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Wladimir I. Lenin 19011000 Der Kampf gegen die Hungernden

Wladimir I. Lenin: Der Kampf gegen die Hungernden

[Iskra" Nr. 9, Oktober 1901. Nach Sämtliche Werke, Band 4.2, Wien-Berlin 1929, S. 8-16]

Welch erstaunliche Fürsorge legt unsere Regierung für die Hungernden an den Tag! Was für ein endlos langes Zirkular (vom 17. August) hat der Innenminister an die Gouverneure der von der Hungersnot betroffenen Gouvernements erlassen! Es ist ein ganzes literarisches Werk von über einem Druckbogen Umfang, in dem durch den Mund des Herrn Sipjagin die gesamte Politik der Regierung auf dem Gebiete des Verpflegungswesens dargelegt wird. Durch die Veröffentlichung dieses Werkes hoffte man, wie es scheint, auf die „Gesellschaft" Eindruck zu machen: seht nur, wie fürsorglich wir sind, wie wir uns beeilen, Hilfsmaßnahmen zu treffen, wie wir sowohl die Organisation der Verpflegungsinstitutionen als auch alle Seiten ihrer Tätigkeit im Voraus in Erwägung ziehen. Und man muss zugeben, dass das Zirkular des Innenministeriums tatsächlich Eindruck macht, und zwar nicht nur durch seine Länge, sondern auch (wenn man die Geduld hat, es bis zu Ende zu lesen) durch seinen Inhalt. Eine offene Darlegung des Regierungsprogramms liefert immer die beste Waffe für die Agitation gegen die zaristische Regierung, und indem wir Herrn Sipjagin unseren ehrerbietigsten Dank aussprechen, nehmen wir uns die Freiheit, auch den übrigen Herren Ministern zu empfehlen, doch öfters von ihrem Programm in Zirkularen zu sprechen, die zur allgemeinen Kenntnisnahme veröffentlicht werden.

Wir sagten: wenn man die Geduld hat, das Zirkular des Herrn Sipjagin bis zu Ende zu lesen. Geduld aber braucht man dazu reichlich viel, denn zu drei Vierteln … nein, sogar zu neun Zehnteln – besteht das Zirkular aus dem üblichen amtlichen Phrasengedresch. Ein Wiederkäuen von längst bekannten und hundertmal in der „Gesetzessammlung" selbst wiederholten Dingen, ein ständiges im-Kreise-Herumgehen, eine detaillierte Schilderung des chinesischen Zeremoniells für den Verkehr unter den Mandarinen, ein prachtvoller Kanzleistil mit Perioden von 36 Zeilen und mit Redewendungen, bei denen einem das Herz weh tut um die russische Muttersprache, – wenn man sich in all diese Pracht hineinliest, fühlt man sich wie auf einem russischen Polizeirevier, dessen Mauern nach Fäulnis riechen, wo alle Seiten einen spezifischen Gestank ausströmen, wo die Beamten – allein schon ihrem Äußeren und ihren Verkehrsformen nach – die Verkörperung des unerträglichsten Schlendrians sind, und wo die durch das Fenster sichtbaren Hofgebäude lebhaft an einen Kerker erinnern.

Drei Hauptpunkte des neuen Regierungsprogramms lenken die besondere Aufmerksamkeit auf sich: erstens, die Erhöhung der individuellen Machtbefugnis der Beamten, die Sorge dafür, dass der Geist des Bürokratismus und der Dienstdisziplin gestärkt und gegen jeden freien Luftzug geschützt wird; zweitens, die Festlegung der Normen für die Unterstützung der Hungernden, d. h. die Bestimmung, auf welche Weise und wie hoch die Brotmenge für eine „bedürftige" Familie zu berechnen ist; drittens, der Ausdruck panischen Schreckens vor der Möglichkeit, dass „unzuverlässige" Leute, die imstande sind, das Volk gegen die Regierung aufzuwiegeln, sich beeilen, den Hungernden zu helfen, und die rechtzeitige Ergreifung von Maßnahmen gegen eine solche „Agitation". Betrachten wir jeden von diesen Punkten genauer.

Es ist nur ein Jahr vergangen, seitdem die Regierung den Semstwos die Leitung des Verpflegungswesens entzogen und sie in die Hände der Bezirkshauptleute und Kreistage gelegt hat (Gesetz vom 12. Juni 1900). Und nun wird dieses Gesetz, noch bevor es in Kraft getreten ist, durch ein einfaches Zirkular wieder aufgehoben. Einige Mitteilungen der Gouverneure genügten, um von der Unbrauchbarkeit des Gesetzes zu überzeugen! Das zeigt mit aller Deutlichkeit, welche Bedeutung die Gesetze haben, die in den Petersburger Departements wie Pfannkuchen gebacken werden, ohne ernsthafte Rücksprache mit wirklich sachkundigen Leuten, die fähig sind, eine selbständige Meinung zu äußern, ohne ernste Absicht, eine dem Zweck besser entsprechende Ordnung zu schaffen, – Gesetze, die geschaffen werden, um den Ehrgeiz irgendeines schuftigen Ministers zu befriedigen, der den Wunsch hat, sich auszuzeichnen und möglichst rasch seine gute Gesinnung zu beweisen. Die Semstwos sind nicht wohlgesinnt, – also entziehe man ihnen das Verpflegungswesen! Aber kaum hat man es ihnen entzogen, da erweist es sich, dass auch die Bezirkshauptleute und selbst die nur aus Beamten zusammengesetzten Kreistage immer noch zu viel räsonnieren: unter den Bezirkshauptleuten hat es wahrscheinlich Leute gegeben, die die Dummheit begingen, den Hunger Hunger zu nennen, die naiv genug waren, zu glauben, man müsse gegen den Hunger kämpfen und nicht gegen diejenigen, die den Hungernden tatsächlich helfen wollen; auf den Kreistagen hatte wahrscheinlich der eine oder andere Beamte, der nicht dem Ressort des Innenministeriums angehört, ein ebensolches Unverständnis für die wahren Aufgaben der „Innenpolitik" an den Tag gelegt. Und nun wird durch ein einfaches Zirkular des Ministers eine neue „Kreis-Zentralstelle" geschaffen … ja, ja, das ist kein Druckfehler: „eine Kreis-Zentralstelle für das Verpflegungswesen", deren ganze Aufgabe darin besteht, keine unzuverlässigen Leute, keine schlechte Gesinnung, keine unvernünftigen Handlungen auf dem Gebiet des Verpflegungswesens zuzulassen. So z. B. hält es der Minister für unvernünftig und verbietet es, „vorzeitig" (d. h. nicht unmittelbar vor der Verteilung des Getreides) Listen der Bedürftigen aufzustellen: das rufe bei der Bevölkerung „übertriebene Hoffnungen" hervor! Die „Kreis-Zentralstelle für das Verpflegungswesen" ist in der Hand einer einzigen Person konzentriert, und das Ministerium empfiehlt hierfür den Kreisadelsmarschall. Und in der Tat: dieser steht in so enger Verbindung mit dem Gouverneur, erfüllt so viele Polizeipflichten, dass er sicherlich den wahren Geist der Ernährungspolitik richtig erfassen wird. Überdies ist er ein ortsansässiger Großgrundbesitzer, beehrt mit dem Vertrauen aller Gutsbesitzer. Ein solcher Mensch wird sicherlich am besten den tiefen Gedanken des Ministers begreifen, dass die Unterstützungen auf Leute, die auch ohne sie „auskommen könnten", einen „demoralisierenden" Einfluss haben. Was die Vollmachten des Gouverneurs anbelangt, so werden sie vom Minister gleich zu Anfang in Erinnerung gebracht, und dann wird noch oft wiederholt, dass der Gouverneur für alles verantwortlich sei, dass sich alles dem Gouverneur unterzuordnen habe, dass der Gouverneur es verstehen müsse, „besondere" Maßnahmen zu treffen usw. War der Gouverneur schon bisher in der russischen Provinz ein richtiger Satrap, von dessen Gnade die Existenz jeder beliebigen Institution oder sogar jeder beliebigen Person in dem ihm „anvertrauten" Gouvernement abhing, so wird jetzt in dieser Beziehung ein förmlicher „Kriegszustand" geschaffen. Eine ungewöhnliche Verschärfung der Maßnahmen – aus Anlass der Hilfeleistung für die Hungernden! Das ist echt russisch!

Aber größere Strenge, Verstärkung der Aufsicht, – all das erfordert eine Erhöhung der Ausgaben für den Beamtenapparat. Und der Minister hat das nicht vergessen: den Herren Kreisadelsmarschällen oder sonstigen Personen, die die „Kreis-Zentralstelle für das Verpflegungswesen" leiten, wird eine „besondere Summe" zur Vergütung ihrer Auslagen ausgesetzt, „über deren Höhe“ – fügt das Zirkular in seiner „besonderen" Mundart hinzu – „Ew. Exzellenz sich mit entsprechenden Vorschlägen an mich wenden möge". Hinzu kommt ein einmaliger Betrag von 1000 Rubel für „Betriebsunkosten" der Kreisräte, und 1000 bis 1500 Rubel als Kanzleigelder für die Gouvernementsämter. Das meiste werden ja die Kanzleien arbeiten, die ganze Arbeit wird schließlich in Kanzleiarbeit bestehen – wie sollte man da die Kanzleigelder vergessen? Vor allem gilt es also, für die Kanzleien zu sorgen – was übrig bleibt, ist für die Hungernden.

Herr Sipjagin offenbart eine erstaunliche Zähigkeit und Findigkeit im Ausklügeln von Maßnahmen zur Reduzierung der Unterstützungen für die Hungernden. Vor allem fordert er, dass die Gouverneure die Frage erörtern, welche Kreise „von der Missernte betroffen sind" (die endgültige Entscheidung dieser Frage bleibt dem Ministerium selbst vorbehalten: man kann nicht wissen, ob selbst die Gouverneure imstande sind, „Übertreibungen" zu vermeiden!). Und dann werden Vorschriften gemacht, wann die Ernteergebnisse eines Kreises nicht als ungünstig zu betrachten sind: 1. wenn nicht mehr als ein Drittel der Amtsbezirke gelitten hat; 2. wenn der Mangel an Getreide eine übliche Erscheinung ist und in jedem Jahre Getreide auf dem Weg von Nebenverdienst hinzugekauft werden muss; 3. wenn die lokalen Mittel für die Gewährung von Unterstützungen ausreichen. Wir sehen schon hier ein kleines Musterbeispiel der bürokratischen Lösung in Ernährungsfragen: alles wird mit einem Maß gemessen! Wie stark die Bevölkerung in dem einen Drittel der Amtsbezirke ist, in welchem Maße sie gelitten hat, ob nicht die üblichen „Nebenverdienste" in dem Jahr schwerster industrieller Krise gesunken sind – all das sind nach den entschiedenen „Vorschriften" des Ministeriums müßige Fragen! Aber das Beste kommt noch. Das Wichtigste ist, wer als notleidend anzusehen ist und wie hoch die Unterstützungen zu bemessen sind. Herr Sipjagin empfiehlt folgende „annähernde Berechnung", die sich „nur selten als irgendwie wesentlich übertrieben erweist" (wir fürchten vor allem die Übertreibungen; wir fürchten übertriebene Hoffnungen, fürchten übertrieben große Darlehen! Hunger und Arbeitslosigkeit, -– das alles sind nur „Übertreibungen": das ist der klare Sinn aller ministeriellen Ausführungen). Erstens, wird durch einen Probeausdrusch „der mittlere Ertrag pro Desjatine in jedem Dorfe" festgestellt und dann der Umfang der Saatfläche eines jeden Besitzers. Warum werden nicht auch die Ernteerträge der Besitzer entsprechend ihrer verschiedenen Vermögenslage festgestellt? Die Ernte der Dorfarmut fällt niedriger aus, und so ist die Feststellung eines „Durchschnittsertrages" gerade für die Notleidenden ungünstig. Zweitens gilt derjenige als nicht notleidend, bei dem mindestens 48 Pud Getreide im Jahr auf die Familie entfallen (wobei je 12 Pud auf drei Erwachsene und je 6 Pud auf zwei Kinder gerechnet werden). So rechnet der unmenschlichste Kulak: selbst die ärmsten Bauern verbrauchen in einem gewöhnlichen Jahr für eine fünf- bis sechsköpfige Familie nicht 48, sondern 80 Pud Getreide, wie aus Beschreibungen der Bauernwirtschaft bekannt ist; der Mittelbauer dagegen verbraucht im gewöhnlichen Jahr für eine fünfköpfige Familie 110 Pud Getreide. Das heißt also, dass die zaristische Regierung die tatsächlich zur Ernährung notwendige Getreidemenge auf die Hälfte reduziert. Drittens wird „diese Quantität" (d. h. 48 Pud pro Familie), so heißt es im Zirkular, „um die Hälfte vermindert, da die Bevölkerung zu 50 Prozent aus Arbeitern besteht". Die Regierung beharrt zäh auf ihrem Prinzip, dass die Arbeiterbevölkerung keine Darlehen erhalten solle, da sie ja verdienen könne. Aber der Minister hat doch bereits einmal vorgeschrieben, jene Kreise als nicht von der Missernte betroffen zu betrachten, in denen üblicherweise Nebenverdienste vorhanden sind. Wozu also die Arbeiterbevölkerung ein zweites Mal von der Unterstützung ausschließen? Weiß doch jeder, dass es in diesem Jahre nicht nur keinen besonderen Verdienst gibt, sondern dass auch der übliche Verdienst infolge der Krise gesunken ist. Hat doch die Regierung selber Zehntausende arbeitsloser Arbeiter aus den Städten in die Dörfer verschickt! Hat doch die Erfahrung der früheren Hungersnöte bewiesen, dass die Ausschließung der Arbeiterbevölkerung nur zu einer Teilung der ungenügenden Unterstützung zwischen Kindern und Erwachsenen führt! Nein, das Sprichwort: ,.Man kann dem Schaf nicht zweimal das Fell abziehen", wäre noch zu schmeichelhaft für das Innenministerium, das durch seine zwei Verordnungen alle Arbeitsfähigen aus der Zahl der Notleidenden ausschließt! Viertens erfährt dann diese schon um die Hälfte verminderte Quantität, die eine vollkommen ungenügende Unterstützung darstellt, noch eine weitere Verminderung um 1/51/10 „im Hinblick auf die annähernde Zahl der wohlhabenden Besitzer, die noch einen Vorrat vom letzten Jahr her oder sonst irgendein Vermögen besitzen"!! Das ist das dritte Fell eines und desselben Schafes! Was für „Vermögen" oder „Vorräte" kann ein Bauer besitzen, der für seine Familie nicht mehr als 48 Pud Getreide eingesammelt hat? Alle sonstigen Verdienste sind ja schon doppelt eingerechnet, und außerdem kann selbst der russische Bauer bei all seinem Elend, in das ihn die Politik der Regierung, das Joch des Kapitals und der Gutsbesitzer gebracht haben, nicht ausschließlich von Brot leben. Notwendig sind noch Ausgaben für Heizung, Hausreparaturen, Kleidung und andere Nahrungsmittel. In einem gewöhnlichen Jahr geben selbst die ärmsten Bauern, wie aus wissenschaftlichen Beschreibungen der Bauern Wirtschaft bekannt ist, über die Hälfte ihres Einkommens für Bedürfnisse aus, die sie außer dem Brot noch haben. Wenn man das alles in Erwägung zieht, so erweist es sich, dass der Minister die Hilfsbedürftigkeit vier- bis fünf mal niedriger ansetzt, als es der wirklichen Notlage entsprechen würde. Es ist das kein Kampf gegen die Hungersnot, sondern ein Kampf gegen diejenigen, die den Hungernden wirklich helfen wollen.

Das Zirkular schließt mit einem direkten Feldzug gegen die privaten Wohltäter. Des öfteren hat es sich gezeigt – donnert Herr Sipjagin –, dass verschiedene Wohltäter bemüht sind, in der Bevölkerung „Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung und ein in keiner Weise gerechtfertigtes anspruchsvolles Verhalten gegenüber der Regierung zu wecken", dass sie eine „regierungsfeindliche Agitation" treiben usw. Diese Anschuldigungen sind einfach erlogen. Bekanntlich sind im Jahre 1891 Flugblätter der „Bauernfreunde"1 verbreitet worden, die das Volk mit Recht auf seinen wirklichen Feind hinwiesen; es hat wahrscheinlich auch noch andere Versuche gegeben, die Hungersnot für die Agitation auszunutzen! Aber in keinem einzigen Falle haben Revolutionäre ihre Agitation unter der Maske der Wohltätigkeit getrieben. Die Masse der Wohltäter – das ist eine Tatsache, an der nicht gezweifelt werden kann – waren ausschließlich Wohltäter, und wenn sich Herr Sipjagin darauf beruft, dass unter ihnen viele „Personen mit nicht einwandfreier politischer Vergangenheit" seien, so fragt es sich, wer denn bei uns jetzt noch eine „einwandfreie Vergangenheit" hat? Selbst „hochgestellte Persönlichkeiten" haben sehr oft in ihrer Jugend der allgemeinen demokratischen Bewegung ihren Tribut gezollt! Es fällt uns natürlich nicht ein, zu sagen, dass die Agitation gegen die Regierung wegen der Hungersnot unzulässig oder auch nur unerwünscht sei. Im Gegenteil, die Agitation ist stets notwendig, und ganz besonders in Zeiten der Hungersnot. Wir wollen nur sagen, dass Herr Sipjagin in dem Bemühen, seine Ängste und Befürchtungen als Ergebnis der Erfahrung hinzustellen, Märchen erfindet. Wir wollen sagen, dass die Worte des Herrn Sipjagin nur die eine alte Wahrheit beweisen: die Polizeiregierung fürchtet jede Berührung der auch nur einigermaßen unabhängigen und ehrlichen Intelligenz mit dem Volke, sie fürchtet jedes offen an das Volk gerichtete wahre und kühne Wort und argwöhnt – und zwar mit Recht –, dass schon allein die Sorge um die wirkliche (und nicht scheinbare) Linderung der Not gleichbedeutend sei mit einer Agitation gegen die Regierung, denn das Volk sieht, dass die privaten Wohltäter ihm aufrichtig helfen wollen, während die Beamten des Zaren nur Hindernisse in den Weg legen, die Unterstützung kürzen, den Umfang der Not verkleinern, die Einrichtung von Speisestellen erschweren usw. Jetzt fordert das neue Zirkular direkt, alle Geldspenden und Aufforderungen zu Spenden, jede Errichtung von Speisestellen der „Kontrolle der Behörden zu unterstellen"; es verlangt, dass alle Eintreffenden sich dem Gouverneur „vorstellen", ihre Gehilfen nur mit seiner Genehmigung wählen, ihm über ihre Tätigkeit Bericht erstatten!! Wer helfen will, der hat sich den Polizeibeamten und dem Polizeisystem, das die gewissenloseste Beschränkung der Hilfsmaßnahmen vorsieht, zu fügen! Wer sich dieser Niedertracht nicht unterordnen will, der wage es nicht, zu helfen: das ist der ganze Sinn der Regierungspolitik. Herr Sipjagin schreit, dass „politisch unzuverlässige Leute den Hunger gern ausnutzen, um unter der Maske der Nächstenliebe ihre verbrecherischen Ziele zu verfolgen", und die gesamte reaktionäre Presse wiederholt dieses Geschrei (z. B. die „Moskowskije Wjedomosti"). Wie schrecklich! Die Not des Volkes für die „Politik" ausnutzen. In Wirklichkeit ist umgekehrt die Tatsache schrecklich, dass in Russland jede Tätigkeit, selbst eine der Politik so fremde, wie die philantropische (gemeinnützige) Tätigkeit unvermeidlich zum Zusammenstoß der unabhängigen Leute mit der Polizeiwillkür und mit Maßnahmen der „Vorbeugung", des „Verbotes", der „Beschränkung" usw. usw. führt. Schrecklich ist, dass die Regierung hinter Erwägungen der hohen Politik ihre niederträchtige Absicht verbirgt – dem Hungernden das Stück Brot wegzunehmen, die Unterstützung auf ein Fünftel zu beschränken, allen, mit Ausnahme der Polizeibeamten, die Verbindung mit den Hungers Sterbenden zu verwehren! Und wir wiederholen noch einmal den Appell, der schon von der „Iskra" ausgegangen ist2: gegen die Verpflegungskampagne der Polizeiregierung einen Entlarvungsfeldzug zu eröffnen, in der der Zensur nicht unterstellten freien Presse alle Schamlosigkeiten der lokalen Satrapen, die ganze eigennützige Taktik der Kürzung der Unterstützungen, das ganze Elend und die Unzulänglichkeit der Hilfe, das klägliche Vertuschen der Hungersnot und den schmachvollen Kampf gegen diejenigen zu enthüllen, die den Hungernden helfen wollen. Allen, die auch nur eine Spur von aufrichtigem Mitgefühl für die Not des Volkes haben, geben wir den Rat, dafür zu sorgen, dass das Volk den wirklichen Sinn und die Bedeutung des ministeriellen Zirkulars kennenlernt. Lässt es sich doch nur aus der grenzenlosen Unwissenheit des Volkes erklären, dass derartige Zirkulare nicht sofort die allgemeine Empörung hervorrufen. Und mögen die klassenbewussten Arbeiter, die sowohl mit der Bauernschaft als auch mit den rückständigen städtischen Massen in engster Verbindung stehen, die Initiative zu einer solchen Entlarvung der Regierung in ihre Hand nehmen!

1 Der Aufruf mit der Unterschrift „Bauernfreunde" ist im Jahre 1892 unter dem Titel „Erster Brief an die hungernden Bauern" (in 1800 Exemplaren) von der im Jahre 1891 in Petersburg entstandenen „Gruppe der Narodnaja Wolja", die eine eigene illegale Druckerei besaß, gedruckt worden. Der Verfasser des Briefes war der kurz darauf (1892) verstorbene Statistiker N. M. Astyrew. Die gleiche Gruppe hat das Flugblatt „Das freie Wort" (geschrieben von N. K. Michailowski), ferner das Flugblatt „Von einer Gruppe der Narodnaja Wolja" (geschrieben von A. A. Fedulow), ",Das Programm der Narodnaja Wolja", „Brief an die Jugend" (geschrieben von A. A. Fedulow) und zwei Nummern des „Flugblatt" herausgegeben. Im Frühjahr 1894 flog die Gruppe auf (M. S. Alexandrow-Olminski, W. I. Braudo, M. G. Suschtschinski, der später dem „Auslandsbund der russischen Sozialdemokraten" beitrat u. a.), die Druckerei jedoch wurde nicht gefunden und trug später, als die Gruppe ihre Tätigkeit wieder aufnahm, den Namen „Lachta-Druckerei". In dieser Druckerei wurde im Jahre 1895 Lenins Broschüre „Erläuterungen zum Gesetz über die Geldstrafen" gedruckt. Die „Lachta-Druckerei" fiel im Juni 1896 der Polizei in die Hände. Die „Gruppe der Narodnaja Wolja" der zweiten Periode begann gegen Ende ihrer Tätigkeit dem Marxismus zuzuneigen.

2 Gemeint ist der Artikel: „Der Hunger naht!" in Nr. 6 der „Iskra" (Juli 1901). Wie aus verschiedenen Tatsachen hervorgeht, ist L. Martow der Verfasser des Artikels. Im Leninschen Verzeichnis der „Iskra"-Artikel mit Namensnennung der Verfasser wird dieser Artikel nicht genannt.

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