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Wladimir I. Lenin 19010400 Arbeiterpartei und Bauernschaft

Wladimir I. Lenin: Arbeiterpartei und Bauernschaft1

[„Iskra" Nr. 3, April 1901. Nach Sämtliche Werke, Band 4, Wien-Berlin 1928, S. 112-121]

Vierzig Jahre sind seit der Befreiung der Bauern verstrichen. Es ist ganz natürlich, dass unsere Gesellschaft mit besonderer Begeisterung den 19. Februar feiert, den Tag, an dem das alte Russland der Leibeigenschaft zusammenbrach, als den Beginn einer Epoche, die dem Volke Freiheit und Wohlstand verhieß. Doch darf nicht vergessen werden, dass in den Lobreden bei Gelegenheit dieser Feier neben aufrichtigem Hass gegen die Leibeigenschaft und alle ihre Äußerungen auch ein gut Teil Heuchelei enthalten ist. Durch und durch heuchlerisch und verlogen ist die Beurteilung der „großen" Reform, die bei uns landläufig geworden ist: „Befreiung der Bauern und Zuteilung von Land an sie mit Hilfe staatlicher Ablösung." In Wirklichkeit aber war es eine Befreiung der Bauern vom Grund und Boden, denn die Parzellen, die die Bauern jahrhundertelang besessen hatten, wurden stark beschnitten, und Hunderttausende von Bauern gingen ganz ohne Land aus oder es blieb ihnen ein Viertel ihres Anteils, ein Bettelteil. In Wirklichkeit wurden die Bauern doppelt beraubt: nicht allein, dass ihr Land beschnitten wurde, sie wurden auch noch gezwungen, „Ablösungsgeld" zu zahlen für das Land, das seit jeher in ihrem Besitz gewesen war und ihnen nun belassen wurde, und zwar wurde der Ablösungspreis weit über dem wirklichen Preis angesetzt. Die Grundbesitzer selbst gestanden zehn Jahre nach der Bauernbefreiung den Regierungsbeamten, die die Lage der Landwirtschaft prüften, dass man die Bauern gezwungen hatte, nicht nur für ihr Land, sondern auch für ihre Freiheit zu zahlen. Aber nachdem man den Bauern für ihre persönliche Befreiung Loskaufsgeld abgenommen hatte, wurden sie doch nicht zu freien Menschen gemacht. Sie blieben noch zwanzig Jahre hindurch zeitweilig gebunden, sie blieben – und sind bis auf den heutigen Tag – der niedere Stand, dem gegenüber die Prügelstrafe angewandt werden darf, der besondere Abgaben bezahlt, dem es verboten ist, die halb auf Leibeigenschaft aufgebaute Gemeinde zu verlassen, über sein Land frei zu verfügen, sich frei an einem beliebigen Orte des Staates anzusiedeln. Nicht von der Großmut der Regierung zeugt unsere Bauernreform; im Gegenteil, sie ist ein gewaltiges geschichtliches Beispiel dafür, wie jedes Ding aus den Händen der absolutistischen Regierung besudelt hervorgeht. Unter dem Druck der militärischen Niederlage, fürchterlicher finanzieller Schwierigkeiten und unheildrohender Bauernaufstände war die Regierung geradezu gezwungen, die Bauern zu befreien. Der Zar selbst gestand, man müsse von oben befreien, um der Befreiung von unten zuvorzukommen. Aber als die Regierung an die Befreiung heranging, tat sie alles Mögliche und Unmögliche, um die Gier der „benachteiligten" Fronherren zu befriedigen; die Regierung machte nicht einmal vor der Niedertracht halt, die Leute, die berufen worden waren, die Reform zu verwirklichen, obwohl auch sie dem Adelsstande angehörten, durch andere zu ersetzen. Die zuerst berufenen Vermittler wurden entlassen und durch Leute ersetzt, die bereit waren, den Fronherren zu helfen, die Bauern auch beim Abmessen der Landteile übers Ohr zu hauen. Die große Reform konnte nicht verwirklicht werden ohne militärische Exekutionen und Erschießungen solcher Bauern, die sich weigerten, die Urkunden in Empfang zu nehmen. Was Wunder, dass die besten Leute jener Zeit, in den Maulkorb der Zensur gezwängt, diese große Reform mit dem Fluche des Schweigens entgegennahmen …

Der von der Fron „befreite" Bauer ging aus den Händen des Reformators so geknechtet, ausgeplündert, gedemütigt, an seinen Landanteil gekettet hervor, dass ihm nichts übrig blieb, als „freiwillig" in die Fron zurückzukehren. Und der Bauer begann das Land seines früheren Gutsherrn zu bebauen, indem er seine eigenen, ihm weggenommenen Landstücke „pachtete" und, um für seine hungernde Familie Brot geliehen zu bekommen, sich schon im Winter auf Sommerarbeit verdingte. Frondienst und Schuldentilgung, – das war in Wirklichkeit die „freie Arbeit", für die der Bauer nach dem Wortlaut des von einem jesuitischen Pfaffen verfassten Manifestes – „Gottes Segen" erbitten sollte.

Zu dieser Unterdrückung durch die Grundbesitzer, die aufrechterhalten wurde dank der Großmut der Beamten, die die Reform geschaffen und verwirklicht hatten, ist noch der Druck des Kapitals hinzugekommen. Die Macht des Geldes, die z. B. sogar den französischen Bauer, der nicht durch eine klägliche, halbe Reform, sondern durch eine mächtige Volksrevolution von der Gewalt der Grundbesitzer befreit worden ist, zu Boden gedrückt hat, diese Macht des Geldes wälzte sich mit ihrer ganzen Schwere auf unseren noch halb leibeigenen Bauer. Geld musste um jeden Preis aufgetrieben werden: sowohl für die durch die wohltätige Reform noch vermehrten Steuern und für die Pacht des Bodens als auch für den Ankauf der armseligen Industrieerzeugnisse, die die Produkte der bäuerlichen Heimarbeit zu verdrängen begannen, ferner für den Ankauf von Getreide usw. Die Macht des Geldes hat die Bauernschaft nicht nur zu Boden gedrückt, sondern auch gespalten: die ungeheure Masse verarmte unaufhaltsam und wurde in Proletarier verwandelt, während sich von der Minderheit kleine Häuflein nicht zahlreicher, aber zäher Kulaken und wirtschaftsstarker Landwirte absonderten, die die Bauernwirtschaften und Bauernländereien in ihre Klauen nahmen und die ersten Kader der im Entstehen begriffenen Dorfbourgeoisie bildeten. Die ganzen vierzig Jahre, die seit der Reform vergangen sind, stellen einen einzigen Prozess dieser „Entbauerung" dar, einen Prozess langsamen qualvollen Aussterbens. Der Bauer wurde auf das Lebensniveau eines Bettlers herabgedrückt; er hauste zusammen mit dem Vieh, kleidete sich in Lumpen, ernährte sich von Melde; der Bauer floh von seiner Scholle, wenn er nur einen Zufluchtsort hatte, er kaufte sich sogar von seinem Anteil los, indem er demjenigen Geld zahlte, der bereit war, seinen Boden, dessen Unkosten die Einnahmen überstiegen, zu übernehmen. Die Bauern litten chronisch an Hunger und fielen während der immer häufiger wiederkehrenden Missernten zu Zehntausenden dem Hunger und den epidemischen Krankheiten zum Opfer.

So stehen bei uns die Dinge auch jetzt noch auf dem flachen Lande. Es fragt sich, wo der Ausweg zu suchen und mit welchen Mitteln eine Besserung der Lage der Bauern zu erreichen ist. Das Kleinbauerntum kann sich vom Joch des Kapitals nur befreien, wenn es sich der Arbeiterbewegung anschließt und sie unterstützt in ihrem Kampfe für die sozialistische Gesellschaftsordnung, für die Umwandlung des Grund und Bodens wie auch der übrigen Produktionsmittel (der Betriebe, Maschinen usw.) in gesellschaftliches Eigentum. Der Versuch, die Bauernschaft durch den Schutz der Kleinwirtschaft und des Kleinbesitzes vor dem Ansturm des Kapitalismus zu retten, würde heißen, die gesellschaftliche Entwicklung nutzlos aufhalten, den Bauer durch die Illusion eines auch unter der Herrschaft des Kapitalismus möglichen Wohlstandes betrügen, die werktätigen Klassen voneinander trennen, indem der Minderheit eine privilegierte Lage auf Kosten der Mehrheit eingeräumt wird. Aus diesem Grunde werden die Sozialdemokraten stets gegen so sinnlose und schädliche Einrichtungen kämpfen, wie die Unveräußerlichkeit der bäuerlichen Landanteile, die Kollektivbürgschaft, das Verbot des Austritts aus der Dorfgemeinde und der freien Aufnahme von Personen beliebigen Standes in diese Gemeinde! Doch unser Bauer leidet, wie wir gesehen haben, nicht nur und sogar nicht so sehr unter dem Joche des Kapitals als unter dem Joch der Grundbesitzer und unter den Überresten der Leibeigenschaft. Ein rücksichtsloser Kampf gegen diese Fesseln, die die Lage der Bauernschaft ungeheuer verschlechtern und sie an Händen und Füßen knebeln, ist nicht nur möglich, sondern auch notwendig im Interesse der gesamten sozialen Entwicklung des Landes, denn die grenzenlose Armut, Unwissenheit, Rechtlosigkeit und Erniedrigung des Bauern drückt dem gesamten Leben unseres Vaterlandes den Stempel des Asiatentums auf. Und die Sozialdemokratie würde ihre Pflicht nicht erfüllen, wenn sie diesen Kampf nicht in jeglicher Weise unterstützen wollte. Diese Unterstützung muss, kurz gesagt, darin zum Ausdruck kommen, dass der Klassenkampf auf das flache Land getragen wird.

Wir haben gesehen, dass heute im russischen Dorfe Klassengegensätze von zweierlei Art nebeneinander bestehen: erstens zwischen den landwirtschaftlichen Arbeitern und den landwirtschaftlichen Unternehmern, zweitens zwischen der Bauernschaft und der ganzen Grundbesitzerklasse. Der erste Gegensatz entwickelt sich und wächst an, der zweite wird allmählich schwächer. Der erste liegt noch ganz in der Zukunft, der zweite in hohem Grade bereits in der Vergangenheit. Und trotzdem ist für die russischen Sozialdemokraten von heute gerade der zweite Gegensatz von wesentlichster Bedeutung. Dass wir jeden sich bietenden Anlass ausnützen müssen, um in den landwirtschaftlichen Lohnarbeitern das Klassenbewusstsein zu entwickeln, dass wir daher auf die Übersiedlung von städtischen Arbeitern auf das flache Land (z. B. von Mechanikern, die an Dampfdreschmaschinen arbeiten, usw.) und auf die Arbeitsvermittlungsstellen der Landarbeiter unser Augenmerk richten müssen, – das ist selbstverständlich, das ist für jeden Sozialdemokraten ein Axiom.

Aber unsere Landarbeiter sind noch zu sehr mit der Bauernschaft verbunden, auf ihnen lastet noch zu sehr das Elend der gesamten Bauernschaft, und darum kann die Bewegung der Landarbeiter weder jetzt noch in der nächsten Zukunft eine allgemein-nationale Bedeutung erlangen. Die Frage dagegen der Ausmerzung der Überreste der Leibeigenschaft, der Ausrottung des Kastengeistes und der Degradierung von Millionen und aber Millionen „gemeinen Volkes" aus der gesamten russischen Staatsordnung, – diese Frage ist jetzt schon von allgemein-nationaler Bedeutung, und eine Partei, die auf die Rolle eines Vorkämpfers für die Freiheit Anspruch erhebt, kann sich dieser Frage gegenüber nicht passiv verhalten.

Das Elend der Bauern wird jetzt (in mehr oder minder allgemeiner Form) fast allgemein zugegeben, die Phrase von den „Mängeln" der Reform von 1861 und von der Notwendigkeit der staatlichen Hilfe ist zu einem Gemeinplatz geworden. Unsere Pflicht ist es, darauf hinzuweisen, dass dieses Elend eben die Folge der Unterdrückung der Bauernschaft als Klasse ist, dass die Regierung die treue Beschützerin der Unterdrückerklassen ist, dass nicht ihre Hilfeleistung, sondern die Befreiung von ihrem Joch, die Eroberung der politischen Freiheit von denjenigen angestrebt werden muss, die eine gründliche Besserung der Lage der Bauern aufrichtig und ernsthaft wünschen. Man spricht von der übermäßigen Höhe der Ablösungssummen, von der wohltätigen Maßnahme, die die Regierung zur Herabsetzung und Stundung der Zahlungen durchgeführt hat. Darauf sagen wir, dass diese Ablösungsgelder nichts anderes sind als eine durch gesetzliche Formen und Phrasen bemäntelte Ausplünderung der Bauern durch die Grundbesitzer und die Regierung, nichts anderes als ein Tribut an die Fronherren für die Befreiung ihrer Sklaven. Wir werden die Forderung der sofortigen und vollständigen Aufhebung der Ablösungsgelder und der Fronabgaben aufstellen, die Forderung, jene Hunderte von Millionen dem Volk wiederzugeben, die die Zarenregierung jahrelang aus ihm herauspresste, um die Gelüste der Sklavenhalter zu befriedigen. Man spricht von der Landarmut der Bauern, von der Notwendigkeit staatlicher Hilfe zur Erweiterung des bäuerlichen Landbesitzes. Wir antworten darauf, dass gerade dank der staatlichen Hilfe – natürlich für die Gutsbesitzer – die Bauern in so vielen Fällen des für sie so dringend notwendigen Bodens beraubt wurden. Wir werden die Forderung aufstellen, den Bauern jene Landanteile zurückzugeben, durch deren Fortnahme die zwangspflichtige Fronarbeit, d. h. in Wirklichkeit die alte Leibeigenschaft aufrechterhalten wird. Wir werden die Forderung aufstellen, Bauernausschüsse zu gründen, um jene empörenden Ungerechtigkeiten zu beseitigen, die die von der Zarenregierung eingesetzten Adelskomitees an den zu befreienden Sklaven begangen haben. Wir werden die Einsetzung von Gerichten verlangen, die das Recht haben, die übermäßig hohen Zahlungen für den Boden herabzusetzen, die die Grundbesitzer, die ausweglose Lage der Bauern ausnützend, erheben, – von Gerichten, vor denen der Bauer Menschen, die sich das äußerste Elend des anderen zunutze machen, um Sklavenverträge abzuschließen, verklagen kann. Wir werden uns bemühen, stets und bei jedem Anlass den Bauern klarzumachen, dass die Leute, die ihnen vom Schutz oder der Hilfe des jetzigen Staates sprechen, entweder Dummköpfe oder Schwindler und ihre schlimmsten Feinde sind, dass die Bauernschaft vor allem die Befreiung von der Willkür und dem Druck der Beamtengewalt braucht, dass sie vor allem die Anerkennung ihrer völligen und unbedingten Gleichberechtigung in jeder Hinsicht mit allen anderen Ständen braucht, völlige Freizügigkeit und das Recht der freien Ansiedlung, das Verfügungsrecht über das Land, das freie Verfügungsrecht in allen Angelegenheiten und über alle Einnahmen der Dorfgemeinde. Die alltäglichsten Tatsachen aus dem Leben eines beliebigen russischen Dorfes können stets tausendfach für die Agitation im Sinne dieser Forderungen Anlass geben. Diese Agitation muss von den örtlichen, konkreten, besonders dringenden Nöten der Bauern ausgehen, darf aber bei diesen Nöten nicht stehen bleiben, sondern muss den Gesichtskreis der Bauern ständig erweitern, ihr politisches Bewusstsein ständig entwickeln, ihnen den besonderen Platz aufzeigen, den die Grundbesitzer und Bauern im Staate einnehmen, und als einziges Mittel zur Befreiung des Dorfes von dem auf ihm lastenden Joch der Willkür und Unterdrückung die Einberufung einer Volksvertretung, den Sturz der Beamtenautokratie empfehlen. Sinnlos und dumm ist die Behauptung, diese Forderung der politischen Freiheit sei dem Bewusstsein der Arbeiter unzugänglich: nicht nur die Arbeiter, die Jahre des offenen Kampfes gegen die Fabrikbesitzer und die Polizei hinter sich haben, die willkürliche Verhaftungen und Verfolgungen ihrer Besten ständig vor Augen haben, nicht nur diese vom Sozialismus bereits angesteckten Arbeiter, sondern auch jeder vernünftige Bauer, der sich einigermaßen Gedanken darüber macht, was er um sich herum sieht, wird imstande sein zu begreifen und einzusehen, wofür die Arbeiter kämpfen, wird sich den Gedanken des Semski Sobor (Landesversammlung) zu eigen machen, der das ganze Land von der Allmacht der verhassten Beamten befreien wird. Und die Agitation, die anknüpft an die unmittelbaren und dringendsten Nöte der Bauernschaft, wird erst dann ihre Aufgabe – den Klassenkampf ins Dorf zu tragen – erfüllen können, wenn sie es verstehen wird, mit jeder Aufdeckung irgendeines „wirtschaftlichen" Übels bestimmte politische Forderungen zu verknüpfen.

Doch fragt es sich, ob die sozialdemokratische Arbeiterpartei Forderungen, wie die obengenannten, in ihr Programm aufnehmen kann? Ist es möglich, dass sie unter den Bauern Agitation treibt? Wird das nicht dazu führen, dass wir uns zersplittern und unsere ohnehin nicht sehr zahlreichen revolutionären Kräfte vom wichtigsten und einzig sicheren Weg der Bewegung ablenken?

Solche Einwände beruhen auf einem Missverständnis. Ja, wir müssen unbedingt in unser Programm Forderungen der Befreiung unseres Dorfes von allen Überresten der Sklaverei aufnehmen, Forderungen, die im besten Teil der Bauernschaft, wenn nicht einen selbständigen politischen Kampf, so doch eine bewusste Unterstützung des Befreiungskampfes der Arbeiterklasse hervorzurufen vermögen. Wir würden einen Fehler begehen, wenn wir für Maßnahmen eintreten wollten, die die gesellschaftliche Entwicklung hemmen oder das Kleinbauerntum vor dem Wachstum des Kapitalismus, vor der Entwicklung der Großproduktion künstlich schützen sollen; ein noch verhängnisvollerer Irrtum aber wäre es, wenn wir es nicht verstehen würden, die Arbeiterbewegung auszunutzen, um unter der Bauernschaft jene demokratischen Forderungen zu verbreiten, die die Reform des 19. Februar 1861 infolge ihrer Entstellung durch die Grundbesitzer und Beamten nicht erfüllt hat. Unsere Partei muss solche Forderungen in ihr Programm aufnehmen, wenn sie an der Spitze des ganzen Volkes den Kampf gegen den Absolutismus führen will*. Aber das setzt keineswegs voraus, dass wir die aktiven revolutionären Kräfte aus der Stadt aufs Land schicken sollen. Davon kann nicht die Rede sein. Es unterliegt keinem Zweifel, dass alle kampffähigen Elemente der Partei nach den Städten und Industriezentren streben müssen, dass nur das Industrieproletariat zu einem entschlossenen Massenkampf gegen den Absolutismus fähig ist, dass dieses Proletariat allein imstande ist, solche Mittel des Kampfes anzuwenden, wie z. B. die Organisierung einer öffentlichen Demonstration oder die Herausgabe einer regelmäßig erscheinenden und weitverbreiteten politischen Volkszeitung. Nicht um überzeugte Sozialdemokraten aus der Stadt aufs Land zu schicken, nicht um sie an das Dorf zu ketten, müssen wir die Bauernforderungen in unser Programm aufnehmen, sondern um jenen Kräften eine Anleitung für ihre Tätigkeit zu geben, die nur auf dem Lande Verwendung finden können um für die Sache der Demokratie und des politischen Kampfes um die Freiheit jene Beziehungen zum Dorfe auszunutzen, die viele überzeugte sozialdemokratische Intellektuelle und Arbeiter infolge ihrer Lage haben und die notwendigerweise mit dem Wachstum der Bewegung sich erweitern und wachsen müssen. Wir sind schon längst über jenes Stadium hinaus, wo wir ein kleiner Trupp von Freiwilligen waren, wo sich der ganze Vorrat an sozialdemokratischen Kräften in Jugendzirkeln erschöpfte, die ausnahmslos alle „zu den Arbeitern gingen". Unsere Bewegung verfügt jetzt über eine ganze Armee, eine Armee von Arbeitern, die vom Kampfe für den Sozialismus und die Freiheit erfasst sind, – eine Armee von Intellektuellen, die an der Bewegung teilnahmen und teilnehmen und die gegenwärtig schon über ganz Russland verstreut sind, – eine Armee von Sympathisierenden, die voller Hoffnung und Glauben auf die Arbeiterbewegung blicken und bereit sind, ihr tausend Dienste zu erweisen. Wir haben eine gewaltige Aufgabe vor uns: alle diese Armeen zu organisieren, sie so zu organisieren, dass wir imstande sind, nicht nur rasch verpuffende revolutionäre Ausbrüche hervorzurufen, nicht nur dem Feinde zufällige, vereinzelte (und daher ungefährliche) Schläge zu versetzen, sondern den Feind im beharrlichen, zähen und konsequenten Kampfe auf der ganzen Linie zu verfolgen, die zaristische Regierung überall zu bekämpfen, wo sie Unterdrückung sät und Hass erntet. Ist es aber möglich, dieses Ziel zu erreichen, ohne in die vielmillionenköpfige Masse des Bauerntums den Samen des Klassenkampfes und des politischen Bewusstseins zu tragen? Man sage nicht, dass dieses Hineintragen des Klassenkampfes in die Bauernschaft unmöglich sei: es ist nicht nur möglich, es geht schon vor sich, es vollzieht sich auf tausend Wegen, die sich unserer Aufmerksamkeit und unserer Einwirkung entziehen. Es wird sehr viel umfassender und rascher vonstatten gehen, wenn wir es verstehen werden, die Losung für eine solche Einwirkung auszugeben, und wenn wir die Fahne entfalten, deren Losung die Befreiung der russischen Bauernschaft von allen Überresten der schmachvollen Leibeigenschaft ist. Das ländliche Volk, das in die Städte kommt, betrachtet jetzt schon mit Neugier und Interesse den ihm unverständlichen Kampf der Arbeiter und trägt die Kunde von dieser Bewegung in die entlegensten Gegenden. Wir können und müssen es erreichen, dass diese Neugier unbeteiligter Zuschauer wenn nicht einem absoluten Verständnis, so doch wenigstens dem unklaren Bewusstsein Platz macht, dass die Arbeiter für die Interessen des gesamten Volkes kämpfen, – dass diese Neugier durch die stets größer werdende Sympathie für diesen Kampf ersetzt wird. Und dann wird der Tag des Sieges der revolutionären Arbeiterpartei über die Polizeiregierung mit einer für uns selbst unerwarteten und ungeahnten Geschwindigkeit herannahen.

1 Aus Anlass der Nummer 3 der „Iskra" und insbesondere des Leninschen Artikels „Arbeiterpartei und Bauernschaft" schrieb P. Axelrod Anfang Mai 1901 an die Redaktion der „Iskra" (München): „Einen vorzüglichen Eindruck hat unser Blatt auf den Bruder (Plechanow – Die Red.) und auf mich gemacht … Die Hauptartikel sind geradezu ausgezeichnet, man kann sogar sagen, glänzend; dass sie klug geschrieben sind, dass die Beurteilung und die Charakteristik der Ereignisse und der Lage usw. einwandfrei sind, ist selbstverständlich. Petrow (Lenin – Die Red.) wird sich natürlich denken können, dass die Forderung auf Rückgabe der „Landstücke" mich ein wenig schockiert, obgleich ich sie für ausgezeichnet halte als Agitationsmittel. Sie schockiert mich nicht wegen ihres Radikalismus, sondern wegen ihres Utopismus. Es besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen einer radikalen revolutionären Forderung, wenn sie auch in Anbetracht des gegebenen und in nächster Zukunft möglichen Verhältnisses der sozialen Kräfte nicht zu erfüllen, aber doch möglich und von unserem Standpunkt aus notwendig ist, und einer Forderung, die ihrem inneren Wesen nach utopisch ist. Doch das ist meine persönliche, private, unmaßgebliche Meinung. Der Artikel aber ist ausgezeichnet!" („Lenin-Sammelbuch" Nr. 3.)

* Der Entwurf des sozialdemokratischen Programms, mit Einschluss der oben genannten Forderungen, ist schon von uns verfasst worden. Wir hoffen, nach Erörterung und Umarbeitung dieses Entwurfes mit Hilfe der Gruppe „Befreiung der Arbeit" den Entwurf des Programms unserer Partei in einer der nächsten Nummern veröffentlichen zu können. {Mit Programmfragen begann sich Lenin bereits in den Jahren 1895/96 während seiner Gefängnishaft (in Petersburg) zu beschäftigen, wo er den Entwurf des Programms der Sozialdemokratischen Partei und die Erläuterung zum Programm geschrieben hat. In der Verbannung kehrte Lenin zur Arbeit am Programm zurück, und im Frühjahr 1899 schrieb er für die „Rabotschaja Gazeta" einen zweiten Entwurf zum Programm unserer Partei. Dieser Entwurf ist es, von dem Lenin hier spricht. Als in der zweiten Hälfte des Jahres 1901 die Redaktion der „Iskra" und der „Sarja" auf Initiative Lenins vor die Frage der Ausarbeitung eines Parteiprogramms gestellt wurde, wurde auch der obengenannte Entwurf Lenins als Diskussionsmaterial verwertet. Über die Begleitumstände der Ausarbeitung des Parteiprogramms durch die „Iskra"-„Sarja"-Redaktion und über den scharfen Konflikt, der zwischen Lenin und Plechanow in dieser Frage ausgebrochen war, siehe Bd. 5 der Werke.}

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