Lenin‎ > ‎1900‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19000900 Wie der ,Funke' beinahe erloschen wäre

Wladimir I. Lenin: Wie der „Funke"1 beinahe erloschen wäre2

[Geschrieben Anfang September 1900 im Ausland Zum ersten Mal veröffentlicht 1924 im Lenin-Sammelbuch Nr. 1. Nach Sämtliche Werke, Band 4, Wien-Berlin 1928, S. 16-35]

Ich kam zuerst nach Zürich, und zwar allein und ohne Arsenjew (Potressow) vorher gesehen zu haben. In Zürich empfing mich P. B. Axelrod mit offenen Armen, und ich verbrachte zwei Tage in sehr herzlichem Gespräch mit ihm. Die Unterhaltung war wie zwischen Freunden, die sich lange Zeit nicht gesehen hatten: über alles mögliche, ohne Plan, absolut nicht geschäftlichen Charakters. In geschäftlichen Fragen kann P. B. überhaupt wenig mitsprechen; man konnte merken, dass er für G. V. Plechanow Partei ergriff, und zwar merkte man das daran, dass er auf der Einrichtung einer Druckerei für die Zeitschrift in Genf bestand. Im Allgemeinen aber sagte P. B. viel „Schmeicheleien" (man entschuldige diesen Ausdruck), er sagte, dass für sie alles mit unserem Unternehmen verknüpft sei, dass dieses für sie die Wiedergeburt bedeute, dass „wir" jetzt die Möglichkeit haben würden, auch gegen die extremen Ansichten G. V.s zu polemisieren – die letztere Äußerung habe ich mir besonders gut gemerkt, und dann hat ja auch die ganze weitere Geschichte bewiesen, dass es besonders bemerkenswerte Worte waren.

Ich komme nach Genf. Arsenjew macht mich darauf aufmerksam, dass man mit G. V., der über die Spaltung3 furchtbar erregt und sehr misstrauisch sei, vorsichtig sein müsse. Tatsächlich haben die Besprechungen mit ihm sofort gezeigt, dass er misstrauisch, argwöhnisch und rechthaberisch4 nec plus ultra5 ist. Ich war bemüht, vorsichtig zu sein, vermied alle „wunden" Punkte, doch dieses ständige Auf-der-Hut-sein musste natürlich die Stimmung in äußerst ungünstiger Weise beeinflussen. Von Zeit zu Zeit gab es kleine „Reibungen", hitzige Repliken G. V.s auf jede kleine Bemerkung, die geeignet war, die durch die Spaltung entfesselten Leidenschaften auch nur im Geringsten zu kühlen oder zu dämpfen. „Reibungen" gab es auch in den Fragen der Taktik der Zeitschrift: G. V. legte vollständige Intoleranz an den Tag, Unfähigkeit und mangelnden Willen, auf fremde Argumente einzugehen, außerdem – Unaufrichtigkeit, ja, Unaufrichtigkeit. Wir erklärten, dass wir verpflichtet seien, Struve gegenüber möglichst nachsichtig zu sein, weil wir selbst an seiner Entwicklung nicht ohne Schuld seien, weil wir, darunter auch G. V., uns nicht aufgelehnt hatten, als das notwendig gewesen wäre (1895, 1897). G. V. wollte auch nicht die geringste Schuld seinerseits anerkennen und versuchte uns mit absolut untauglichen Argumenten abzuspeisen, die die Frage umgingen, anstatt sie zu klären. In einer kameradschaftlichen Unterhaltung unter künftigen Mitredakteuren wirkte diese … Diplomatie äußerst unangenehm: wozu der Selbstbetrug und die Behauptung, er, G. V., habe im Jahre 1895 den „Befehl" (??) erhalten, „nicht zu schießen" (auf Struve), er aber sei gewohnt, zu tun, was man ihm befehle (das soll man ihm glauben!)6. Wozu der Selbstbetrug und die Versicherung, dass er, G. V., im Jahre 1897 (als Struve im „Nowoje SIowo" schrieb, es sei sein Ziel, einen der wichtigsten Grundsätze des Marxismus zu widerlegen)7 sich dagegen nicht gewandt habe, weil er für eine Polemik unter den Mitarbeitern einer Zeitschrift kein Verständnis habe (und nie haben würde). Diese Unaufrichtigkeit ging sehr auf die Nerven, um so mehr, als G. V. bemüht war, in der Diskussion die Sache so darzustellen, als wollten wir keinen rücksichtslosen Krieg gegen Struve, als wollten wir „alles miteinander versöhnen" usw. Heiß umstritten war auch die Frage der Polemik in den Spalten der Zeitschrift im Allgemeinen: G. V. war dagegen und wollte unsere Argumente nicht hören. Er war von einem Hass gegen die „Bündler"8 erfüllt, der ans Unanständige grenzte (er verdächtigte sie der Spionage, warf ihnen Geschäftemacherei, Gaunerei vor, erklärte, er würde solche „Verräter" ohne zu zögern „niederschießen" usw.). Die entferntesten Andeutungen, dass auch er ins Extrem verfallen sei (z. B. mein Hinweis auf die Veröffentlichung von Privatbriefen9 und die Unvorsichtigkeit dieser Methode), versetzten G. V. in furchtbare Aufregung und in einen Zustand sichtlicher Gereiztheit. Sowohl in ihm als auch in uns stieg die Unzufriedenheit. Bei ihm kam das z. B. in Folgendem zum Ausdruck. Wir hatten eine Ankündigung der Redaktion entworfen, in der von den Aufgaben und dem Programm der Veröffentlichungen die Rede war. Diese Ankündigung soll (vom Standpunkt G. V.s) in „opportunistischem Geiste" geschrieben sein: eine Polemik zwischen den Mitarbeitern war zugelassen, der Ton war bescheiden, es wurde, wenn auch mit Vorbehalt, auf die Möglichkeit einer friedlichen Beilegung des Streites mit den „Ökonomisten" hingewiesen usw. Betont war in der Ankündigung auch unsere Zugehörigkeit zur Partei und unser Wunsch, an ihrer Vereinigung mitzuarbeiten. G. V. hatte das Schriftstück noch vor meiner Ankunft, zusammen mit Arsenjew und V. I. Sassulitsch, gelesen, er hatte es gelesen und keinen sachlichen Einwand gemacht. Er sprach nur den Wunsch aus, den Stil zu verbessern, ihn zu heben, ohne am Gedankengang etwas zu ändern. Zu diesem Zwecke hatte ihm A. N. Potressow das Schriftstück auch dagelassen. Als ich ankam, sagte mir G. V. kein Wort davon, aber wenige Tage später, als ich bei ihm war, gab er es mir zurück – hier, bitte, vor Zeugen gebe ich es unversehrt wieder, ich habe es nicht verloren. Ich frage, warum er die beabsichtigten Änderungen nicht vorgenommen habe. Er macht Ausflüchte: das könne man auch später tun, das ginge rasch, jetzt lohne es nicht. Ich nahm das Schriftstück, verbesserte es selbst (es war ein noch in Russland entworfenes Konzept) und las es G. V. zum zweiten Mal (in Anwesenheit von V. I.) vor, wobei ich ihn schon direkt bat, es an sich zu nehmen und zu verbessern. Er wich wieder aus und übertrug de Arbeit der neben ihm sitzenden V. I. (was ganz besonders seltsam war, denn wir hatten V. I. darum nicht gebeten, ja, sie hätte die „Ankündigung" auch gar nicht verbessern können, wenn sie den Ton „gehoben" und ihr den Charakter eines Manifestes verliehen hätte).

So ging die Sache bis zur Konferenz (an der die ganze Gruppe Befreiung der Arbeit": G. V., P. B., V. I. und wir beide, da der dritte10 fehlte, teilnahmen). Endlich traf P. B. ein, und die Konferenz fand statt. In der Frage unserer Stellung zum Jüdischen Bund11 legte G. V. eine phänomenale Intoleranz an den Tag, indem er ihn ganz offen für eine nicht-sozialdemokratische Organisation erklärte …, er sagte, es sei unser Ziel, diesen Bund aus der Partei hinauszuwerfen …. Alle unsere Einwände gegen diese unanständigen Redensarten führten zu nichts. G. V. beharrte auf seinem Standpunkt…12. Es wurde zu dieser Frage keine Resolution gefasst. Die „Ankündigung" wurde auf der Konferenz verlesen: G. V. verhielt sich merkwürdig, er schwieg, schlug keinerlei Abänderungen vor, wandte sich nicht dagegen, dass darin die Polemik zugelassen wurde, überhaupt sah es so aus, als wollte er sich selbst ausschalten, ja, eben ausschalten, als wollte er sich nicht beteiligen, und nur so nebenbei, im Vorübergehen, ließ er die giftige und boshafte Bemerkung fallen, dass er (sie d h die Gruppe „Befreiung der Arbeit", in der er der Diktator ist) natürlich eine ganz andere Ankündigung verfasst haben würde. Diese von G. V. so nebenbei hingeworfene, einem Satz anderen Inhalts angehängte Bemerkung hat mich besonders unangenehm überrascht: man macht eine Beratung der Redakteure, und einer der Mitredakteure (den man zweimal gebeten hatte, seinen eigenen Entwurf oder Verbesserungen zu unserer Ankündigung zu geben) schlägt keinerlei Abänderungen vor, sondern bemerkt nur sarkastisch, dass er sie natürlich ganz anders verfasst hätte (nicht so schüchtern, bescheiden, opportunistisch – wollte er sagen). Das zeigte bereits ganz klar, dass zwischen ihm und uns keine normalen Beziehungen bestanden. Weiter – auf die weniger wichtigen Fragen der Konferenz gehe ich nicht ein – wird die Frage des Verhältnisses zu Bobo13 und Michael Iwanowitsch Tugan-Baranowski gestellt. Wir sind für eine bedingte Einladung. (Dazu wurden wir durch G. V.s Schroffheit unvermeidlich getrieben: wir wollten damit zeigen, dass wir ein anderes Verhältnis wünschten. G. V.s unglaubliche Schroffheit treibt einfach irgendwie instinktiv zum Protest, zur Verteidigung seiner Gegner. Vera Iwanowna hat sehr scharfsinnig bemerkt, dass G. V. immer so polemisiert, dass er im Leser Sympathie für seinen Gegner weckt). G. V. erklärt sehr kühl und trocken, dass er damit absolut nicht einverstanden sei, und schweigt demonstrativ während all unserer ziemlich langen Gespräche mit P. B. und V. I., die nicht abgeneigt sind, sich mit uns einverstanden zu erklären Der ganze Vormittag vergeht in einer äußerst schwer lastenden Atmosphäre: die Angelegenheit gewann unzweifelhaft den Anschein, als stellte G. V. ein Ultimatum – entweder er oder diese „Schufte" Als wir das sahen, beschlossen Arsenjew und ich, nachzugeben, und erklärten schon zu Beginn der Abendsitzung, dass wir „auf die Forderung von G. V. hin" unseren Standpunkt aufgäben. Diese Erklärung wurde mit Schweigen aufgenommen (als wäre es ganz selbstverständlich, dass wir nachgeben müssten!). Uns ging diese „Ultimatum-Atmosphäre" (wie Arsenjew sich später ausdrückte) sehr auf die Nerven; G. V.s Wunsch, uneingeschränkt zu herrschen, kam hier offen zum Ausdruck. Früher einmal, als wir in einer Privatunterhaltung über Bobo sprachen (G. V., Arsenjew, V. I. und ich während eines Abendspazierganges im Walde), sagte G. V nach leidenschaftlichem Streit, indem er mir die Hand auf die Schulter legte: „Aber ich stelle ja gar keine Bedingungen, wir werden über alles das auf der Konferenz gemeinsam beraten und gemeinsam beschließen." Damals hatte mich das sehr gerührt. Auf der Konferenz zeigte sich aber gerade das Gegenteil: G. V. wich einer kameradschaftlichen Diskussion aus, hüllte sich zornig in Schweigen und stellte durch dieses Schweigen offensichtlich „Bedingungen". Meiner Meinung nach kam dadurch seine Unaufrichtigkeit stark zum Ausdruck (obgleich ich meine Eindrücke nicht gleich so klar formulierte), Arsenjew aber erklärte offen: „Ich werde ihm dieses Zugeständnis nicht vergessen!" Dann kam der Samstag. Ich erinnere mich nicht mehr genau, worüber man an diesem Tage sprach, aber abends, als wir alle zusammen gingen, kam es zu einem neuen Konflikt. G. V. sagte, dass man einem Genossen (der in der Literatur noch unbekannt war, in dem G. V. aber ein philosophisches Talent sehen will – ich kenne ihn nicht, er ist nur durch seine blinde Ergebenheit G. V. gegenüber bekannt)14 auftragen sollte, einen philosophischen Aufsatz zu schreiben, und G. V. sagte dabei: „Ich werde ihm raten, seinen Aufsatz mit einer Bemerkung gegen Kautsky einzuleiten – ein feiner Kerl das, ist bereits „Kritiker" geworden, lässt in der „Neuen Zeit"15 philosophische Aufsätze von Kritikern" durch, während er die „Marxisten" (sprich Plechanow) nicht frei gewähren lässt. Als Arsenjew von der Absicht eines so scharfen Ausfalles gegen Kautsky (der bereits aufgefordert worden war, an der Zeitung mitzuarbeiten) hörte, war er empört und wandte sich leidenschaftlich dagegen, weil er das für unangebracht hielt. G. V. war beleidigt und zornig, ich schloss mich der Meinung Arsenjews an. P. B. und V. I. schwiegen. Nach einer halben Stunde reiste G. V. ab (wir begleiteten ihn zum Dampfer), die letzte Zeit hatte er schweigend dagesessen, düster wie eine Gewitterwolke. Als er fort war, fühlten wir uns alle erleichtert und ein Gespräch in freundschaftlichem Ton kam in Gang. Am nächsten Tage, am Sonntag (heute ist Sonntag, der 2. September. Das war also vor nur einer Woche!!!, mir aber scheint es, als ist seitdem ein Jahr vergangen! So weit liegt das schon zurück!), wurde die Sitzung nicht bei uns, auf dem Lande, abgehalten, sondern bei G. V. Wir kommen an – erst war Arsenjew gekommen, dann ich. G. V. lässt durch P. B. und V. I. Arsenjew sagen, dass er, G. V., es ablehne, Mitredakteur zu sein, und dass er nur einfacher Mitarbeiter sein wolle. P. B. geht fort. V. I. ist ganz außer sich, fassungslos: „George ist unzufrieden, er will nicht…", sagt sie zu Arsenjew. Ich komme. G. V. öffnet mir, reicht mir mit einem etwas seltsamen Lächeln die Hand und geht dann fort. Ich trete ins Zimmer, wo V. I. und Arsenjew mit seltsamen Gesichtern dasitzen. Nun, was ist los, frage ich. G. V. tritt ein und bittet uns in sein Zimmer. Dort erklärt er, dass er lieber nur Mitarbeiter sein wolle, einfacher Mitarbeiter, da es sonst nur Reibungen geben würde, dass er die Dinge anders betrachte als wir, er begreife und achte unseren Standpunkt, den Parteistandpunkt, könne ihn aber nicht teilen. Wir sollen die Redakteure, er aber nur Mitarbeiter sein. Wir waren außer uns, als wir das hörten, direkt außer uns und lehnten das ab. Daraufhin sagte G. V.: „Nun gut, wenn wir zusammen arbeiten sollen, wie werden wir dann abstimmen; wie viel Stimmen haben wir? – Sechs. – Sechs sind unbequem. – „Nun, mag dann G. V. zwei Stimmen haben – wirft V. I. ein –, sonst wird er immer allein sein –, also zwei Stimmen in taktischen Fragen." Wir sind einverstanden. Darauf reißt G. V. die Zügel der Leitung an sich und beginnt im Tone eines Chefredakteurs die Rubriken und die Aufsätze für die Zeitschrift zu verteilen, indem er sie bald dem einen, bald dem andern der Anwesenden überträgt – in einem Tone, der keinen Widerspruch zulässt. Wir alle sitzen wie vor den Kopf geschlagen, stimmen teilnahmslos allem zu und sind immer noch nicht imstande, das Geschehene richtig zu begreifen. Wir fühlen, dass wir die Geprellten sind, dass unsere Bemerkungen immer schüchterner werden, dass G. V. sie „beiseite schiebt" (nicht widerlegt, sondern beiseite schiebt), und zwar mit immer größerer Leichtigkeit und Nachlässigkeit, dass das „neue System" de facto16 auf eine uneingeschränkte Herrschaft G. V.'s hinausläuft, und dass G. V., der das sehr gut versteht, sich nicht geniert, uneingeschränkt zu herrschen, und nicht viel Federlesens mit uns macht. Es wird uns klar, dass man uns an der Nase herumgeführt hat, dass wir aufs Haupt geschlagen sind, wir können uns aber unsere Lage noch nicht richtig vorstellen. Kaum aber sind wir allein, kaum haben wir den Dampfer verlassen und uns auf den Heimweg gemacht, da kommt es plötzlich über uns und wir lassen die wütendsten and erbittertsten Tiraden gegen G. V. los.

Ehe ich jedoch den Inhalt dieser Tiraden wiedergebe und berichte, wozu sie geführt haben, will ich ein wenig abschweifen und noch einmal zurückgreifen. Warum hat uns der Gedanke einer absoluten Herrschaft Plechanows (ganz unabhängig von der Form dieser Herrschaft) so empört? Früher haben wir immer so gedacht: wir werden die Redakteure sein, sie aber – die nächsten Mitarbeiter. Ich habe vorgeschlagen, von vornherein die Frage formell auch so zu stellen (noch in Russland), Arsenjew aber riet, die Frage nicht formell zu stellen, sondern sie lieber „im Guten" zu behandeln (was zu demselben Resultat führen würde), – und ich willigte ein. Beide waren wir aber darin einig, dass wir die Redakteure sein müssten, einmal, weil die „Alten" äußerst intolerant sind, und dann auch, weil sie nicht imstande sein werden, die mühselige und schwere Arbeit der Redaktion pünktlich zu verrichten: nur diese Erwägungen waren für uns bestimmend, ihre ideologische Leitung aber wurde von uns gern anerkannt. Die Gespräche, die ich in Genf mit Plechanows nächsten Freunden und Anhängern, aus der Zahl der jungen, führte (Mitglieder der Gruppe „Sozialdemokrat"17, alte Anhänger Plechanows, Parteiarbeiter, nicht Arbeiter, aber Parteiarbeiter, einfache sachliche Leute, die Plechanow absolut ergeben sind), bestärkten mich (und Arsenjew) in der Auffassung, dass die Frage nur so gestellt werden müsse; diese Anhänger erklärten uns selbst geradeheraus, dass es wünschenswert wäre, die Redaktion nach Deutschland zu verlegen, denn das würde uns von G. V. unabhängig machen; wenn die Alten die eigentliche redaktionelle Arbeit in ihren Händen halten würden, so würde das zu schrecklichen Verschleppungen oder sogar zu einer Vereitelung der ganzen Sache führen. Aus den gleichen Erwägungen trat auch Arsenjew vorbehaltlos für Deutschland ein.

Ich blieb in meiner Schilderung der Vorgänge, die den „Funken" beinahe zum Erlöschen brachten, bei unserer Heimkehr am Abend des 28. August neuen Stils stehen. Kaum waren wir nach dem Verlassen des Dampfers allein, da brach in uns förmlich ein Sturm der Empörung los. Wir konnten uns nicht mehr halten, die schwüle Atmosphäre entlud sich in einem Gewitter. Bis in den späten Abend hinein gingen wir von einem Ende unseres Dörfleins zum anderen, die Nacht war ziemlich dunkel, die Luft gewitterschwer, Blitze durchzuckten den Himmel. Wir gingen auf und ab und gaben unserer Empörung freien Lauf. Ich erinnere mich, dass Arsenjew mit der Erklärung begann, dass seine persönlichen Beziehungen zu Plechanow ein für allemal gelöst seien, und dass er sie nie wieder anknüpfen würde; die sachlichen Beziehungen würden bleiben – persönlich sei er mit ihm fertig18. Die Art, wie er uns behandelt, sei beleidigend, und zwar in solchem Maße, dass wir anzunehmen gezwungen sind, er traue uns „unlautere" Gedanken zu (und zwar scheint er uns für Streber19 zu halten). Er behandele uns von oben herab usw. Ich unterstützte diese Beschuldigungen voll und ganz. Meine „Verliebtheit" in Plechanow war ebenfalls wie weggeblasen, und ich empfand ein unglaublich schmerzliches und bitteres Gefühl. Nie, niemals in meinem Leben hatte ich für einen Menschen so viel ehrliche Achtung und Verehrung empfunden, keinem Menschen gegenüber verhielt ich mich so „bescheiden", – und nie ist mir ein so brutaler „Fußtritt" versetzt worden. Uns ist in der Tat ein solcher Fußtritt versetzt worden: man hat uns eingeschüchtert, wie man Kinder einzuschüchtern pflegt, indem man ihnen droht, die Erwachsenen würden fortgehen und sie allein lassen, und als wir Angst bekamen (welche Schande!), da wurden wir mit unglaublicher Ungeniertheit beiseite geschoben. Es wurde uns jetzt völlig klar, dass Plechanows Erklärung am Morgen, er lehne es ab, Mitredakteur zu sein, nichts als eine einfache Falle gewesen war, ein berechneter Schachzug, ein Hinterhalt für naive Gimpel: das konnte keinem Zweifel unterliegen, denn wenn Plechanow aufrichtig Angst gehabt hätte, in der Redaktion mitzuarbeiten, wenn er fürchtete, die Sache zu hemmen, unnötige Reibungen unter uns hervorzurufen, dann hatte er auf keinen Fall eine Minute später zeigen (und zwar auf eine grobe Weise zeigen) können, dass für ihn seine Tätigkeit als Mitredakteur gleichbedeutend sei mit einer Tätigkeit als alleiniger Redakteur. Wenn aber ein Mensch, mit dem wir eine gemeinsame, uns am Herzen liegende Sache durchführen, zu dem wir enge Beziehungen unterhalten wollen, wenn ein solcher Mensch seinen Genossen mit Schachzügen kommt, so kann absolut kein Zweifel bestehen, dass dieser Mensch kein guter Mensch, ja eben kein guter Mensch ist, dass er sich von Motiven persönlicher Natur, kleinlicher Eigenliebe und Eitelkeit leiten lässt dass er ein unaufrichtiger Mensch ist. Von dieser Entdeckung – es war für uns eine richtige Entdeckung! – waren wir wie vom Donner gerührt, denn beide waren wir bis dahin in Plechanow verliebt gewesen und hatten ihm, wie einem geliebten Menschen, alles verziehen, hatten allen seinen Mängeln gegenüber die Augen verschlossen und uns mit aller Kraft einzureden versucht, dass diese Mängel überhaupt nicht beständen, dass das Kleinigkeiten seien, um welche sich nur Leute kümmern, die das Grundsätzliche unterschätzen. Und nun mussten wir uns selbst davon überzeugen dass diese „unwesentlichen" Mängel imstande waren, die ergebensten Freunde abzustoßen, dass kein Überzeugtsein von Richtigkeit seiner theoretischen Auffassungen seine abstoßenden Eigenschaften vergessen lassen konnten – unsere Empörung war unendlich groß, das Ideal war zerschlagen, und wir traten es wollüstig mit Füßen, wie einen gestürzten Götzen; die schlimmsten Beschuldigungen kannten kein Ende. So geht es nicht! beschlossen wir. Unter solchen Umständen wollen und werden wir nicht, können wir nicht zusammenarbeiten. Lebe wohl, Zeitschrift! Wir geben alles auf und fahren nach Russland, dort werden wir die Sache von Neuem organisieren und uns auf eine Zeitung beschränken. Wir wollen keine Schachfiguren in den Händen dieses Menschen sein, der kameradschaftliche Beziehungen weder zulässt noch kennt. Wir konnten uns nicht dazu entschließen, die Redaktion allein zu übernehmen, außerdem wäre das jetzt einfach widerwärtig, es würde ganz den Anschein haben, als sei uns nur an den Redakteursposten gelegen, als wären wir Streber, Karrieristen, als wären auch wir von Eitelkeit, nur noch niedrigerer Art, besessen Es ist schwer, unsere Verfassung an jenem Abend genau zu schildern, so kompliziert, schwer, trüb war unsere Stimmung! Es war ein wirkliches Drama, ein Bruch mit dem, was uns lange Jahre hindurch teuer war, wie ein geliebtes Kind, womit unsere ganze Lebensarbeit untrennbar verbunden war. Und das alles nur, weil wir früher in Plechanow vernarrt waren; wären wir nicht in ihn verliebt gewesen, hätten wir ihm kaltblütiger, objektiver gegenübergestanden, etwas mehr von der Seite betrachtet, so hätten wir uns ihm gegenüber auch jetzt anders benommen und keinen solchen Zusammenbruch, im wahren Sinne dieses Wortes, erlebt, keine solche „moralische Dusche", nach dem vollkommen richtigen Ausdruck Arsenjews. Das war eine der härtesten Lehren des Lebens, eine verletzend-harte, verletzend-grobe Lehre. Jüngere Genossen machen dem älteren Genossen aus unendlicher Liebe zu ihm den „Hof", dieser aber bringt plötzlich in diese Liebe eine Atmosphäre der Intrige hinein, zwingt sie, sich nicht als jüngere Brüder zu fühlen, sondern als dumme Jungen, die man an der Nase herumführt, als Schachfiguren, die man willkürlich hin- und herschieben kann, oder sogar als ungeschickte Streber, die man gehörig einschüchtern und an die Wand drücken muss. Und die verliebte Jugend erhält vom Gegenstand ihrer Liebe die bittere Lehre, dass man in seinen Beziehungen zu den Menschen nicht „sentimental" sein dürfe, dass man stets den Stein bereithalten müsse. Eine unendliche Zahl solcher bitteren Worte sprachen wir an jenem Abend. Das Unerwartete des Zusammenbruches rief natürlicherweise viele Übertreibungen hervor, doch im Grunde waren diese bitteren Worte wahr. Blind geworden durch unsere Verliebtheit, benahmen wir uns in Wirklichkeit wie Sklaven; Sklave zu sein, ist aber eine unwürdige Sache, und das Beleidigende dieser Erkenntnis wurde noch hundertfach vermehrt durch den Umstand, dass „er" selbst uns darüber die Augen geöffnet, uns das an unserem eigenen Leibe gezeigt hatte…

Wir begaben uns schließlich zur Nachtruhe in unsere Zimmer, mit dem festen Entschluss, sofort morgen Plechanow von unserer Empörung zu unterrichten, auf die Zeitschrift zu verzichten, abzureisen und uns mit einer Zeitung zu begnügen, das Material für die Zeitschrift aber in Broschüren herauszugeben: die Sache wird darunter nicht leiden, wir aber werden von den nahen Beziehungen zu „diesem Menschen" befreit sein.

Am nächsten Tage wache ich früher als gewöhnlich auf: Schritte auf der Treppe und P. B.'s Stimme, der an Arsenjews Zimmertür klopft, wecken mich. Ich höre, wie Arsenjew antwortet, die Tür öffnet – ich höre das und denke dabei: wird Arsenjew den Mut haben, alles sofort zu sagen? Es wäre doch besser, alles sofort zu sagen, alles und sofort, um die Sache nicht in die Länge zu ziehen. Nachdem ich mich gewaschen und angekleidet habe, gehe ich zu Arsenjew, der sich wäscht. Axelrod sitzt im Sessel mit etwas gespannter Miene. Hier, N. N. – wendet sich Arsenjew an mich –, ich habe P. B. von unserem Entschluss, nach Russland zu reisen, gesprochen und ihm gesagt, dass man unserer Überzeugung nach die Sache so nicht machen könne. – Ich schließe mich natürlich ganz Arsenjew an und unterstütze ihn. Wir erzählen Axelrod alles, ohne uns zu genieren, – wir genieren uns so wenig, dass Arsenjew sogar sagte, wir hätten Plechanow in Verdacht, er halte uns für Streber. Axelrod, der uns im allgemeinen halb und halb zustimmt, bitter den Kopf schüttelt und sich verstimmt, fassungslos und verlegen zeigt, erhebt bei dieser Bemerkung energischen Protest und schreit, das sei denn doch eine Unwahrheit, Plechanow habe verschiedene Mängel, aber nicht diesen, hier sei bereits nicht er gegen uns ungerecht, sondern wir gegen ihn. Bisher sei er bereit gewesen, Plechanow zu sagen: „Siehst du, was du angerichtet hast, löffle den Brei selber aus, ich wasche meine Hände in Unschuld", jetzt aber könne er sich dazu nicht entschließen, denn er sehe unser ungerechtes Verhalten. Seine Versicherungen machen natürlich wenig Eindruck auf uns, und der arme P. B. stellte ein ganz erbärmliches Bild dar, als er sich überzeugen musste, dass unser Entschluss unerschütterlich war.

Wir verließen zusammen das Haus und begaben uns zu V. I., um sie zu benachrichtigen. Es war zu erwarten, dass die Nachricht von dem „Bruch" (die Geschichte nahm tatsächlich die Form eines Bruches an) sie besonders schwer treffen würde. Ich fürchte sogar – hatte Arsenjew am Vorabend gesagt – ich fürchte im Ernst, dass sie sich das Leben nehmen wird …

Ich werde nie die Stimmung vergessen, in der wir drei das Haus verließen. „Wir gehen wie zu einer Beerdigung", sagte ich zu mir selbst. Und in der Tat, wir gingen wie hinter einer Leiche her, schweigend, gesenkten Blickes, äußerst deprimiert durch das Sinnlose, die Absurdität dieses Verlustes. Es war, als schwebte ein Fluch über der Sache! Alles war – nach so vielen Misserfolgen und Hindernissen – auf dem Wege, aufs Beste geregelt zu werden, plötzlich aber erhebt sich ein Sturm – und alles ist zu Ende, wieder bricht alles zusammen. Man glaubt sich einfach selber nicht (ebenso wie man unter dem frischen Eindruck des Todes eines nahestehenden Menschen sich selbst nicht glaubt), – bin wirklich ich es, der leidenschaftliche Anhänger Plechanows, der jetzt mit solch einer Erbitterung von ihm spricht und der mit fest aufeinander gepressten Lippen und einer verteufelten Kälte in der Seele zu ihm geht, um ihm kalte und harte Dinge zu sagen, um ihm fast von einem „Abbruch der Beziehungen" Mitteilung zu machen? Ist das wirklich kein böser Traum, sondern Wirklichkeit?

Dieser Eindruck wich auch nicht während des Gesprächs mit V. I. Sie zeigte sich nicht besonders erregt, aber man sah, dass sie furchtbar deprimiert war; sie bat, flehte uns fast an, unseren Entschluss wieder aufzugeben, es doch zu versuchen, vielleicht würde es in Wirklichkeit nicht so schlimm werden, bei der Arbeit würden die Beziehungen wieder in Ordnung kommen, bei der Arbeit würden die abstoßenden Züge seines Charakters nicht so in Erscheinung treten Es war im höchsten Grade schwer, diese aufrichtigen Bitten eines Plechanow gegenüber schwachen, aber absolut aufrichtigen und der Sache leidenschaftlich ergebenen Menschen zu hören, eines Menschen mit dem „Heldenmut eines Sklaven" (Ausdruck von Arsenjew), der das Joch Plechanows trägt. Es war so unerträglich schwer, dass ich bei Gott zeitweise glaubte, ich würde in Weinen ausbrechen … Wenn man einer Leiche folgt, kommen einem die Tränen am leichtesten, in dem Moment, wo Worte des Bedauerns, der Verzweiflung gesprochen werden …

Wir verließen P. B. und V. I. Wir gingen fort, aßen zu Mittag und schickten dann Briefe nach Deutschland, in denen wir mitteilten, dass wir dorthin kämen, dass sie die Maschine abstellen sollen, sogar ein Telegramm dieses Inhalts schickten wir (noch vor einem Gespräch mit Plechanow!!); in keinem von uns regte sich ein Zweifel an der Notwendigkeit dessen, was wir taten.

Nachmittags gehen wir wieder zur verabredeten Zeit zu P. B. und V. I., bei denen wir Plechanow treffen sollten. Wir nähern uns dem Haus, sie kommen zu dritt heraus. Schweigend begrüßen wir einander – Plechanow ist bemüht, ein nebensächliches Gespräch zu führen (wir hatten P. B. und V. I. gebeten, ihn zu benachrichtigen, so dass er bereits alles wusste) –, wir kehren ins Zimmer zurück und setzen uns. Arsenjew beginnt zu sprechen – zurückhaltend, trocken und kurz, er sagt, wir hätten in Anbetracht der Beziehungen, wie sie gestern klar in Erscheinung getreten seien, die Hoffnung an die Möglichkeit dieser Arbeit aufgegeben, wir hätten beschlossen, nach Russland zu fahren, um uns dort mit den Genossen zu beraten, denn wir wollten nunmehr keine selbständigen Beschlüsse fassen, auf die Zeitschrift müsse man vorläufig verzichten. Plechanow ist sehr ruhig, zurückhaltend, augenscheinlich hat er sich vollständig und unbedingt in der Hand, keine Spur von der Nervosität Pawel Borissowitschs und Vera Iwanownas (er hat schon ganz andere Dinge mitgemacht, denken wir mit Wut, während wir ihn ansehen). Er fragt, worum es sich denn eigentlich handle. „Wir befinden uns in einer ,Ultimatum-Atmosphäre' " – sagt Arsenjew und entwickelt diesen Gedanken etwas eingehender. – „Wovor habt ihr Angst, glaubt ihr etwa, ich würde nach Erscheinen der ersten Nummer und vor Erscheinen der zweiten einen Streik erklären?" – fragt Plechanow, auf uns eindringend. Er glaubte, wir würden nicht den Mut haben, das zu sagen. Aber ich antworte ebenso kalt und ruhig: „Unterscheidet sich denn das von dem, was A. N. gesagt hat? Er hat doch genau dasselbe gesagt." Plechanow ist offenbar etwas unangenehm berührt. Er hatte einen so trockenen Ton und so offene Beschuldigungen nicht erwartet. – „Nun, ihr habt beschlossen zu reisen, worüber ist dann noch zu sprechen – sagte er –, ich habe hier nichts zu sagen, meine Lage ist sehr merkwürdig: ihr habt nichts als Eindrücke; ihr habt den Eindruck gewonnen, ich sei ein schlechter Mensch. Was kann ich da tun?" – „Unsere Schuld ist vielleicht die – sage ich in der Absicht, das Gespräch von diesem „unmöglichen" Thema abzuwenden –, dass wir einen zu großen Anlauf genommen haben, ohne die Furt vorher untersucht zu haben." – „Nein, wenn man schon offen sprechen soll – antwortet Plechanow –, so besteht eure Schuld darin, dass ihr (vielleicht äußert sich darin auch die Nervosität Arsenjews) Eindrücken eine zu große Bedeutung beimesst, denen man gar keine Bedeutung beilegen sollte." Wir schweigen und sagen dann, man könne sich ja vorläufig auf Broschüren beschränken. Plechanow wird böse: „Ich dachte und denke nicht an Broschüren. Auf mich rechnet nicht. Wenn ihr abreist, so werde ich doch nicht die Hände in den Schoß legen, ich kann vor eurer Wiederkehr einem anderen Unternehmen beitreten."

Nichts hat Plechanow in meinen Augen so herabgesetzt, wie diese Erklärung, als ich sie mir später in Erinnerung rief und allseitig überlegte. Das war eine so plumpe Drohung, eine so schlecht berechnete Einschüchterung, dass sie Plechanow nur „den Rest geben" konnte, denn sie deckte seine „Politik" uns gegenüber auf: es genügt, ihnen einen tüchtigen Schreck einzujagen…

Wir haben jedoch der Drohung nicht die geringste Beachtung geschenkt. Ich habe nur schweigend die Lippen zusammengepresst: nun gut, wenn du es so willst – à la guerre comme à la guerre, aber du bist ein Dummkopf, wenn du nicht siehst, dass wir nicht mehr die gleichen sind, dass wir uns in einer Nacht vollständig gewandelt haben.

Als er nun sah, dass die Drohung nicht wirkte, versuchte es Plechanow mit einem anderen Manöver. Wie soll man es tatsächlich anders als ein Manöver nennen, wenn er wenige Minuten später davon zu reden beginnt, dass der Bruch mit uns für ihn den vollständigen Verzicht auf die politische Tätigkeit bedeute, dass er auf sie verzichten und sich der wissenschaftlichen, der rein wissenschaftlichen literarischen Tätigkeit widmen werde, denn wenn er schon mit uns nicht arbeiten könne, so werde er es mit niemandem können … Das Einschüchtern wirkt nicht, vielleicht helfen dann Schmeicheleien! … Aber nach dem Einschüchterungsversuch konnte das nur einen abstoßenden Eindruck machen … Das Gespräch war kurz, man kam zu keinem Ergebnis; als Plechanow das sah, begann er von den Grausamkeiten der Russen in China zu sprechen, aber er sprach die ganze Zeit fast ganz allein und bald gingen wir auseinander.

Nachdem Plechanow gegangen war, brachte die Unterhaltung mit P. B. und V. I. nichts Interessantes oder Wesentliches mehr. P. B. gab sich die größte Mühe, uns zu beweisen, dass Plechanow auch ganz verzweifelt sei, dass wir jetzt, wenn wir so abreisen, eine Sünde auf unsere Seele laden usw. usw. V. I. gab in intimem Gespräch mit Arsenjew zu, dass „George" stets so gewesen sei, sie gab ihren „Sklaven-Heldenmut" zu, gab zu, dass es „für ihn eine Lehre sein wird", wenn wir abreisen.

Der Rest des Abends verging leer, in schwerer Atmosphäre.

Am nächsten Tag, es war der 28. August n. St., wollten wir nach Genf und von dort nach Deutschland fahren. Am frühen Morgen weckt mich (der sonst spät aufstehende) Arsenjew. Ich wundere mich: er sagt, er habe schlecht geschlafen und habe eine letzte mögliche Kombination gefunden, um wenigstens irgendwie die Sache in Gang zu bringen und der schlechten persönlichen Beziehungen wegen ein ernstes Parteiunternehmen nicht zugrunde gehen zu lassen. Wir sollten ein Sammelbuch herausgeben – da ja das Material schon ausgewählt, die Verbindung mit der Druckerei hergestellt sei. Da die Redaktionsverhältnisse noch ungeklärt seien, so sollten wir vorläufig ein Sammelbuch herausgeben und dann würden wir weiter sehen; vom Sammelbuch ist es gleich leicht, zu einer Zeitschrift oder zu Broschüren überzugehen. Wenn aber Plechanow hartnäckig bleibt – dann hol ihn der Teufel, wir werden dann wissen, dass wir alles, was wir konnten, getan haben So beschlossen wir denn auch.

Wir gehen mit dieser Mitteilung zu Pawel Borissowitsch und Vera Iwanowna und treffen sie; sie sind auf dem Wege zu uns. Sie stimmen natürlich gern zu, und P. B. übernimmt den Auftrag, mit Plechanow zu sprechen und seine Zustimmung zu erlangen.

Wir kommen nach Genf und sprechen ein letztes Mal mit Plechanow. Er tut so, als habe es nur ein durch Nervosität hervorgerufenes unangenehmes Missverständnis gegeben: er fragt Arsenjew teilnahmsvoll nach seiner Gesundheit und umarmt ihn fast – Arsenjew wäre beinahe zurückgesprungen. Plechanow ist mit dem Sammelbuch einverstanden; wir sagen, dass in Bezug auf die Organisation der Redaktion drei Kombinationen möglich seien (1. wir sind Redakteure, er Mitarbeiter; 2. wir alle sind Redakteure; 3. er ist Redakteur, wir Mitarbeiter), dass wir in Russland über diese drei Kombinationen beratschlagen, einen Entwurf ausarbeiten und ihn herbringen werden. Plechanow erklärt, er lehne die dritte Kombination entschieden ab und bestehe darauf, dass man auf diese Kombination verzichte, mit den ersten beiden Kombinationen dagegen sei er einverstanden. So wurde denn auch beschlossen: vorläufig, bis wir den Entwurf für eine neue Redaktionsordnung vorlegen, bleibt es beim alten (alle sechs sind wir Redakteure, wobei Plechanow über zwei Stimmen verfügt).

Plechanow spricht dann den Wunsch aus, genau zu erfahren worum es sich eigentlich gehandelt habe, womit wir unzufrieden seien. Ich mache die Bemerkung, dass es vielleicht besser sei, wenn wir unsere Aufmerksamkeit mehr auf das richteten, was kommen wird, als auf das, was hinter uns liegt. Aber Plechanow besteht darauf, dass man die Sache aufkläre. Es beginnt eine Unterhaltung, an der sich fast nur Plechanow und ich beteiligen – Arsenjew und P. B. schweigen. Die Unterhaltung wird ziemlich ruhig, sogar vollkommen ruhig geführt. Plechanow sagt, er habe bemerkt, dass seine Weigerung in Bezug auf Struve Arsenjew gereizt hatte, – ich bemerke hierauf, dass er uns Bedingungen gestellt habe – entgegen seiner früheren Erklärung im Walde dass er keine Bedingungen stelle. Plechanow verteidigt sich: ich habe nicht geschwiegen, weil ich Bedingungen stellte, sondern weil die Frage für mich klar war. Ich spreche von der Notwendigkeit, eine Polemik zuzulassen, von der Notwendigkeit der Abstimmungen unter uns – Plechanow lässt das gelten, sagt aber: in Spezialtragen – natürlich, in grundlegenden Fragen aber ist eine Abstimmung unmöglich. Ich entgegne, dass eben die Trennung zwischen grundlegenden und Spezialfragen nicht immer leicht sein wurde, dass sich für die Redakteure die Notwendigkeit einstellen wird, eben über diese Trennung abzustimmen. Plechanow widerspricht, er sagt, das sei Gewissenssache, der Unterschied zwischen grundlegenden und Spezialfragen sei eine klare Sache Abstimmungen seien da überflüssig. Bei diesem Streit – ob eine Abstimmung unter den Redakteuren über die Frage der Abgrenzung zwischen Spezial- und grundlegenden Fragen zulässig sei – sind wir steckengeblieben, ohne einen Schritt weiterzukommen Plechanow zeigte seine ganze Gewandtheit, den Glanz seiner Beispiele, Vergleiche, Witze und Zitate, die unwillkürlich zum Lachen zwingen; aber diese Frage umging er, ohne offen nein zu sagen Ich gewann den Eindruck, dass er eben hierin, in diesem Punkt nicht nachgeben, auf seinen „Individualismus" und seine „Ultimata" nicht verzichten konnte, denn in solchen Fragen würde er nicht abstimmen, sondern eben ein Ultimatum stellen.

Am Abend des gleichen Tages reiste ich ab, ohne noch irgend jemanden von der Gruppe „Befreiung der Arbeit" gesehen zu haben. Wir beschlossen, vom Geschehenen niemandem, mit Ausnahme der Nachstehenden, etwas zu sagen, – wir beschlossen, den Schein zu wahren – den Gegnern keinen Triumph zu gestatten. Äußerlich sollte es so sein, als wäre nichts geschehen, die Maschine sollte weiterlaufen, wie sie bisher lief, – nur innen war eine Saite gesprungen, und an die Stelle der ausgezeichneten persönlichen Beziehungen trat ein sachliches, trockenes Verhältnis, mit einem ständigen Vorbehalt, nach der Formel: si vis pacem, para bellum20.

Nicht ohne Interesse ist noch ein Gespräch am Abend desselben Tages mit einem der nächsten Freunde und Anhänger Plechanows, einem Mitglied der Gruppe „Sozialdemokrat". Ich sagte ihm kein Wort von dem, was geschehen war, ich sagte, die Zeitschrift würde erscheinen, die Artikel seien schon ausgewählt – es sei Zeit, an die Arbeit zu gehen. Ich unterhielt mich mit ihm darüber, wie die Sache praktisch in die Wege zu leiten sei: er war ganz der Meinung, dass die Alten zur Redaktionsarbeit unfähig seien. Ich sprach mit ihm von den „drei Kombinationen" und fragte ihn offen, welche seiner Meinung nach die beste sei? Er antwortete ohne zu zögern: die erste (wir – Redakteure, sie – Mitarbeiter), aber wahrscheinlich wird die Zeitschrift Plechanow gehören, die Zeitung – euch.

In dem Maße, in dem wir uns vom Geschehenen entfernten, begannen wir, es ruhiger zu betrachten und zur Überzeugung zu gelangen, dass es durchaus unzweckmäßig sei, die Sache aufzugeben, dass vorläufig kein Grund bestehe, vor der Übernahme der Redaktion (des Sammelbuchs) Angst zu haben, dass gerade wir die Sache machen müssten, weil sonst keine Möglichkeit vorhanden war, die Maschine richtig arbeiten und die Sache infolge der desorganisatorischen Eigenschaften Plechanows nicht untergehen zu lassen.

Nach meiner Ankunft in N.21, am 4. oder 5. September, arbeiteten wir einen Entwurf für die formellen Beziehungen zwischen uns aus (ich begann bereits unterwegs, im Eisenbahnwagen, diesen Entwurf zu schreiben)22. Dieser Entwurf machte uns zu Redakteuren, sie – zu Mitarbeitern mit Stimmrecht in allen Redaktionsfragen; dieser Entwurf sollte zusammen mit Jegor (Martow) besprochen und dann ihnen vorgelegt werden.

Es bestand die Hoffnung, dass der „Funke" wieder zu glühen beginnen würde.

1 Der „Funke" – russisch: „Iskra". Die Red.

2 Im Text der Notiz: „Wie der ,Funke' beinahe erloschen wäre", in der die Verhandlungen Lenins und Potressows mit der Gruppe „Befreiung der Arbeit" im August 1900 geschildert werden, haben wir einige scharfe Ausdrücke Plechanows über den jüdischen „Bund" – insgesamt 5 Druckzeilen – weggelassen und durch Punkte ersetzt. [scharf" ist hier ein Euphemismus für antisemitisch". Die entsprechende Passage ist hier in Fußnote 12 in der ungekürzten Fassung der Werke" wiedergegeben. - WK]

3 Gemeint ist die „Spaltung", die zwischen der Gruppe „Befreiung der Arbeit" und der Mehrheit des „Auslandsbundes der russischen Sozialdemokraten" auf der zweiten Tagung des „Auslandsbundes" im April 1900 stattfand. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen der auf dem Standpunkt des orthodoxen Marxismus stehenden Gruppe und der zum Ökonomismus und Revisionismus neigenden Mehrheit des „Auslandsbundes" erreichten zu der Zeit einen solchen Umfang, dass sie die Gruppe und ihre Gesinnungsgenossen zwangen, die Tagung zu verlassen, die organisatorischen Beziehungen zum „Auslandsbund" abzubrechen und die neue revolutionäre Organisation „Sozialdemokrat“ zu gründen.

4 Das Wort „rechthaberisch" auch im Original deutsch. Die Red.

5 bis zum äußersten. Die Red.

6 Es ist nicht bekannt, welche Episode Plechanow im Auge hat, wenn er von dem (von Lenin?) erhaltenen „Befehl", „nicht auf Struve zu schießen", spricht. Dass in den Anschauungen Struves schon damals, als er sich noch für einen Marxisten hielt, Abweichungen vom Marxismus vorhanden waren, die seine weitere Evolution zum Revisionismus und zur bürgerlichen Apologetik vorausbestimmten, hatte Lenin rechtzeitig festgestellt, noch lange bevor die Verwandlung Struves in einen bürgerlichen Demokraten für alle revolutionären Sozialdemokraten, Plechanow mit inbegriffen, zu einer offensichtlichen Tatsache geworden war. Bereits in der ersten Hälfte des Jahres 1894, noch vor Erscheinen der „Kritischen Notizen" Struves, hatte es Lenin für notwendig gehalten, in dem Aufsatz „Was sind die Volksfreunde …?" ausdrücklich zu erklären, dass er mit verschiedenen Anschauungen Struves, die dieser im Artikel „Zur Frage der kapitalistischen Entwicklung Russlands" („Sozialpolitisches Zentralblatt" Nr. 1, Oktober 1893) vertreten hatte, nicht einverstanden sei. „Ich muss auch sagen – schrieb Lenin –, dass ich nicht mit allen von ihm (d. h. von Struve) geäußerten Meinungen einverstanden bin…" (Bd. 1 der Werke.)

Die im September 1894 erschienenen „Kritischen Notizen" Struves hat Lenin bereits damals, im Herbst 1894, in seinem Referat „Das Echo des Marxismus in der bürgerlichen Literatur" einer scharfen kritischen Analyse unterzogen. Dieses Referat bildete dann die Grundlage des Leninschen Artikels: „Der ökonomische Inhalt des Volkstümlertums und seine Kritik im Buche des Herrn Struve" (der Artikel ist Ende 1894 geschrieben und in dem von der Zensur vernichteten Sammelband „Materialien zur Charakteristik unserer wirtschaftlichen Entwicklung", 1895, veröffentlicht worden). Plechanow dagegen hat in seinem Buch „Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung" (Ende 1894) die revisionistischen Tendenzen im Buche Struves nicht aufgedeckt und sich von ihnen nicht abgegrenzt, im Gegenteil, er nahm Struve vollkommen unter seinen Schutz. Lenin konnte also, als er im Ausland weilte (Frühjahr bis Herbst 1895) und die Gruppe „Befreiung der Arbeit" besuchte, auf keinen Fall Plechanow den „Befehl" erteilt haben, „nicht auf Struve zu schießen". Es ist möglich, dass Plechanow irgendein Gespräch mit A. Potressow im Auge hatte, der ebenfalls ein hervorragender Vertreter der Petersburger Organisation war und ebenfalls im Jahre 1895 nach der Schweiz zu Plechanow gekommen war.

7 Im Septemberheft des „Nowoje Slowo" von 1897 veröffentlichte Struve einen Artikel: „Der internationale Kongress über die Arbeiterschutzgesetzgebung", in dem er im Zusammenhang mit einem Artikel von Engels erklärte, dass in der marxistischen Theorie, die in den vierziger Jahren entstanden ist, jetzt „bereits bei weitem nicht alles der Wirklichkeit entspreche" und dass „die soziale Katastrophe", die in den vierziger Jahren auf Grund objektiver materieller Produktionsbedingungen so nahe schien, jetzt nicht etwa in die Ferne gerückt, sondern ganz einfach aus dem realistischen Gesichtskreis verschwunden sei, ähnlich wie die alte Vorstellung von geologischen Kataklismen aus der geologischen Wissenschaft verschwunden ist". Plechanow, der am „Nowoje Slowo" mitarbeitete, hielt es nicht für notwendig, sich gegen die von Struve in der Zeitschrift vertretenen Anschauungen zu wenden. Das Schweigen Plechanows zu dieser Frage versetzte Lenin, der sich damals in Sibirien befand, in äußerste Verwunderung. Er schrieb aus diesem Anlass am 27. Juni 1899 an Potressow: „Ich begreife nur eins nicht, wie konnte Kamenski die Artikel Struves und Bulgakows gegen Engels im „Nowoje Slowo" unbeantwortet lassen? Können Sie mir das nicht erklären?" („Lenin-Sammelbuch" Nr. 4.)

8 Die Mitglieder des „Auslandsbundes der russischen Sozialdemokraten". Die Red.

9 In seinem gegen die Ökonomisten gerichteten „Vademecum" („Wegweiser" – Die Red.) für die Redaktion des Rabotscheje Djelo" (1908) veröffentlichte G. Plechanow zusammen mit anderen Dokumenten zwei Privatbriefe von prinzipieller Bedeutung: Der eine stammte von M. M. (E. D. Kuskowa – Verfasserin des „Credo"), der andere von G. (der Bundist „Grischin" – Z. Kopelsohn, ein damals hervorragendes Mitglied des „Auslandsbundes der russischen Sozialdemokraten"). Beide Briefe zeugten zweifellos von den revisionistischen Anschauungen ihrer Verfasser. Lenin solidarisierte sich übrigens voll und ganz mit dem Plechanowschen „Vademecum", sowohl offiziell in der Presse als auch im Briefwechsel mit den „Iskra-Leuten". In einem Brief an N. Krupskaja, der ungefähr zur gleichen Zeit geschrieben wurde, wie die Notiz „Wie der ,Funke" beinahe erloschen wäre", schrieb Lenin: „… gegenüber allen Anklagen, die gegen Plechanow erhoben werden, muss vor allem entschieden festgestellt werden, dass der ganze Sinn seiner Broschüre eben eine Kriegserklärung an die „schändlichen" Prinzipien des „Credismus" und des „Kuskowismus", eben eine prinzipielle Spaltung ist, die Spaltung, die „Rauferei" im Auslandsbund aber ist nur das Nebenprodukt dieser prinzipiellen Rauferei"

10 Der „dritte", das war J. O. Martow („Jegor"), der sich während der Verhandlungen Lenins und Potressows mit Plechanow und anderen Mitgliedern der Gruppe „Befreiung der Arbeit" noch in Südrussland befand und erst im März 1901 nach München kam, wo sich die Redaktion der „Iskra" niedergelassen hatte.

11 Der allgemeine Jüdische Arbeiterbund in Polen, Litauen und Russland („Bund"), dessen Tätigkeit sich hauptsächlich auf die Massen der jüdischen Handwerker erstreckte, war im September 1897 auf dem Gründungsparteitag der jüdischen sozialdemokratischen Gruppen in Wilna entstanden. Von den beiden Hauptorganen des „Bund" erschien die „Arbeiterstimme" illegal in Russland und der „Jüdische Arbeiter" in Genf, herausgegeben vom Auslandskomitee des „Bund". Im Jahre 1901 begann der „Bund" im Auslande ein Informationsblatt, „Letzte Nachrichten", herauszugeben (bis Januar 1906 erschienen 256 Nummern). In seiner Taktik und Politik stand der „Bund" den Ökonomisten näher als den „Iskra-Leuten".

Der „Bund" schloss sich auf dem ersten Parteitag im Jahre 1898 „als autonome, nur in den speziell das jüdische Proletariat betreffenden Fragen selbständige Organisation" der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands an. Auf seinem vierten Parteitag (im April 1901) nahm der „Bund" eine Resolution an, die das Prinzip der Autonomie durch das der Föderation ersetzte: „Indem der Parteitag die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands als die föderative Vereinigung der sozialdemokratischen Parteien aller Nationen des russischen Staates betrachtet, beschließt er, dass der ,Bund' als Vertreter des jüdischen Proletariats der Partei als föderativer Bestandteil beitritt; er beauftragt das Zentralkomitee des ,Bund', diesen Beschluss durchzuführen." Die Resolution des „Bund" über die Änderung seiner Lage in der Partei, ebenso wie die Resolution über die nationale Frage, die dem Nationalismus Zugeständnisse machte, rief sofort Erwiderungen der „Iskra"-Redaktion und eine Antwort des ZK des „Bund" hervor („Iskra" Nr. 7 und 8). Das „Rabotscheje Djelo" nahm den Resolutionen des vierten Parteitages des „Bund" gegenüber eine wohlwollende Haltung ein (s. B. Kritschewski: „Aus Anlass des vierten Parteitages des ,Bund', ,Rabotscheje Djelo' Nr. 11 und 12"). Die separatistischen Tendenzen des „Bund" entwickelten sich weiter und führten im Jahre 1903, im Zusammenhang mit der Vorbereitung des zweiten Parteitages, zu einer scharfen literarischen Auseinandersetzung der „Iskra" mit dem „Bund" über die Frage der Notwendigkeit einer selbständigen Arbeiterpartei für das jüdische Proletariat. Auf dem zweiten Parteitag der SDAPR im Jahre 1903 trat der „Bund" aus der Partei aus, nachdem der Parteitag seine Forderung, ihn als die einzige Vertretung des jüdischen Proletariats anzuerkennen und die Partei auf föderativer Grundlage aufzubauen, abgelehnt hatte.

12 Es fehlen einige Worte. Siehe Anm. 2. Die Red. In den „Werken“, Band 4, Berlin 1955, ist die Passage folgendermaßen wiedergegeben: „In der Frage unserer Stellung zum Jüdischen Verband („Bund") legte G. W. eine phänomenale Intoleranz an den Tag: er erklärte ihn direkt für eine nicht-sozialdemokratische, vielmehr einfach, ausbeuterische Organisation, die die Russen ausbeute, und sagte, unser Ziel sei, diesen „Bund" aus der Partei hinauszuwerfen, die Juden seien durchweg Chauvinisten und Nationalisten, und die russische Partei müsse russisch sein, sie dürfe sich nicht „in die Gefangenschaft" derer vom „Stamme Gads" begeben usw. Alle unsere Einwände gegen diese unanständigen Reden führten zu nichts, und G. W. beharrte voll und ganz auf seinem Standpunkt, wobei er sagte, wir kennten das Judentum einfach nicht genügend und besäßen keinerlei Lebenserfahrungen im Umgang mit Juden.

13 „Bobo" – P. B. Struve.

14 Anscheinend L. I. Axelrod (Orthodox) – später eine bekannte marxistische Schriftstellerin, die über Fragen des philosophischen Materialismus schrieb; Verfasserin einer Reihe von Arbeiten (gesammelt in Sammelbänden: „Philosophische Skizzen" 1906, „Gegen den Idealismus" 1922). In der „Sarja" sind von ihren Artikeln folgende veröffentlicht: „Warum wollen wir nicht zurückgehen?" (gegen Berdjajew) in Nr. 2–3 und „Über einige philosophische Übungen einiger ,Kritiker'" (gegen Struve) in Nr. 4.

15 Die „Neue Zeit" war die wissenschaftliche Zeitschrift der deutschen Sozialdemokratie, die von 1883 bis 1922 erschien. Bis zum Kriege wurde die Zeitschrift von K. Kautsky redigiert. In der Periode von 1899 bis 1902 arbeiteten A. Bebel, E. Bernstein, H. Cunow, P. Lafargue, W. Liebknecht, Fr. Mehring, E. Vandervelde, A. Labriola, C. Zetkin, R. Luxemburg, Parvus, V. Adler u. a. an der „Neuen Zeit" mit.

Im Jahre 1897 begann E. Bernstein in der „Neuen Zeit" – ohne irgendwelche Vorbehalte von Seiten der Redaktion – seine revisionistischen „Probleme des Sozialismus" zu veröffentlichen. Einer seiner Artikel aus der ersten Serie der „Probleme", der einen ablehnenden Standpunkt zur Theorie des unausbleiblichen Zusammenbruchs der kapitalistischen Gesellschaft und des revolutionären Umsturzes („Zusammenbruchstheorie") einnahm, rief den scharfen Einspruch Parvus' hervor, der das Entstehen des Revisionismus in der deutschen Sozialdemokratie feststellte. Nach der Veröffentlichung der zweiten Serie der Bernsteinschen „Probleme" („Das realistische und das ideologische Moment im Sozialismus") in den Nummern 34 und 39 des Jahrganges 1897/98 der „Neuen Zeit", sah sich die Redaktion der „Neuen Zeit" gezwungen, in Zusammenhang mit der offenkundigen Revision aller Grundprinzipien des Marxismus durch Bernstein eine Diskussion in den Spalten der Zeitschrift zu eröffnen. Als erster Diskussionsartikel erschien der Artikel G. Plechanows „Bernstein und der Materialismus" in Nummer 44 der „Neuen Zeit" vom 19. Juli 1898, dann folgten die Artikel Plechanows gegen Konrad Schmidt, dem Bernstein, wie er selbst sagt, seine Schwenkung in der Philosophie vom Materialismus zum Kantianismus verdankte. (Plechanows Artikel: „Konrad Schmidt gegen Karl Marx und Friedrich Engels – in Nummer 5 vom November 1898 und „Materialismus oder Kantianismus" – in den Nummern 19 und 20.) Im gleichen Jahre 1898 wandte sich Plechanow mit einem offenen Brief an Kautsky aus Anlass der nicht genügend eindeutigen Stellungnahme dieses letzteren im Streit zwischen den Orthodoxen und den Revisionisten. Später veröffentlichte die Redaktion der „Neuen Zeit" die Bernsteinschen Artikel nicht mehr, und Bernstein gab sie als ein besonderes Buch heraus (das bekannte Buch Bernsteins, das Evangelium des Revisionismus: „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie", erschien im März 1899 im Dietz-Verlag). Die Artikel Plechanows über philosophische Fragen aus dieser Periode sind im elften Bande seiner Gesamm. Werke erschienen.

16 In der Tat. Die Red.

17 Die revolutionäre Organisation „Sozialdemokrat" entstand, nach der Spaltung des „Auslandsbundes der russischen Sozialdemokraten" auf der zweiten Tagung des Auslandsbundes (April 1900 in Genf), und zwar aus der Gruppe „Befreiung der Arbeit" und den Mitgliedern des „Auslandsbundes" (Blumenfeld, Lindow, Goldenberg-Meschkowski, Kolzow, u. a.), die die Gruppe in ihrem Kampfe gegen die Mehrheit des „Auslandsbundes" unterstützt und zusammen mit ihr den zweiten Parteitag verlassen halten. Die Organisation (zunächst war beabsichtigt, sie „Russischer sozialdemokratischer Verband" zu nennen) bestand bis Oktober 1901, wo sie zusammen mit der Gruppe „Iskra" und „Sarja" die „Auslandsliga der revolutionären Sozialdemokratie" bildete. Unter der Firma des „Sozialdemokrat" erschien „Die Rote Fahne in Russland" (Martow), „Aus dem Tagebuch eines Sozialdemokraten" (Plechanow) und die Übersetzungen einiger ausländischer Broschüren.

18 Das Wort „fertig" auch im Original deutsch. Die Red.

19 Das Wort „Streber" hier und weif er auch im Original deutsch. Die Red.

20 Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor. Die Red.

21 N. – Nürnberg, wo Lenin sich auf der Durchreise von Genf nach München aufhielt (nach der Konferenz der „Iskra"-Gruppe und der Gruppe „Befreiung der Arbeit").

22 Der Entwurf des Vertrages, der von Lenin in den ersten Septembertagen auf der Eisenbahnfahrt geschrieben wurde, ist uns unbekannt. Im Archiv des Lenininstituts befindet sich ein auf der Schreibmaschine geschriebener späterer Entwurf, der vom 6. Oktober datiert ist und im Wesentlichen auch von Lenin zu stammen scheint.

Der Text dieses Vertrages lautet:

1. Die Zeitschrift ,Sarja' und die Zeitung ,Iskra' werden von der Gruppe russischer Sozialdemokraten unter redaktioneller Mitarbeit der Gruppe Befreiung der Arbeit' herausgegeben und redigiert.

2. Die Redaktion stellt alle prinzipiellen Artikel, sowie die Artikel, die von besonders großer Bedeutung sind, wenn dies nicht aus redaktionstechnischen Gründen unmöglich ist –, allen Mitgliedern der Gruppe ,Befreiung der Arbeit' zu.

3. Die Mitglieder der Gruppe ,Befreiung der Arbeit' haben über alle Fragen der Redaktion mit abzustimmen, und zwar persönlich, wenn sie sich am Aufenthaltsort der Redaktion befinden, schriftlich, wenn ihnen die Artikel zugestellt werden müssen.

4. Im Falle von Meinungsverschiedenheiten mit der Gruppe ,Befreiung der Arbeit' verpflichtet sich die Redaktion, die besondere Meinung der Gruppe oder jedes einzelnen ihrer Mitglieder ungekürzt zum Abdruck zu bringen.

5. Zu veröffentlichen ist nur der erste Punkt dieser Vereinbarung.

Kommentare