Befriedigung ihrer dringendsten Lebensbedürfnisse zu bestehen.

Zweitens hat diese Unterstützung, wie es im Programm heißt, in der Förderung der Organisation der Arbeiter zu bestehen. Der von uns soeben geschilderte Kampf erfordert unbedingt eine Organisation der Arbeiter. Eine Organisation wird notwendig sowohl zur erfolgreichen Durchführung eines Streiks als auch zur Veranstaltung von Geldsammlungen zugunsten der Streikenden, zur Gründung von Arbeiterkassen, zur Agitation unter den Arbeitern, zur Verbreitung von Flugblättern, Bekanntmachungen, Aufrufen u. dergl. Noch notwendiger wird eine Organisation, um sich gegen die Verfolgungen der Polizei und der Gendarmerie zu schützen, ihr gegenüber alle Vereinigungen der Arbeiter und alle ihre Verbindungen geheim zu halten, um eine Versorgung der Arbeiter mit Büchern, Broschüren, Zeitungen usw. in die Wege zu leiten. Bei alledem zu helfen, darin besteht die zweite Aufgabe der Partei.

Die dritte Aufgabe besteht im Aufzeigen des wahren Zieles des Kampfes, d. h. in der Aufklärung der Arbeiter darüber, worin die Ausbeutung der Arbeiter durch das Kapital besteht, worauf sie sich stützt, in welcher Weise das Privateigentum an Grund und Boden und an den Arbeitsmitteln die Verelendung der Arbeitermassen herbeiführt, sie zwingt, ihre Arbeit den Kapitalisten zu verkaufen und ihnen unentgeltlich den ganzen Überschuss zu überlassen, den die Arbeit des Arbeiters über die Unterhaltskosten des Arbeiters hinaus erzeugt; ferner in der Aufklärung darüber, wie diese Ausbeulung unvermeidlich zum Klassenkampf der Arbeiter gegen die Kapitalisten führt, welches die Bedingungen dieses Kampfes und seine Endziele sind… kurz, in der Erläuterung dessen, worauf in diesem Programm kurz hingewiesen wird.

B. 2. Was besagt der Satz, dass der Kampf der Arbeiterklasse ein politischer Kampf sei? Er besagt, dass die Arbeiterklasse den Kampf für ihre Befreiung nicht führen kann, ohne Einfluss auf die Staatsgeschäfte, auf die Staatsverwaltung und die Gesetzgebung zu erstreben. Die russischen Kapitalisten haben die Notwendigkeit eines solchen Einflusses längst begriffen, und wir haben gezeigt, wie sie es trotz aller Verbote der Polizeigesetze verstanden haben, tausend Formen der Beeinflussung der Staatsgewalt zu finden, und wie diese Macht den Interessen der Kapitalistenklasse dient. Daraus ergibt sich ohne weiteres, dass auch die Arbeiterklasse ihren Kampf unmöglich führen, ja auch nur eine dauernde Verbesserung ihrer Lage erzielen kann, wenn sie nicht einen Einfluss auf die Staatsmacht ausübt.

Wir sprachen bereits davon, dass die Arbeiter im Kampfe gegen die Kapitalisten unvermeidlich mit der Regierung in Konflikt geraten, und die Regierung selbst tut alles, um den Arbeitern zu beweisen, dass sie nur durch Kampf und gemeinsamen Widerstand die Staatsgewalt beeinflussen können. Besonders augenfällig lehren das jene großen Streiks, die in Russland in den Jahren 1885 und 1886 stattfanden. Den hartnäckigen Forderungen der Arbeiter nachgebend, begann die Regierung, sich unverzüglich mit der Abfassung von die Arbeiterschaft betreffenden Verordnungen zu beschäftigen, und erließ sofort neue Gesetze über die Fabrikordnung (z. B. über die Einschränkung der Strafgelder und die richtige Lohnauszahlung). Ganz ebenso erzielten auch die gegenwärtigen (1896) Streiks wiederum eine sofortige Einmischung der Regierung, und die Regierung begriff bereits, dass sie sich nicht mit Verhaftungen und Verbannungen begnügen kann und dass es lächerlich ist, die Arbeiter mit einfältigen Belehrungen über den Edelsinn der Unternehmer abzuspeisen (man vergleiche das Rundschreiben des Finanzministers Witte an die Fabrikinspektoren vom Frühjahr 1896). Die Regierung sah, dass „die vereinigten Arbeiter eine Macht darstellen, mit der gerechnet werden muss“. Sie hat daher bereits eine Überprüfung der Fabrikgesetze in Angriff genommen und beruft zur Beratung über die Frage der Verkürzung der Arbeitszeit und über andere unvermeidliche Zugeständnisse an die Arbeiter einen Kongress der Fabrikoberinspektoren nach St. Petersburg ein.

Wir sehen also, dass der Kampf der Arbeiterklasse gegen die Kapitalistenklasse notwendigerweise ein politischer Kampf sein muss. Dieser Kampf übt tatsächlich schon heute einen Einfluss auf die Staatsgewalt aus, gewinnt eine politische Bedeutung. Je mehr sich jedoch die Arbeiterbewegung entwickelt, um so deutlicher, um so schärfer tritt die völlige politische Rechtlosigkeit der Arbeiter, von der wir oben gesprochen haben, die völlige Unmöglichkeit für die Arbeiter, offenen und unmittelbaren Einfluss auf die Staatsgewalt auszuüben, in Erscheinung, um so fühlbarer wird sie. Daher muss die dringendste Forderung der Arbeiter und die erste Aufgabe in der Richtung einer Beeinflussung der Staatsgewalt durch die Arbeiterklasse lauten: Erreichung der politischen Freiheit, d. h. der unmittelbaren, durch das Gesetz (die Verfassung) gewährleisteten Teilnahme aller Bürger an der Leitung des Staates, Gewährleistung der Versammlungsfreiheit für alle Bürger, des Rechtes, über ihre Angelegenheiten zu beraten und auf die Staatsgeschäfte durch Verbände und durch die Presse einzuwirken. Die Gewinnung der politischen Freiheit wird zur „dringendsten Frage für die Arbeiter“, weil ohne eine solche Freiheit die Arbeiter einen Einfluss auf die Staatsgeschäfte weder besitzen, noch besitzen können und daher unvermeidlich eine rechtlose, erniedrigte, stumme Klasse bleiben. Und wenn sich die Regierung sogar heute, wo der Kampf der Arbeiter und ihr Zusammenschluss eben erst begonnen haben, bereits beeilt, Zugeständnisse an die Arbeiter zu machen, um ein weiteres Anwachsen der Bewegung zu verhindern, so kann es keinem Zweifel unterliegen, dass die Arbeiter, sobald sie sich unter der Führung einer politischen Partei zusammengeschlossen und vereinigt haben werden, imstande sein werden, die Regierung zur Kapitulation zu zwingen, imstande sein werden, sich und dem ganzen russischen Volke die politische Freiheit zu erkämpfen!

In den bisher besprochenen Teilen des Programms wurde gezeigt, welche Stelle die Arbeiterklasse in der gegenwärtigen Gesellschaft und im gegenwärtigen Staate einnimmt, welches das Ziel des Kampfes der Arbeiterklasse ist und worin die Aufgabe der die Interessen der Arbeiter vertretenden Partei besteht. Unter der unumschränkten Herrschaft der Regierung in Russland gibt es und kann es keine offen bestehenden Parteien geben; doch es gibt politische Richtungen, welche die Interessen der anderen Klassen zum Ausdruck bringen und die öffentliche Meinung sowie die Regierung beeinflussen. Um die Stellung der sozialdemokratischen Partei klar zu machen, muss daher nun auch ihr Verhältnis zu den übrigen politischen Richtungen in der russischen Gesellschaft dargestellt werden, damit sich die Arbeiter darüber klar werden, wer und innerhalb welcher Grenzen er ihr Verbündeter sein kann und wer ihr Feind ist. Das wird nun in den beiden folgenden Programmpunkten gezeigt.

B. 3. Das Programm erklärt, dass als Verbündete der Arbeiter zu betrachten sind: erstens alle jene Schichten der Gesellschaft, die gegen die unumschränkte Gewalt der absolutistischen Regierung auftreten. Da diese unumschränkte Macht das Haupthindernis im Kampfe der Arbeiter für ihre Befreiung ist, so folgt daraus von selbst, dass das unmittelbare Interesse der Arbeiter die Unterstützung jeder sozialen Bewegung gegen den Absolutismus erheischt („absolut“ bedeutet unumschränkt, Absolutismus = unumschränkte Regierungsgewalt). Je mehr der Kapitalismus sich entwickelt, desto tiefer werden die Gegensätze zwischen dieser Beamtenverwaltung und den Interessen der besitzenden Klassen selbst, den Interessen der Bourgeoisie. Und die sozialdemokratische Partei erklärt, dass sie alle Schichten und Kategorien der Bourgeoisie, die der absolutistischen Regierung entgegentreten, unterstützen wird.

Für die Arbeiter ist der unmittelbare Einfluss der Bourgeoisie auf die Staatsgeschäfte unendlich vorteilhafter als ihr gegenwärtiger, sich auf eine Meute von korrupten und zügellosen Beamten stützender Einfluss. Für die Arbeiter ist der offene Einfluss der Bourgeoisie auf die Politik weit vorteilhafter als der gegenwärtige Einfluss, der verhüllt wird durch die angeblich allmächtige „unabhängige“ Regierung, die sich als von „Gottes Gnaden“ bestehend bezeichnet und die „ihre Gnaden“ den leidenden und arbeitsliebenden Grundherrn und den notleidenden und unterdrückten Fabrikanten spendet. Die Arbeiter bedürfen des offenen Kampfes gegen die Kapitalistenklasse, damit das gesamte russische Proletariat erkenne, für welche Interessen die Arbeiter kämpfen, damit es lerne, wie gekämpft werden muss, damit sich die Ränke und Absichten der Bourgeoisie nicht in den Vorzimmern der Großfürsten, in den Empfangsräumen der Senatoren und Minister und in den dem Publikum unzugänglichen Regierungskanzleien verstecken, sondern ans Tageslicht treten und allen und jedem die Augen darüber öffnen, wer in Wahrheit die Regierungspolitik inspiriert und was die Kapitalisten und Grundherren erstreben. Darum hinweg mit allem, was den gegenwärtigen Einfluss der Kapitalisten verhüllt, darum Unterstützung aller und jedweder Vertreter der Bourgeoisie, die dem Beamtentum, der Beamtenverwaltung, der unumschränkten Regierungsgewalt entgegentreten! Allein, indem sie erklärt, dass sie jede soziale Bewegung gegen den Absolutismus unterstützt, betont die sozialdemokratische Partei zugleich, dass sie sich nicht von der Arbeiterbewegung absondert, da die Arbeiterklasse ihre besonderen, den Interessen aller anderen Klassen entgegengesetzten Interessen hat. Während sie allen Vertretern der Bourgeoisie im Kampfe für die politische Freiheit ihre Unterstützung angedeihen lassen, müssen die Arbeiter gleichzeitig dessen eingedenk sein, dass die besitzenden Klassen nur zeitweilig ihre Verbündeten sein können, dass die Interessen der Arbeiter und die der Kapitalisten unversöhnlich bleiben, dass die Arbeiter der Beseitigung der absolutistischen Regierungsgewalt lediglich zu dem Zwecke eines offenen und umfassenden Kampfes gegen die Kapitalistenklasse bedürfen.

Des weiteren erklärt die sozialdemokratische Partei, dass sie alle jene unterstützen wird, die sich gegen die Klasse des privilegierten Grundadels auflehnen. Der Grundadel gilt in Russland als erster Stand im Staate. Die Überreste seiner Fronherrschaft über den Bauer bedrücken heute noch große Volksmassen. Die Bauern bleiben immer noch an die Scholle gefesselt, damit die Herren Großgrundbesitzer keinen Mangel an billigen und willigen Landarbeitern zu verspüren brauchen. Die Bauern sind auch heute noch wie Rechtlose und Minderjährige der Willkür der Beamten preisgegeben, die um ihre Taschen besorgt sind und sich ins Bauernleben einmischen, um die Bauern zu zwingen, den feudalen Grundherren das Ablösungsgeld oder den „Zins“ genau zu entrichten, und sie daran zu hindern, der Arbeit für die Großgrundbesitzer „auszuweichen“, z. B. zu übersiedeln und damit die Großgrundbesitzer etwa zu zwingen, Arbeiter von auswärts zu dingen, die nicht so billig und weniger verarmt sind. Die Herren Großgrundbesitzer, die Millionen und Dutzende von Millionen Bauern in ihre Dienste zwingen und knechten und für ihre Entrechtung eintreten, genießen dank dieser Heldentat die höchsten Vorrechte im Staate. Die höchsten Staatsstellen werden vor allem mit Vertretern des Grundadels besetzt (überdies besitzt der Adelsstand auch laut Gesetz das erste Anrecht auf den Staatsdienst). Die vornehmen Großgrundbesitzer stehen dem Hofe näher und vermögen es leichter und direkter als andere, die Politik der Regierung zu ihren Gunsten zu gestalten. Sie machen sich ihre nahen Beziehungen zur Regierung zunutze, um die Staatskasse zu plündern und aus Volksgeldern Geschenke und Zuwendungen von Millionen von Rubeln zu erhalten, sei es in der Form großer Landgüter als Entgelt für geleistete Dienste, sei es in Form von „Zugeständnissen“.

1 Der Entwurf des Programms der sozialdemokratischen Partei wurde von Lenin Ende 1895 im Gefängnis verfasst. Hier schrieb er auch einige Monate später die Erläuterung zum Programmentwurf. Die ganze Arbeit war mit chemischer Tinte zwischen die Zeilen eines Buches geschrieben und wurde im Sommer 1896 aus dem Gefängnis herausgeschmuggelt. Das Programm hatte die Gründung einer einheitlichen, zentralisierten gesamtrussischen Partei im Auge und war für den „Petersburger Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse" geschrieben.

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