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Wladimir I. Lenin 19000400 Entwurf einer Ankündigung der Redaktion der „Iskra" und der „Sarja"

Wladimir I. Lenin: Entwurf einer Ankündigung der Redaktion der „Iskra" und der „Sarja"1

[Geschrieben im Frühjahr 1900 vor der Abreise nach dem Auslande. Zum ersten Mal veröffentlicht 1925 im Lenin-Sammelbuch Nr. 4. Nach Sämtliche Werke, Band 4, Wien-Berlin 1928, S. 3-15]

Indem wir an die Herausgabe zweier sozialdemokratischer Organe, einer wissenschaftlich-politischen Zeitschrift und einer allgemein-russischen Arbeiterzeitung, herangehen, halten wir es für notwendig, einige Worte zu sagen über unser Programm, über das, was wir anstreben und wie wir unsere Aufgaben auffassen.

Wir durchleben jetzt einen äußerst wichtigen Augenblick der Geschichte der russischen Arbeiterbewegung und der russischen Sozialdemokratie; alles weist augenscheinlich darauf hin dass unsere Bewegung sich in einem kritischen Stadium befindet – sie hat sich so weit ausgebreitet, sie hat in den verschiedensten Winkeln Russlands so kräftig Wurzeln geschlagen, dass jetzt mit unaufhaltsamer Kraft ihr Bestreben zum Ausdruck kommt sich zu konsolidieren, eine höhere Form anzunehmen, ein bestimmtes Gesicht und eine Organisation herauszuarbeiten. Kennzeichnend für die letzten Jahre ist eine erstaunlich rasche Verbreitung der sozialdemokratischen Ideen in den Kreisen unserer Intellektuellen und dieser Strömung des sozialen Denkens kommt die absolut selbständige, spontane Bewegung des Industrieproletariats entgegen, das sich zum Kampfe gegen seine Unterdrücker zu vereinigen beginnt und leidenschaftlich zum Sozialismus strebt. Überall entstehen Zirkel von Arbeitern und sozialdemokratischen Intellektuellen, es erscheinen örtliche Flugblätter, es wächst, das Angebot weit überholend, die Nachfrage nach sozialdemokratischer Literatur – und auch die verstärkten Repressalien der Regierung sind nicht imstande, diese Bewegung aufzuhalten. Die Gefängnisse sind vollgepfropft, die Verbannungsorte überfüllt, fast jeden Monat hört man von „hochgegangenen" Sozialisten an allen Ecken und Enden Russlands, von abgefangenen Transporten von verhafteten Agitatoren, von beschlagnahmten Druckschriften und Druckereien, – aber die Bewegung steht nicht still, sie wächst immer mehr an, erfasst ein immer größeres Gebiet, gewinnt immer mehr an Boden in der Arbeiterklasse und lenkt in immer steigendem Maße die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Die gesamte wirtschaftliche Entwicklung Russlands, die ganze Geschichte des sozialen Denkens und der revolutionären Bewegung Russlands bürgen dafür, dass die sozialdemokratische Arbeiterbewegung, allen Hindernissen zum Trotz, wachsen und sie überwinden wird.

Das Hauptmerkmal unserer Bewegung, das in letzter Zeit besonders in die Augen springt, ist ihre Zersplitterung, ihr, wenn man so sagen kann, handwerksmäßiger Charakter: die örtlichen Zirkel entstehen und wirken unabhängig von den Zirkeln anderer Orte und sogar (was besonders wichtig ist) unabhängig von den Zirkeln, die gleichzeitig an den gleichen Orten tätig waren und tätig sind; es wird keine Tradition und keine Kontinuität geschaffen, und die örtliche Literatur spiegelt diese Zersplitterung voll und ganz wider, spiegelt wider den Mangel an Verbindung mit dem, was die russische Sozialdemokratie bereits geschaffen hat. Wir halten die jetzige Periode gerade deshalb für kritisch, weil die Bewegung über diese Handwerksmäßigkeit und diese Zersplitterung hinauswächst und den Übergang zu einer höheren, geschlosseneren, vollkommeneren und besser organisierten Form, die zu schaffen wir für unsere Pflicht halten, dringend verlangt. Selbstverständlich ist in einer gewissen Periode der Bewegung, zu ihrem Beginn, eine solche Zersplitterung ganz unvermeidlich, und das Fehlen der Kontinuität bei einem so überraschend schnellen und allgemeinen Wachstum der Bewegung nach einer langen Periode revolutionären Stillstands eine natürliche Erscheinung. Es unterliegt auch keinem Zweifel, dass die Mannigfaltigkeit der örtlichen Bedingungen, die Verschiedenartigkeit der Lage der Arbeiterklasse in den einzelnen Gebieten und schließlich auch die Besonderheiten in den Anschauungen der an den einzelnen Orten tätigen Genossen immer bestehen werden und dass gerade diese Mannigfaltigkeit von der Lebensfähigkeit der Bewegung und ihrem gesunden Wachstum zeugt. Das alles ist richtig, doch sind die Zersplitterung und die Unorganisiertheit der Bewegung durchaus keine notwendige Folge dieser Verschiedenartigkeit. Die Wahrung der Kontinuität der Bewegung, ihre Zusammenfassung schließen durchaus nicht die Verschiedenartigkeit aus, im Gegenteil, sie schaffen ihr sogar einen breiteren Raum und ein freies Betätigungsfeld. Im gegenwärtigen Stadium der Bewegung aber beginnt diese Zersplitterung sich direkt schädlich auszuwirken und droht, die Bewegung auf eine falsche Bahn zu lenken: der enge Praktizismus, losgelöst von der theoretischen Beleuchtung der Bewegung in ihrer Gesamtheit, kann den Zusammenhang zwischen dem Sozialismus und der revolutionären Bewegung in Russland einerseits und der spontanen Arbeiterbewegung andererseits zerstören. Dass diese Gefahr keine eingebildete ist, dafür zeugen literarische Erzeugnisse von der Art des Credo2, das bereits einen durchaus berechtigten Protest und seine Verurteilung hervorgerufen hat, ferner die „Sonderbeilage" zur „Rabotschaja Mysl" (September 1899)3. In dieser Beilage kommt die Tendenz, von der die ganze Zeitung „Rabotschaja Mysl" durchdrungen ist, besonders plastisch zum Ausdruck, in ihr beginnt eine besondere Richtung der russischen Sozialdemokratie in Erscheinung zu treten, und zwar eine Richtung, die direkten Schaden anrichten kann und die bekämpft werden muss. Die russische legale Literatur aber, mit jener Parodie auf den Marxismus, die das soziale Bewusstsein nur zu korrumpieren vermag, steigert noch diese Zerfahrenheit und diese Anarchie, die dem berühmten (durch seinen Bankrott berühmten) Bernstein die Möglichkeit gab, öffentlich, vor aller Welt die Unwahrheit zu verkünden, dass die Mehrheit der in Russland wirkenden Sozialdemokraten zu ihm stehe4.

Es wäre verfrüht, ein Urteil darüber fällen zu wollen, wie tief diese Meinungsverschiedenheiten gehen, inwieweit die Herausbildung einer besonderen Richtung wahrscheinlich ist (wir sind durchaus nicht geneigt, diese Fragen jetzt schon im bejahenden Sinne zu beantworten, wir haben die Hoffnung auf die Möglichkeit einer Zusammenarbeit noch nicht aufgegeben), doch wäre es weit schädlicher, den Ernst der Lage nicht sehen zu wollen, als diese Meinungsverschiedenheiten zu übertreiben, und wir begrüßen von ganzem Herzen die Wiederaufnahme der literarischen Tätigkeit durch die Gruppe „Befreiung der Arbeit" und den von ihr begonnenen Kampf gegen die Versuche, den Sozialdemokratismus zu entstellen und zu verflachen5.

Die praktische Schlussfolgerung aus all dem ist folgende: wir russische Sozialdemokraten müssen uns vereinigen und alle Anstrengungen auf die Bildung einer einheitlichen und starken Partei richten, die unter dem Banner des revolutionären sozialdemokratischen Programms kämpft, die Kontinuität der Bewegung wahrt und ihre Organisiertheit systematisch unterstützt. Diese Schlussfolgerung ist nicht neu. Die russischen Sozialdemokraten sind schon vor zwei Jahren zu diesem Schluss gelangt, als die Vertreter der größten sozialdemokratischen Organisationen Russlands im Frühjahr 1898 auf ihrem Parteitag die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands gründeten, ihr „Manifest" veröffentlichten und die „Rabotschaja Gazeta" als das offizielle Organ der Partei anerkannten6. Als Mitglieder der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands teilen wir voll und ganz die Grundgedanken des Manifestes, dem wir als der öffentlichen Kundgabe der Ziele unserer Partei eine sehr große Bedeutung beimessen. Darum muss für uns, als Mitglieder der Partei, die Frage nach unseren nächsten und unmittelbaren Aufgaben folgendermaßen lauten: Nach welchem Plan müssen wir arbeiten, um einen möglichst soliden Wiederaufbau der Partei zu erreichen? Manche Genossen (und sogar einige Gruppen und Organisationen) sind der Ansicht, dass man zu diesem Zwecke von neuem eine Parteileitung wählen und sie mit der Wiederherausgabe des Parteiorgans beauftragen müsse7. Wir halten einen solchen Plan für falsch oder zumindest für gewagt. Die Partei schaffen und festigen heißt die Vereinigung aller russischen Sozialdemokraten schaffen und festigen, eine solche Vereinigung aber lässt sich nicht einfach dekretieren, sie kann auch nicht durch den Beschluss z. B. irgendeiner Versammlung von Vertretern herbeigeführt, sondern muss allmählich geschaffen werden. Es ist erstens notwendig, eine allgemeine Parteiliteratur zu schaffen, allgemein nicht nur in dem Sinne, dass sie im Dienste der gesamten russischen Bewegung und nicht nur einzelner Gebiete steht, dass sie die Fragen der gesamten Bewegung – und nicht nur örtliche Fragen – behandelt und den Kampf des klassenbewussten Arbeiters unterstützt, sondern allgemein auch in dem Sinne, dass sie alle vorhandenen literarischen Kräfte zusammenfasst, alle Schattierungen in den Meinungen und Ansichten innerhalb der russischen Sozialdemokratie zum Ausdruck bringt, und zwar nicht als Meinungen und Ansichten vereinzelter Parteiarbeiter, sondern als die von Genossen, die durch das gemeinsame Programm und den gemeinsamen Kampf in den Reihen ein und derselben Organisation miteinander verbunden sind. Zweitens ist es notwendig, eine Organisation zu schaffen, die speziell der Aufrechterhaltung der Verbindung zwischen allen Zentren der Bewegung dient, die ausreichende und rechtzeitige Informationen über die Bewegung liefert und alle Teile Russlands mit der periodisch erscheinenden Presse regelmäßig versorgt. Erst wenn eine solche Organisation zustande kommt, wenn ein russischer sozialistischer Postdienst besteht, wird die Partei eine solide Grundlage erhalten, erst dann wird die Partei zu einer realen Tatsache und damit auch zu einer einflussreichen politischen Macht werden. Der ersten Hälfte dieser Aufgabe, d. h. der Schaffung einer allgemeinen Literatur, beabsichtigen wir unsere Kräfte zu widmen, da wir darin ein Lebensbedürfnis der gegenwärtigen Bewegung und einen notwendigen vorbereitenden Schritt zur Wiederaufnahme der Tätigkeit der Partei erblicken.

Aus diesem Charakter unserer Aufgabe ergibt sich natürlicherweise auch das Programm, das für die von uns herausgegebenen Organe als Richtlinie dienen muss. In ihnen muss den theoretischen Fragen, d. h. sowohl der allgemeinen Theorie des Sozialdemokratismus als auch ihrer Anwendung auf die russische Wirklichkeit, viel Platz eingeräumt werden. Die Unaufschiebbarkeit einer umfassenden Behandlung dieser Fragen steht gerade in der jetzigen Zeit außerhalb jeden Zweifels und bedarf nach dem oben Gesagten keiner weiteren Erläuterung. Es ist selbstverständlich, dass in untrennbarer Verbindung mit den Fragen der allgemeinen Theorie die Einführung in die Arbeiterbewegung des Westens stehen muss, die Einführung in ihre Geschichte, in den gegenwärtigen Stand der Bewegung. Ferner stellen wir uns die systematische Erörterung aller politischen Fragen zur Aufgabe: die sozialdemokratische Arbeiterpartei muss auf alle Fragen reagieren, die auf den verschiedenen Gebieten des Lebens auftauchen, auf die Fragen der inneren und der äußeren Politik, und wir müssen danach streben, dass jeder Sozialdemokrat und jeder klassenbewusste Arbeiter sich in allen grundlegenden Fragen eine bestimmte Meinung bildet, – ohne diese Vorbedingung ist eine breitangelegte und planmäßige Propaganda und Agitation unmöglich. Die Erörterung der theoretischen und politischen Fragen wird mit der Ausarbeitung des Parteiprogramms verknüpft werden, dessen Notwendigkeit bereits vom Parteitag des Jahres 1898 anerkannt worden ist. Wir beabsichtigen, in nächster Zeit den Entwurf eines Programms zu veröffentlichen, dessen eingehende Erörterung genügendes Material für den künftigen Parteitag liefern soll, dessen Aufgabe es sein wird, ein Programm anzunehmen8. Ferner halten wir die Erörterung der Organisationsfragen und der praktischen Arbeitsmethoden für eine besonders dringende Aufgabe. Die fehlende Kontinuität und die Zersplitterung, von denen oben die Rede war, wirken sich besonders schädlich in dem gegenwärtigen Stand der Parteidisziplin, der Organisation und der konspirativen Technik aus. Es muss offen zugegeben werden, dass wir Sozialdemokraten in dieser Hinsicht hinter den alten Kämpfern der russischen revolutionären Bewegung und den übrigen in Russland tätigen Organisationen zurückgeblieben sind und dass wir alle Kräfte anspannen müssen, um diese Mängel zu beseitigen. Der breite Zustrom der proletarischen und der intellektuellen Jugend zu unserer Bewegung, das häufige Auffliegen der Organisationen und die raffinierten Gewaltmaßnahmen der Regierung stellen uns vor die dringende Aufgabe, eine Schulungsarbeit einzuleiten auf dem Gebiete der Grundsätze und Methoden der Parteiorganisation, der Disziplin und der konspirativen Technik.

Eine solche Propaganda kann und muss – wenn sie von allen einzelnen Gruppen und allen erfahrenen Genossen unterstützt wird – dazu beitragen, junge Sozialisten und Arbeiter zu tüchtigen Führern der revolutionären Bewegung heranzubilden, die imstande wären, alle Hindernisse zu überwinden, die unserer Arbeit unter dem Drucke des absolutistischen Polizeistaates entstehen, und allen Anforderungen der Arbeitermasse zu genügen, die spontan zum Sozialismus und zum politischen Kampf drängt. Schließlich muss die Analyse dieser spontanen Bewegung (sowohl in den Arbeitermassen als auch unter unsern Intellektuellen), im Zusammenhang mit den oben erwähnten Problemen, eine unserer Hauptaufgaben sein: wir müssen uns klar werden über die soziale Bewegung in der Intelligenz, die in Russland die zweite Hälfte der neunziger Jahre kennzeichnet und die gleichzeitig verschiedene und oft verschiedenartige Strömungen in sich vereinigt; wir müssen die Lage der Arbeiterklasse auf allen Gebieten der Volkswirtschaft eingehend studieren, die Formen und Bedingungen ihres Erwachens, ihres beginnenden Kampfes, um den marxistischen Sozialismus, der auf russischem Boden bereits Wurzel zu fassen beginnt, und die russische Arbeiterbewegung zu einem unlösbaren Ganzen zu verknüpfen, um die russische revolutionäre Bewegung mit dem spontanen Aufschwung der Volksmassen zu verbinden. Erst wenn ein solches Band geschaffen sein wird, wird in Russland eine sozialdemokratische Arbeiterpartei entstehen können, denn Sozialdemokratie, das heißt, nicht sich nur in den Dienst der spontanen Arbeiterbewegung stellen (wie einige zeitgenössische „Praktiker" bei uns zuweilen zu glauben geneigt sind), Sozialdemokratie bedeutet die Verknüpfung des Sozialismus mit der Arbeiterbewegung. Nur eine solche Verknüpfung ermöglicht dem russischen Proletariat die Erfüllung seiner ersten politischen Aufgabe: die Befreiung Russlands von dem Drucke des Absolutismus.

Was die Verteilung der von uns ins Auge gefassten Themen und Fragen zwischen Zeitschrift und Zeitung anbetrifft, so wird diese Verteilung ausschließlich von dem verschiedenen Umfange dieser Organe abhängen, ferner von der Verschiedenheit ihres Charakters: die Zeitschrift muss vorwiegend der Propaganda, die Zeitung der Agitation dienen. Doch sowohl in der Zeitschrift wie in der Zeitung müssen alle Seiten der Bewegung ihre Widerspiegelung finden, und wir möchten hier besonders unterstreichen, dass wir absolut dagegen sind, dass die Arbeiterzeitung ausschließlich das veröffentlicht, was die spontane Arbeiterbewegung am nächsten und unmittelbarsten berührt, und dem Blatt der Intellektuellen alles überlassen bleibt, was ins Gebiet der Theorie des Sozialismus, ins Gebiet der Wissenschaft, der Politik, der Fragen der Parteiorganisation usw. fällt. Im Gegenteil, notwendig ist eben die Verbindung aller konkreten Tatsachen und Erscheinungen der Arbeiterbewegung mit den erwähnten Fragen, notwendig ist die theoretische Beleuchtung eines jeden Einzelfalles, notwendig ist die Propaganda der politischen und parteiorganisatorischen Fragen in den breitesten Massen der Arbeiterklasse, notwendig ist das Hineintragen dieser Fragen in die Agitation. Die bisher fast ausschließlich herrschende Agitationsform, die Agitation durch lokale Flugblätter, genügt nicht mehr: sie ist zu beschränkt, denn sie behandelt nur lokale und vorwiegend wirtschaftliche Fragen. Es muss der Versuch gemacht werden, eine höhere Form von Agitation zu schaffen – durch die Zeitung, die die Klagen der Arbeiterschaft, die Arbeiterstreiks und die anderen Formen des proletarischen Kampfes periodisch registriert, über alle Äußerungen des politischen Druckes in Russland berichtet und aus jeder dieser Tatsachen vom Standpunkte des Endzieles des Sozialismus und der politischen Aufgaben des russischen Proletariats bestimmte Schlüsse zieht. „Den Rahmen ausdehnen und den Inhalt unserer propagandistisch-agitatorischen und organisatorischen Tätigkeit erweitern" – diese Worte P. B. Axelrods müssen zur Losung werden, die die Tätigkeit der russischen Sozialdemokraten in nächster Zeit bestimmt, und wir nehmen diese Losung in das Programm unserer Organe auf9.

Hier taucht natürlicherweise folgende Frage auf: Wenn die von uns geplanten Organe dem Zwecke der Vereinigung aller russischen Sozialdemokraten und ihrer Zusammenfassung zu einer Partei dienen sollen, so müssen sich in ihnen alle Schattierungen und Meinungen, alle lokalen Besonderheiten, die ganze Mannigfaltigkeit der praktischen Methoden widerspiegeln. Wie aber diese Zusammenfassung der verschiedenartigen Standpunkte mit der redaktionellen Einheitlichkeit der Organe in Einklang bringen? Sollen diese Organe ein einfacher Sammelplatz der verschiedensten Auffassungen sein oder sollen sie eine eigene, selbständige, ganz bestimmte Richtung haben?

In eben diesem letztgenannten Sinne entscheiden wir diese Fragen und hoffen, dass das Organ einer ganz bestimmten Richtung werden kann (wie wir weiter unten nachweisen werden) sowohl für die Darlegung der verschiedenen Gesichtspunkte als auch für eine kameradschaftliche Polemik unter den Mitarbeitern. Wir stehen unseren Anschauungen nach völlig auf dem Boden der grundlegenden Ideen des Marxismus (wie sie im .Kommunistischen Manifest" und in den Programmen der westeuropäischen Sozialdemokraten zum Ausdruck kommen), wir treten für eine konsequente Entwicklung dieser Ideen im Geiste von Marx und Engels ein und lehnen ganz entschieden jene halben und opportunistischen Korrekturen ab, die jetzt dank Bernstein so sehr zur Mode geworden sind. Wir sehen die Aufgabe der Sozialdemokratie in der Organisierung des proletarischen Klassenkampfes, in der Forderung dieses Kampfes, im Hinweis auf sein notwendiges Endziel, in der Analyse der Bedingungen, die die Methoden der Führung dieses Kampfes bestimmen. „Die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein."10 Wenn wir die Sozialaltdemokratie von der Arbeiterbewegung nicht trennen wollen, dürfen wir nicht vergessen, dass es ihre Aufgabe ist, die Interessen dieser Bewegung in allen Ländern in ihrer Gesamtheit zu vertreten, dass sie keineswegs in eine blinde Anbetung der einen oder der anderen einzelnen Phase, in der sich die Bewegung zu dieser oder einer anderen Zeit an diesem oder einem anderen Orte befindet, verfallen darf. Wir halten es für die Pflicht der Sozialdemokratie, jegliche revolutionäre Bewegung gegen die bestehende staatliche und soziale Ordnung zu unterstützen, und sehen ihr Ziel in der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse, in der Expropriierung der Expropriateure und in der Errichtung der sozialistischen Gesellschaft. Wir lehnen auf das entschiedenste jeden Versuch ab, den revolutionären Charakter der Sozialdemokratie, der Partei der sozialen Revolution, die allen auf dem Boden der heutigen Gesellschaftsordnung stehenden Klassen schonungslos feindlich gegenübersteht, abzuschwächen oder zu vertuschen. Insbesondere halten wir die Niederwerfung des Absolutismus für die geschichtliche Aufgabe der russischen Sozialdemokratie: die russische Sozialdemokratie ist berufen, die Vorkämpferin der russischen Demokratie zu sein, sie ist berufen, das Ziel zu verwirklichen, das ihr durch die ganze soziale Entwicklung in Russland gestellt ist und das ihr die ruhmreichen Kämpfer der russischen revolutionären Bewegung als Vermächtnis hinterlassen haben. Nur wenn sie den wirtschaftlichen Kampf mit dem politischen aufs Innigste verknüpft, wenn sie die politische Propaganda und Agitation unter immer breitere Schichten der Arbeiterklasse trägt, wird die Sozialdemokratie ihre Mission erfüllen können.

Von diesem Gesichtspunkte aus (der hier in ganz allgemeinen Linien geschildert ist, da er von der Gruppe „Befreiung der Arbeit", dem „Manifest der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands" und seinem „Kommentar"11 – der Broschüre „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten*", ferner von der Broschüre „Die Sache der Arbeiter in Russland" [Begründung des Programms der russischen Sozialdemokratie]12 bereits mehrfach eingehend dargestellt und begründet wurde) werden wir alle theoretischen und praktischen Fragen beleuchten, und wir werden bemüht sein, mit den Ideen, auf die wir hingewiesen haben, alle Äußerungen der Arbeiterbewegung und des demokratischen Protestes in Russland zu verknüpfen.

Obwohl sich aber unsere literarische Arbeit in einer ganz bestimmten Richtung bewegen wird, beabsichtigen wir durchaus nicht alle Einzelheiten unserer Auffassungen für die Auffassungen russischen Sozialdemokraten auszugeben, wie wir auch durchaus nicht die Absicht haben, die vorhandenen Meinungsverschiedenheiten zu leugnen, zu vertuschen oder zu verwischen. Im Gegenteil, wir wollen, dass unsere Organe zu Diskussionsorganen werden für alle Fragen, die die russischen Sozialdemokraten der verschiedensten Schattierungen bewegen. Gegen eine Polemik unter den Genossen in unseren Presseorganen haben wir nicht nur nichts einzuwenden, sondern wir sind im Gegenteil bereit, ihr sehr viel Platz einzuräumen. Eine offene Polemik vor allen russischen Sozialdemokraten und klassenbewussten Arbeitern ist notwendig und wünschenswert, um die Tiefe der bestehenden Meinungsverschiedenheiten klarzulegen, die strittigen Fragen allseitig zu erörtern, den Kampf gegen die Extreme aufzunehmen, die die Vertreter verschiedener Auffassungen, verschiedener Gegenden oder verschiedener „Zweige" der revolutionären Bewegung unvermeidlich verfallen. Wir sind sogar der Meinung, dass das Fehlen einer offenen Polemik zwischen offensichtlich auseinandergehenden Anschauungen, das Bestreben, die Meinungsverschiedenheiten in sehr wichtigen Fragen verborgen zu halten, einer der Mängel der gegenwärtigen Bewegung ist.

Mehr noch: wir sehen in der russischen Arbeiterklasse und in der russischen Sozialdemokratie die Vorkämpferin für die Demokratie, für die politische Freiheit, und wir halten es daher für notwendig, danach zu streben, dass unsere Presseorgane zu allgemein-demokratischen Organen werden, nicht in dem Sinne, dass wir auch nur eine Minute lang den Klassenantagonismus zwischen dem Proletariat und den anderen Klassen vergessen könnten, nicht in dem Sinne, dass wir die leiseste Verwischung des Klassenkampfes zulassen würden, – nein, sondern in dem Sinne, dass wir alle demokratischen Fragen aufrollen und erörtern, ohne uns auf eng proletarische Fragen zu beschränken, dass wir alle Fälle und Erscheinungen der politischen Unterdrückung erörtern, den Zusammenhang zwischen der Arbeiterbewegung und dem politischen Kampf in allen seinen Formen aufzeigen, alle ehrlichen Kämpfer gegen den Absolutismus, welcher Anschauungen sie auch seien, welchen Klassen sie auch angehören mögen, heranziehen, sie für die Unterstützung der Arbeiterklasse, als der einzigen revolutionären und dem Absolutismus unwiderruflich feindlich gesinnten Macht, gewinnen. Wenn wir uns nun in erster Linie an die russischen Sozialisten und klassenbewussten Arbeiter wenden, so wollen wir uns darum doch nicht ausschließlich auf sie beschränken. Wir appellieren auch an alle, die durch die gegenwärtige politische Ordnung Russlands unterdrückt und geknechtet werden, die die Befreiung des russischen Volkes aus seiner politischen Sklaverei anstreben, wir fordern sie auf, die Presse zu unterstützen, die ihre Kräfte der Organisierung der Arbeiter in einer revolutionären politischen Partei widmet, wir öffnen ihnen die Spalten unserer Presse, damit sie dort die ganze Niedertracht und alle Verbrechen des russischen Absolutismus aufdecken. Wir rufen sie auf, in der Überzeugung, dass das Banner des politischen Kampfes, das die russische Sozialdemokratie erhebt, zur Fahne des gesamten Volkes werden kann und muss.

Die Aufgaben, die wir uns stellen, sind außerordentlich weitgehend und umfassend, und wir hätten es nicht gewagt, an solche Aufgaben heranzugehen, wenn wir auf Grund unserer gesamten Erfahrung nicht die unerschütterliche Überzeugung gewonnen hätten, dass das die dringendsten Aufgaben der gesamten Bewegung sind; wenn wir uns nicht die Sympathie und das Versprechen einer allseitigen und dauernden Unterstützung gesichert hätten, 1. von seilen einiger Organisationen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands und einzelner in verschiedenen Städten tätigen Gruppen russischer Sozialdemokraten; 2. von Seiten der Gruppe „Befreiung der Arbeit", die die russische Sozialdemokratie gegründet und immer an der Spitze ihrer Theoretiker und Schriftsteller gestanden hat; 3. von Seiten einer ganzen Anzahl von Personen, die keiner Organisation angehören, die aber mit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung sympathisieren und ihr nicht wenig Dienste erwiesen haben. Wir werden alles daran setzen. um den von uns gewählten Teil der allgemeinen revolutionären Arbeit in richtiger Weise durchzuführen, und wir streben danach, dass alle russischen Genossen unsere Presse als ihr Organ betrachten, dem jede Gruppe alle Informationen über die Bewegung gibt, dem sie Mitteilung macht über ihre Ansichten, über ihre Anforderungen, die sie an die Parteiliteratur stellt, über ihre Erfahrungen, ihre Beurteilung der sozialdemokratischen Schriften, dem sie mit einem Wort alles mitteilt, was sie in die Bewegung hineinbringt und was sie aus ihr herausholt. Nur unter dieser Bedingung wird die Schaffung eines tatsächlich allgemein-russischen sozialdemokratischen Organs möglich sein. Die russische Sozialdemokratie fühlt sich bereits beengt in der Illegalität, in der die einzelnen Gruppen und zersplitterten Zirkel arbeiten; es ist an der Zeit, dass sie den Weg der offenen Propaganda des Sozialismus, den Weg des offenen politischen Kampfes beschreitet, – und die Herausgabe eines allrussischen sozialdemokratischen Organs muss der erste Schritt auf diesem Wege sein.

1 Der Gedanke der Herausgabe einer allgemein-russischen Zeitung – der künftigen „Iskra" – beschäftigte Lenin bereits in der Verbannung. Den breit angelegten Plan der Herausgabe „eines regelmäßig erscheinenden und mit allen Ortsgruppen eng verbundenen Parteiorgans" propagierte Lenin in den Artikeln, die er im Jahre 1899 für Nr. 3 der „Rabotschaja Gazeta" geschrieben hatte, die aber zu jener Zeit das Licht der Welt nicht erblickten, sondern erst im Jahre 1925 veröffentlicht wurden. Den gleichen Gedanken entwickelte Lenin in seinen Briefen an J. O. Martow und A. N. Potressow, die sich zur Teilnahme an dem neuen literarischen Unternehmen („Dreibund") bereit erklärt hatten, ferner in Konferenzen mit seinen nächsten Freunden aus dem Petersburger „Kampfbund" und aus der Verbannung (N. Krupskaja, G. Krschischanowski u. a.). Es war beabsichtigt, die Zeitung im Auslande in enger Zusammenarbeit mit der von G. Plechanow geführten Gruppe „Befreiung der Arbeit" erscheinen zu lassen. Nach seiner Rückkehr aus der Verbannung nach Russland unternahm Lenin, der sich vor seiner Reise ins Ausland vorübergehend in Pskow niederließ, eine Reihe von praktischen Schritten zur Vorbereitung der neuen Zeitung: er verhandelte mit den in Russland zurückbleibenden Genossen über die Unterstützung der Zeitung und die Zusendung der Korrespondenzen, über Beschaffung von Geldmitteln usw. Eine dieser organisatorischen Maßnahmen war die Einberufung der sogenannten „Pskower Beratung" (April 1900) der „Iskraleute" (Lenin, Martow, Potressow, Radtschenko) und der legalen Marxisten (Struve und Tugan-Baranowski). In der Beratung wurde der von Lenin verfasste Entwurf einer Redaktionserklärung der beiden Organe – der Zeitung und der Zeitschrift (der künftigen „Sarja") – verlesen und besprochen (die erhaltenen Artikel Lenins aus dem Jahre 1899 enthalten keinen Hinweis auf die Absicht, neben der Zeitung auch eine Zeitschrift erscheinen zu lassen; wahrscheinlich entstand der Gedanke der Herausgabe der „Sarja" später, vielleicht kurz vor der Pskower Beratung).

In der Memoirenliteratur wird die Pskower Beratung fast gar nicht beleuchtet. Die für den zweiten Teil der „Memoiren eines Sozialdemokraten" bestimmten Erinnerungen Martows, eines der Teilnehmer an der Beratung, sind die einzige Quelle, die über den Verlauf der Beratung und den Charakter der behandelten Fragen wie auch über die Stellungnahme Lenins zum „legalen Marxismus" zu urteilen gestattet, was besonders wichtig ist für das Verständnis der Geschichte der späteren Beziehungen der „Iskra" zur liberalen Opposition, an deren Spitze sehr bald P. B. Struve, ein Teilnehmer an der Pskower Beratung, trat.

Nachdem Martow seine Ankunft in Pskow, wo er mit Lenin und Potressow zusammentraf, und das Verhalten der „Iskra"-Gruppe zum „Auslandsbund der russischen Sozialdemokraten" geschildert hat, fährt er fort:

Die zweite Frage, die uns Sorge machte, war das Verhalten eben zu diesen ,Marxkritikern', als die sich die sogenannten ,legalen Marxisten' entpuppten. In der Verbannung beabsichtigten wir, sie, die wir für die Haupt-,Drahtzieher' der ganzen Geistesverwirrung und für die wütendsten Gegner der revolutionären Sozialdemokratie hielten, sofort aufs schärfste anzugreifen. Nicht ohne Verwunderung erfuhr ich von meinen Freunden (d. h. von Lenin und Potressow – Die Red.), dass unsere ,legalen Marxisten' ebenso wie die Leute vom ,Rabotscheje Djelo' sie außerordentlich freundlich empfangen hatten, wobei sie klar zu verstehen gaben, dass sie bereit wären, unsere Gruppe als die natürliche Führerin der sozialdemokratischen Partei zu betrachten und unsere auf die Organisierung eines breiten Kampfes gegen den Absolutismus gerichteten Bestrebungen zu unterstützen. Einer solchen Stimmung begegneten meine Freunde nicht nur bei dem eklektischen W. J. Bogutscharski, sondern auch bei solchen Doktrinären der ,Marxkritik', wie P. B. Struve und M. I. Tugan-Baranowski. Meine Freunde, die mit der festen Absicht nach Petersburg gekommen waren, ein sozialdemokratisches Organ zu gründen, in engster Verbindung nicht nur mit der proletarischen Massenbewegung, sondern auch mit der breiten oppositionell-demokratischen Bewegung, die sich in den letzten Jahren immer stürmischer entwickelte, mussten sich davon überzeugen, dass die Gruppe der ,legalen Marxisten' immer noch der autoritativste Mittelpunkt dieser oppositionell-demokratischen Bewegung war. Wir hielten jedoch den Einfluss der Tätigkeit der ,legalen Marxisten' auf die in der praktischen Arbeit stehenden Sozialdemokraten für außerordentlich schädlich, nicht nur weil sich diese Tätigkeit gegen die revolutionären Grundlagen der marxistischen Doktrin im Allgemeinen richtete, sondern insbesondere auch, weil die revisionistische ,Marxkritik' von ihren russischen Anhängern aufgefasst wurde als eine Rechtfertigung für die Isolierung der Arbeiterbewegung von den revolutionären Traditionen des Sozialismus und für ihre Einengung in den russischen Rahmen eines fast trade-unionistischen ,Ökonomismus'. Insofern hielten wir den rücksichtslosen Kampf gegen die revisionistische Gruppe für unsere nächste Aufgabe. Wie aber sollten wir uns ihnen gegenüber jetzt verhalten, wo sie sich bereit erklärten, für die von uns aufgestellte Losung des allgemeinen revolutionären Kampfes gegen den Zarismus mit uns und sogar unter unserer Führung zu marschieren?

Obwohl Uljanow und Potressow davon überzeugt waren, dass Struve und Konsorten einen Weg beschritten hatten, der sie bald aus dem Lager des Sozialismus in das des bürgerlichen Liberalismus führen würde, hatten beide den Eindruck gewonnen, dass diese Gruppe sich für die nächste Zeit gern mit der Rolle der ,zweiten Geige' begnügen würde, wenn sie sähe, dass es uns mit unserem ,orthodoxen' Banner gelungen ist, eine starke revolutionäre Aktionspartei zu organisieren. In Bezug auf die weitere Zukunft gingen, wie mir scheint, die Prognosen A. N. Potressows und W. I. Uljanows auseinander. Potressow hoffte, dass das Vorhandensein einer solchen Partei der Sozialdemokratie auf lange Zeit hinaus die geistige Vorherrschaft über alle demokratischen Elemente der Intelligenz sichern und diese vom bürgerlichen konstitutionalistischen Semstwo-Liberalismus losreißen könnte. Uljanow dagegen erwartete eher, ebenso wie ich, dass jener Teil der Intellektuellen, der im Revisionismus einen Vorwand und ein Mittel gefunden hatte, um die Grundwerte der sozialistischen Weltanschauung der zerstörenden Wirkung der theoretischen Skepsis auszusetzen, letzten Endes gerade im Schoße des Semstwo-Konstitutionalismus Beruhigung finden würde, nachdem die Erfolge der Arbeiterbewegung den Boden für seinen Erfolg vorbereitet haben würden. Beide waren für eine Verständigung mit der Struve-Gruppe, aber Uljanow dachte sich diese Verständigung ,mit einem Stein im Gürtel', wobei er, wie sich später herausstellte, es durchaus nicht für nötig hielt, diesen Stein sorgfältig zu verbergen; Potressow hingegen war der Ansicht, dass die Verständigung beide Seiten moralisch verpflichte und dass sie uns die Pflicht einer elastischen Taktik auferlege, die geeignet wäre, unseren Anfangserfolg auch für die Zukunft zu sichern.

Nachdem ich die Ansicht meiner Freunde gehört hatte, äußerte ich meine Zweifel in Bezug auf die Möglichkeit einer Verständigung mit den ,Kritikern', wenn wir unseren offenen und unbeugsamen Kampf für die ,Orthodoxie' nicht aufzugeben beabsichtigten. Man erwiderte mir darauf, dass sowohl Struve wie Tugan in intimen Gesprächen auch weiterhin ihre nahen Beziehungen zur Sozialdemokratischen Partei [Es sei daran erinnert, dass Struve im Jahre 1896 auf dem Internationalen Sozialistischen Kongress in London der russischen sozialdemokratischen Delegation beigetreten war und dass er der Verfasser des dem Kongress vorgelegten Referates über die Agrarfrage in Russland war.] betonen, und dass sie sich wie Parteigenossen benehmen. Hier wurde mir auch mitgeteilt – was ich bis dahin nicht gewusst hatte –, dass das im Jahre 1898 nach dem ersten Parteitag veröffentlichte ,orthodoxe' Manifest der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, das den berühmten Satz enthielt, die Bourgeoisie sei, je weiter man nach dem Osten komme, um so weniger fähig, die revolutionären historischen Aufgaben zu erfüllen, von eben demselben P. B. Struve geschrieben war, der so bald nachher den Feldzug gegen jede ,Orthodoxie' eröffnete.

Jedenfalls waren wir uns alle darüber einig, dass die Verhandlungen mit Struve und seinen Kollegen, die bald in Pskow eintreffen sollten, auf Grund unseres klar formulierten Credo [Glaubensbekenntnis – Die Red.] geführt werden mussten, in dem unsere Stellung nicht nur zur Frage des revolutionären Kampfes gegen den Zarismus, sondern auch zur Frage des theoretischen Kampfes gegen den Revisionismus und Reformismus unzweideutig zu unterstreichen war. Ich prophezeite, dass in diesem Falle die Verständigungsversuche von vornherein zum Scheitern verurteilt sein würden. ,Warten wir ab,' antworteten mir die Genossen.

Uljanow übernahm es, die Ankündigung der neuen Zeitung auszuarbeiten, die wir dann unseren „Freund-Feinden" vorlegen sollten, um sie direkt vor die Frage zu stellen, ob sie die Absicht hätten, uns zu unterstützen.

Es wurde mir übrigens klar, dass von der Unterstützung oder zumindest von der freundschaftlichen Neutralität der Struve-Gruppe bis zu einem gewissen Grade die Frage der Geldmittel abhing, die wir für eine großzügige Verlags- und Organisationstätigkeit benötigten. Auf die Hilfe der Ortskomitees konnten wir nicht rechnen, selbst wenn wir ganz absahen von der Frage, ob wir uns mit der Mehrheit von ihnen verständigt hätten. Die dürftigen Kassen der örtlichen Parteiorganisationen waren absolut nicht in der Lage, die Unternehmen zu unterstützen, die wir planten: eine regelmäßig erscheinende und technisch einwandfrei gedruckte Zeitung, den Transport, die Pass-,Fabrik' und die Organisation der ,Illegalen'. Für den Anfang waren unsere finanziellen Aussichten nicht schlecht. Außer den Privatmitteln A. N. Potressows, über die er frei verfügen konnte, hatte uns A. M Kalmykowa. die unserem Unternehmen mit voller Sympathie gegenüberstand, ihre Hilfe zugesagt. Außerdem hatte Uljanow an der Wolga einen bekannten Fabrikbesitzer, der ihm versprochen hatte, ihm 1000 oder 2000 Rubel zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus aber mussten wir (auf Grund persönlicher Beziehungen A. N. Potressows und der A. M. Kalmykowa) auf Leute rechnen, die, da sie, wie sich Potressow später ausdrückte, zum Kreis der ,quasi-marxistischen Demokratie' gehörten, uns ihre Börsen verschlossen haben würden, wenn Struve und Konsorten uns den Krieg erklärten. Einer dieser Leute – der Kant-Übersetzer Schukowski – hatte, wenn ich mich recht erinnere, damals auch schon 1000 Rubel für unsere Zeitung versprochen.

Ein oder zwei Tage später erschien in Pskow unser alter, nun verstorbener Kampfgenosse Stepan Iwanowitsch Radtschenko und teilte uns mit, dass P. B. Struve und M. I. Tugan-Baranowski mit dem nächsten Zuge zu den Verhandlungen eintreffen würden. Aus irgendeinem Grunde konnte W. J. Bogutscharski nicht kommen. Auch der von uns erwartete Ingenieur und Industrielle Tillo, ein Sozialdemokrat noch aus den achtziger Jahren, der zu der Zeit zusammen mit S. I. Radtschenko in Petersburg die ,orthodoxe' Tradition verkörperte und diesem half, den Ansturm der ,ökonomistisch' gestimmten Jugend im ,Kampfbund' abzuwehren, waren nicht erschienen.

Die Zusammenkunft fand in der Wohnung der Lubow Nikolajewna Radtschenko statt, die wegen ihrer langjährigen Tätigkeit im Petersburger ,Kampfbund' für zwei Jahre nach Pskow verbannt war, wo sie unter Polizeiaufsicht stand. Zuvor hatten wir den von Uljanow verfassten Entwurf der neuen Zeitung durchgelesen und gebilligt.

Während er verlesen wurde, beobachtete ich die Gesichter unserer Gäste. Es interessierte mich, wie sie auf die Ausdrücke reagieren würden, mit denen die ,Ankündigung' die Schädlichkeit der ,Kritik am Marxismus' für die revolutionäre Bewegung feststellte. Auf dem Gesichte M. I. Tugan-Baranowskis spiegelte sich Betrübnis oder Erstaunen, man sah, dass er sich mitunter beherrschen musste, um den Lesenden nicht zu unterbrechen. Struve dagegen bewahrte eine olympische Ruhe, durch die man jedoch hin und wieder ein leises Aufleuchten von Ironie in seinen Augen bemerken konnte. Als das Lesen zu Ende war, stand auf seinem Gesicht eher Befriedigung oder sogar höfliche Billigung des Gehörten geschrieben.

,Was halten Sie von alledem, meine Herren?' fragte Uljanow.

Struve sagte ein paar allgemeine und unbestimmte Worte in dem Sinne, dass er im Großen und Ganzen nichts gegen das Dokument einzuwenden habe, in einigen Fragen aber bei seiner Meinung bleibe. Er schien sehr ungern zu sprechen, so, als müsste er jedes Wort aus sich herauspressen. Es war klar, dass er nicht alles, was er dachte, aussprach.

Dem treuherzigen Michael Iwanowitsch lag die Diplomatie anscheinend nicht. Mit großer Verve erklärte er, dass er in dem ganzen Teil der Deklaration, die über den Zustand der Sozialdemokratie und des Marxismus spricht, eine persönlich gegen ihn und Struve gerichtete Spitze erblicke, und zwar sei das äußerst ungerecht, man schlage damit den Tatsachen ins Gesicht. Gerade er und Struve hätten die politische Richtung in der Sozialdemokratie in jeder Weise unterstützt, indem sie auf die in der praktischen Tätigkeit Stehenden, mit denen sie in Berührung kamen, in entsprechendem Sinne eingewirkt und politische Artikel für die illegalen Zeitschriften geschrieben hätten. Unsere Deklaration jedoch mache die ,Kritik am Marxismus" für den ,Ökonomismus' und für den Verzicht auf den politischen Kampf verantwortlich. Die ganze Charakteristik der Kritik am Marxismus sei so gehalten, dass er, Tugan, sich die Frage stellen müsse, ob er und Struve unser Unternehmen unterstützen könnten, wenn diese Stelle in der Deklaration stehen bleibe. Struve, der im Schweigen verharrte, zeigte durch sein Mienenspiel, dass er den Vorstoß Tugans billigte. Nun – dachte ich –, wie wird Uljanow aus dieser verzwickten Lage herauskommen?

Er nahm sofort das Wort und versuchte dem Einwand Tugans das Tatsachenmaterial entgegenzustellen.

Der ,Dossier' (die Akten, das Material – Die Red.), den er gesammelt hatte, erwies sich als ziemlich reichhaltig, wenn er auch aus verhältnismäßig geringfügigen Tatsachen bestand. Es handelte sich um verschiedene Versuche der älteren Petersburger Sozialdemokraten (Tillo, Radtschenko u. a.), irgendeine literarische Aktion gegen den ,Ökonomismus' zu organisieren und auf diese Weise Plechanow zu unterstützen. Aus den von Uljanow angeführten Tatsachen ergab sich, dass die ,legalen Marxisten' sich immer wieder weigerten, eine solche Aktion zu unterstützen, wobei sie sich darauf beriefen, dass sie einen Angriff auf diejenigen, die im Proletariat eine Tätigkeit entfalten, für taktisch falsch und schädlich hielten. Es ist übrigens möglich, dass wir dieses Argument zum ersten Mal von unseren Opponenten hier in der Sitzung vernahmen als eine Erklärung für ihr ablehnendes Verhalten. Jedenfalls bestanden sie eben auf dieser Erklärung, und zwar, dass sie den innerparteilichen Kampf nicht zu schüren wünschten. Uljanow und dann auch Potressow erwiderten, dass, im Gegenteil, gerade sie den innerparteilichen Kampf dadurch geschürt hätten, dass sie den Aufruhr gegen die ,Orthodoxie' ideologisch unterstützt und damit die sozialdemokratische Jugend zum Bruch mit der Gruppe ,Befreiung der Arbeit' verleitet hätten. Struve erwiderte, er habe die Beseitigung der Gruppe ,Befreiung der Arbeit' von der führenden Rolle in der Partei für schädlich gehalten und in diesem Sinne mit den Praktikern gesprochen. Im Großen und Ganzen verlief die Unterhaltung in sehr versöhnlichem Tone, und als Uljanow sich bereit erklärte, den Passus über die Rolle, die die ,Marxkritiker' gespielt haben, abzuschwächen, da schien es zu meinem Erstaunen zu einer Verständigung zu kommen. Der Streit, der bereits einen theoretischen Charakter angenommen hatte, hörte gleichsam von selber auf, und als wir fragten: Wie steht ihr letzten Endes zu unserem Unternehmen? – da hörte ich zu meiner Verwunderung die feste Erklärung Struves: wir halten es für notwendig und werden es nach Kräften unterstützen, worauf er bat, einen monatlichen Beitrag von – wenn ich nicht irre – 5 Rubel von ihm anzunehmen. Tugan-Baranowski, der anscheinend nicht abgeneigt war, noch etwas zu streiten und zu ,feilschen', erklärte mit etwas mürrischem Gesicht, dass er ebenfalls als Monatsbeitrag 10 Rubel beisteuern wolle. Wenn wir vorausgesehen hätten, wie unsere Wege auseinandergehen sollten, so würden wir wahrscheinlich als historisches Andenken den halben Imperial aufbewahrt haben, der von einem späteren wütenden Feind des Sozialismus und der Revolution zur Gründung des Organs beigesteuert wurde, das der eifrigsten Verteidigung des Sozialismus und der Revolution gewidmet war.

Nach der Abreise unserer Gäste regelten wir unsere Angelegenheiten für die nächste Zukunft. Es wurde beschlossen, dass A. N. Potressow in der allernächsten Zeit ins Ausland fahren, die unmittelbare Verbindung mit Plechanow und Axelrod aufnehmen und sich schon jetzt um die Herausgabe einer theoretischen Zeitschrift kümmern solle, die auf jeden Fall im Auslande erscheinen würde. Was die politische Zeitung anbetraf, so mussten wir vorläufig noch mit dem Wunsche der Praktiker rechnen, sie versuchsweise in Russland erscheinen zu lassen. Wir selbst bezweifelten die Möglichkeit der Herausgabe dieses Organs in Russland und hofften, dass es uns gelingen würde, die Genossen für seine Verlegung nach Deutschland zu gewinnen, wenn der Parteitag [es handelt sich um den ,zweiten' Parteitag, dessen Einberufung im Mai 1900 vom ,Auslandsbund der russischen Sozialdemokraten' geplant war; der Parteitag hat nicht stattgefunden – Die Red.] uns die Redaktion übertrüge. Potressow sollte daher die deutschen Sozialdemokraten nach der Möglichkeit der konspirativen Herausgabe der Zeitung in Deutschland befragen; wir wollten die Zeitung nicht in den Emigrantenzentren drucken lassen, einerseits um nicht in zu enge Berührung mit den Emigrantenkreisen zu kommen, anderseits um der russischen Grenze näher zu sein. Uljanow sollte bis zum Parteitag in Pskow bleiben und allein oder zusammen mit mir auf dem Parteitag unsere Gruppe vertreten. Nach dem Parteitag sollte er, wenn die erzielten Resultate für unsere Pläne günstig wären, ebenfalls ins Ausland gehen. Ich aber sollte mich nach Poltawa begeben, von dort aus mit den Organisationen des Südens in Verbindung treten und insbesondere mit der Gruppe ,Juschny Rabotschi" [„der Arbeiter des Südens" – Die Red.] einen engen Kontakt herstellen. Meine Übersiedlung ins Ausland – wenn unser Unternehmen dort endgültig Boden gefasst hätte – musste meines Erachtens jedenfalls auf einige Monate verschoben werden, da es notwendig war, dass wenigstens einer von uns den Stand der Bewegung an Ort und Stelle und die neue Generation aktiver Genossen persönlich kennen lerne und außerdem das Material für die ersten und schwierigsten Nummern der neuen Zeitung persönlich sammle. Meine Freunde waren im Wesentlichen mit mir einverstanden, befürchteten aber, dass ich in den wenigen Monaten ,hochgehen' könnte, noch bevor ich dazu kommen würde, die Grenze zu überschreiten. Die Frage blieb einstweilen offen." (Aus den unveröffentlichten Erinnerungen J. O. Martows, „Lenin Sammelbuch" 4.)

Die Ankündigung der neuen Zeitung", von der Martow spricht, ist eben der hier zum ersten Mal veröffentlichte Entwurf der Redaktionsankündigung der „Iskra" und der „Sarja". Der Entwurf ist anscheinend dann in mehreren Exemplaren vervielfältigt und durch A. Potressow an G. Plechanow und an die Gruppe „Befreiung der Arbeit" übersandt worden. Aus der Notiz Lenins „Wie der ,Funke' beinahe erloschen wäre", ist nicht ersichtlich, dass der Entwurf die Überschrift trug: „Von der Redaktion". Die mit Druckbuchstaben geschriebene Kopie, die im Lenin-Institut aufbewahrt wird, trägt diesen Titel nicht.

In den Text der Kopie haben sich bei der Abschrift einige Ungenauigkeiten eingeschlichen (siehe den Satz, der mit den Worten beginnt: „Es ist erstens notwendig, eine allgemeine Parteiliteratur…"). Überhaupt ist die Kopie anscheinend nicht sorgfältig mit dem Original verglichen und durchredigiert worden.

2 Glaubensbekenntnis. Das „Credo" ist eine Niederlegung der Ansichten der extremen Revisionisten und Opportunisten über die Aufgaben der Arbeiterklasse in Russland. Diese waren bestrebt, der Arbeiterbewegung ein rein liberales Aktionsprogramm aufzuzwingen. Verfasst wurde es von E. Kuskowa (im Jahre 1899). Als Lenin das „Credo" in Sibirien erhielt, beantwortete er es sofort mit dem scharfen „Protest der russischen Sozialdemokraten", der von der gesamten revolutionären Sozialdemokratie unterstützt wurde.

3 Die „Rabotschaja MysI" war eine Zeitung, die vom Oktober 1897 bis Dezember 1902 erschien (Nr. 3–11 und Nr. 16 erschienen in Berlin, die übrigen in Petersburg). Sie war das konsequenteste Organ des „Ökonomismus", das seine ganze Aufmerksamkeit auf den eng wirtschaftlichen Kampf konzentrierte und diesen dem politischen Kampf entgegenstellte, der angeblich nicht zu den Aufgaben der Arbeiterklasse gehörte. Es schwor auf die Spontaneität der Arbeiterbewegung und stand der zentralisierten Parteiorganisation und den „Intellektuellen" feindlich gegenüber. Die ersten vier Nummern der „Rabotschaja Mysl" sind von der Gruppe gleichen Namens herausgegeben worden (zu dieser Gruppe gehörten die „Intellektuellen": N. A. Bogoras, N. Korsak-Kulashenko, W. Nadjein, N. A. Alexejew, E. Krumse, der Arzt Mandelberg; die Arbeiter: W. Poljakow, J. Andrejew, I. Michailow; der Büroangestellte Feldmann; die praktische Arbeit der Herausgabe der „Rabotschaja Mysl" besorgte hauptsächlich K. Kok, ein früherer Gärtner). Die Zeitung erschien zunächst unabhängig vom Petersburger „Kampfbund" („Komitee") als Organ der Petersburger Arbeiter. Nach der vierten Nummer wurde die „Rabotschaja Mysl" in ein Organ des Petersburger Komitees umgewandelt, das in seiner Mehrheit der „ökonomistischen" Richtung angehörte. Die Redaktion der „Rabotschaja Mysl" besorgte K. Kok, und vor allem K. Tachtarew-Peterburschez (Nr. 4, 7, 10), späterhin N. Lochow-Olchin. Die Nummern 1 und 2 wurden auf einem Mimeographen (in einer Auflage von je 5000 Exemplaren) gedruckt und stellen heute eine bibliographische Seltenheit dar. Die zweite Nummer gelangte eher ins Ausland als die erste. Der Inhalt dieser Nummer gab der Gruppe „Befreiung der Arbeit" keine Möglichkeit, mit genügender Sicherheit die wahren Tendenzen der „Rabotschaja Mysl" zu beurteilen. Die Nummer 2 der „Rabotschaja Mysl", die als das Produkt lokaler „Arbeiter"-Initiative betrachtet wurde, fand daher das Wohlwollen des „Listok Rabotnika" (Nr. 7, April 3898, Bibliographische Notiz von V. Sassulitsch), des Organs des „Auslandsbundes der russischen Sozialdemokraten", das zu der Zeit von der Gruppe „Befreiung der Arbeit" redigiert wurde. Die dann ins Ausland gelangte Nummer 1 der „Rabotschaja Mysl" mit einem Programmartikel ausgesprochen ökonomistischen Charakters ließ keinen Zweifel mehr über die opportunistische Richtung des neuen Organs. Nachdem der „Auslandsbund der russischen Sozialdemokraten" und der „Listok Rabotnika" in die Hände der „jungen" Sozialdemokraten übergegangen waren, die dem Ökonomismus mit Sympathie gegenüberstanden, wurde dieser Artikel von W. P. Iwanjschin in Nummer 9 u. 10 des „Listok Rabotnika" (November 1898) abgedruckt und von ihm gebilligt. Dieser Artikel, dann die „Sonderbeilage" zur „Rabotschaja Mysl" (September 1899), insbesondere der Artikel eines gewissen R. M.: „Unsere Wirklichkeit" (es ist möglich, dass W. P. Iwanjschin, der Mitglied des Redaktionskollegiums des „Bundes der russischen Sozialdemokraten" war und gleichzeitig der Redaktion der „Rabotschaja Mysl" nahestand, diesen verfasst hat, vielleicht aber war es K. Kok) und überhaupt die ganze Richtung, der „Rabotschaja Mysl" wurden von Lenin in dem Artikel „Eine rückschrittliche Richtung in der russischen Sozialdemokratie" und in „Was tun?" (siehe den 2. Halbband des vorliegenden Bandes) einer kritischen Analyse unterzogen.

4 In einem der Kapitel der „Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie", 1899 (S. 170 der ersten deutschen Ausgabe), schrieb Eduard Bernstein in einer Polemik gegen G. Plechanow:

Um jedoch die Kampfesweise des Herrn Plechanow in ihr rechtes Licht zu stellen, muss ich doch noch erwähnen, dass auch ein großer, wenn nicht der größte Teil der in Russland wirkenden russischen Sozialdemokraten, darunter die Redaktion der russischen Arbeiterzeitung, sich entschieden für einen, dem meinen verwandten Standpunkt erklärt haben, und dass von dieser Seite verschiedene meiner ,inhaltsleeren' Artikel ins Russische übersetzt und in Sonderabzügen verbreitet wurden."

In vielen russischen Ausgaben des Bernsteinschen Buches ist diese Stelle ausgelassen oder verkürzt wiedergegeben (so auch in der Londoner Ausgabe vom Jahre 1900).

Von der Redaktion welcher „russischen Arbeiterzeitung" Bernstein hier spricht, ist unbekannt; es ist am wahrscheinlichsten, dass hier die „Rabotschaja Mysl" gemeint ist).

5 Die Gruppe „Befreiung der Arbeit" war eine sozialdemokratische Organisation, die im September 1883 von den ins Ausland emigrierten Narodniki-„Tschernoperedjelzy" (Gruppe der „Schwarzen Umteilung" – Die Red.) – G. V. Plechanow, P. B. Axelrod, V. I. Sassulitsch, L. G. Deutsch und dem bald darauf verstorbenen W. I. Ignalow – gegründet wurde und bis zum zweiten Parteitag (August 1903) bestand, auf dem die Gruppe, im Zusammenhang mit der Gründung einer einigen Partei, ihr selbständiges Bestehen aufgab. Die Gruppe hat in der Geschichte der russischen Sozialdemokratie, deren Tätigkeit sie eine theoretische und programmatische Begründung gab, eine außerordentlich wichtige Rolle gespielt.

Als die Gruppe, die auf dem ersten Kongress des „Auslandsbundes der russischen Sozialdemokraten" (November 1898) auf das Redigieren der Schriften des „Auslandsbundes" – mit Ausnahme der (letzten) Nummer 5/6 des von dem Auslandsbund herausgegebenen „Rabotnik" und zweier Broschüren Lenins („Das neue Fabrikgesetz" und „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten") verzichtet hatte, das Anwachsen der opportunistischen und revisionistischen Ansichten und Stimmungen sowohl innerhalb des „Auslandsbundes" als auch in den russischen sozialdemokratischen Organisationen sah, beschloss sie, ihre selbständige literarische Tätigkeit wieder aufzunehmen und veröffentlichte zu diesem Zweck Ende 1899 die von P. B. Axelrod verfasste „Ankündigung über die Wiederaufnahme der Verlagstätigkeit der Gruppe „Befreiung der Arbeit". (Siehe „Dokumente und Materialien", Nr. 1, im 2. Halbband.)

6 Die „Rabotschaja Gazeta" („Arbeiterzeitung") war das Organ der Kiewer Sozialdemokraten. Es erschienen nur zwei Nummern: Nr. 1 im August 1897 und Nr. 2 – im November (nach Eidelmann – im Dezember) 1897; beide Nummern waren illegal in Kiew gedruckt worden. An der „Rabotschaja Gazeta" arbeiteten B. Eidelmann, P. Tulschanski, N. Wigdortschik, W. Perasitsch u. a. mit. Der erste Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (1898) erklärte die „Rabotschaja Gazeta" zum Zentralorgan der Partei. Es gelang jedoch nicht, die Herausgabe der „Rabotschaja Gazeta" wieder aufzunehmen und die Nummer 3 ist nicht mehr erschienen.

7 Anfang 1900 leitete der „Auslandsbund der russischen Sozialdemokraten", in dem die führende Rolle zu der Zeit von der Gruppe „Befreiung der Arbeit" auf die „Jungen" überging, die zum Ökonomismus neigten, mit Einverständnis und Unterstützung des „Bund" (allgemeiner jüdischer Arbeiterbund in Polen, Litauen und Russland) eine Agitation für die Einberufung des zweiten Parteitages ein. Zu diesem Zweck wurden die Agenten des „Auslandsbundes" (P. F. Teplow und Z. Kopelsohn – „Grischin" „Timofej") nach Russland geschickt, wo sie die Organisationen zu besuchen hatten. Der Parteitag sollte das durch die Verhaftungen im Jahre 1898 zerstörte Zentralkomitee wieder herstellen und die Herausgabe des Zentralorgans der Partei, der „Rabotschaja Gazeta", wieder aufnehmen. Die Redaktion der „Rabotschaja Gazeta" beabsichtigte man der „lskra"-Gruppe (Lenin, Martow, Potressow) zu übertragen, über deren literarische Pläne der „Auslandsbund" orientiert war. Der Gedanke der Einberufung des Parteitages fand die Unterstützung einiger Parteikomitees. Für die Einberufung des Parteitages trat auch eine so einflussreiche Organisation, wie der „Juschny Rabotschi" (Jekaterinoslaw), ein.

Die „Iskra"-Gruppe teilte diese Stimmungen nicht. Sie hielt die Einberufung des Parteitages für verfrüht und befürchtete, dass auf ihm der Einfluss der Ökonomisten gestärkt werden würde. Da es jedoch möglich war, dass der Parteitag trotzdem zusammentrat, so setzte sich die „Iskra"-Gruppe aus diesem Anlass mit der Gruppe „Befreiung der Arbeit" in Verbindung, um diese auf dem Parteitag zu vertreten. Die Gruppe „Befreiung der Arbeit" erklärte sich mit dem Vorschlag der „Iskra"-Leute einverstanden und sandte Lenin ein Mandat. Der Parteitag sollte am 6. Mai 1900 in Smolensk einberufen werden. Da zur festgesetzten Zeit nur wenige Leute W. N. Rosanow, Z. Kopelsohn vom „Auslandsbund", N. Portnoj und D. Katz („Taras") vom „Bund", A. Ginsburg vom „Juschny Rabotschi" erschienen waren, so hat der Parteitag nicht stattgefunden. Der Delegierte der „Iskra" war auf dem Parteitag nicht erschienen.

Das Verhalten der „Iskra"-Leute zum „zweiten" Parteitag erwähnt Lenin in „Was tun?" („Die vierte Tatsache".)

8 Lenin hat den „Entwurf des Programms unserer Partei" im Auge, den er Ende 1899 für die nicht erschienene dritte Nummer der „Rabotschaja Gazeta" geschrieben hatte. Der genannte „Entwurf" war die Fortsetzung der von Lenin in den Jahren 1895 bis 1896 begonnenen Arbeiten über Programmfragen („Entwurf und Erläuterung zum Programm der Sozialdemokratischen Partei"), die dann ihre endgültige Form in den Vorschlägen fanden, die Lenin im Jahre 1902 während der Ausarbeitung des Parteiprogramms durch die Redaktion der „Iskra" machte.

9 Ein Zitat aus der Broschüre P. B. Axelrods „Zur Frage der gegenwärtigen Aufgaben und der Taktik der russischen Sozialdemokraten", Genf 1898.

10 „Die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein" („The emancipation of the working classes must be conquered by the working classes themselves") – sind Worte aus dem einleitenden Teil des von Marx im Jahre 1864 geschriebenen provisorischen Statuts der Internationalen Arbeiterassoziation (Internationale).

11 Als „Kommentar" bezeichnete die Broschüre Lenins P. B. Axelrod in seinem vom Herbst 1898 datierten Vorwort zur ersten Ausgabe der „Aufgaben der russischen Sozialdemokraten". Axelrod schrieb in diesem Vorwort: „Die geplante Broschüre wurde vor ungefähr einem Jahre geschrieben, leider erhielten wir sie aber – zusammen mit einem anderen Manuskript des gleichen Verfassers – erst vor kurzem. Sie hat während dieser Zeit jedoch an Aktualität und Bedeutung nicht verloren und wenn wir unser Bedauern über ihre späte Veröffentlichung zum Ausdruck bringen, so, weil sie vor einem halben Jahre als ein unmittelbarer Kommentar zum ,Manifest der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands' hätte betrachtet werden können, das die gleichen praktischen Aufgaben in den Vordergrund rückt, die sich der Verfasser der vorlegenden Schrift stellt."

12 Die Broschüre „Die Sache der Arbeiter in Russland" wurde von Martow im Jahre 1899 in Turuchansk (Sibirien) geschrieben und im gleichen Jahre vom „Auslandsbund der russischen Sozialdemokraten" veröffentlicht. Die Redaktion schickte der Broschüre ein Vorwort voraus, das u. a. folgende zwei Zeilen enthält: „In gemeinverständlicher Darstellung gibt das Büchlein eine Begründung der Hauptforderungen der russischen Arbeiterbewegung, angefangen von dem nächsten und aufsteigend bis zu den Hauptzielen der Sozialdemokratie."

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