VII. Die badische Enquete über die Bauernwirtschaft

VII. Die badische Enquete über die Bauernwirtschaft

.,Es fehlt uns an Raum," schreibt Hertz, „die ausführlichen und interessanten Urteile der badischen Enquete für 37 Gemeinden wiederzugeben. Sie bewegen sich meist im Rahmen der obigen Aussagen, es finden sich neben günstigen indifferente und ungünstige Urteile, aber nirgends gestatten die detaillierten Ausgabebudgets, die die drei Bände der Enquete enthalten, einen Schluss auf ,Unterkonsumtion', ,schmutzigste, entwürdigendste Not', usw. usw." (S. 79.)

Die von uns gesperrten Worte von Hertz enthalten, wie üblich, eine direkte Unwahrheit. Gerade die badische Enquete, auf die er sich beruft, hat für die „Unterkonsumtion" speziell der Kleinbauernschaft unumstößliche dokumentarische Beweise erbracht. Die Verdrehung der Sachlage durch Hertz hängt hier aufs Engste mit einer gewissen, vor allem von den russischen Volkstümlern kultivierten Methode, die sich jetzt sämtliche „Kritiker" in der Agrarfrage zu eigen gemacht haben, zusammen, nämlich mit generellen Aussagen über die „Bauernschaft". Und da im Westen der Begriff „Bauernschaft" noch verschwommener ist als bei uns (es fehlt das scharfe Ständekriterium) und den „Durchschnitt" betreffende Charakteristiken und Schlussfolgerungen den relativen „Wohlstand" (oder wenigstens das Nichthungern) einer Minderheit einerseits und die Benachteiligung der Mehrheit andererseits verschleiern, so bieten sich damit allerhand Apologeten unbeschränkte Betätigungsmöglichkeiten. Nun bietet aber gerade die badische Enquete die Möglichkeit, verschiedene Gruppen der Bauernschaft zu unterscheiden, was Hertz, als Anhänger der „Detaillierung" zu übersehen vorzog. Es wurden 37 typischen Gemeinden typische Großbauern-, Mittelbauern- und Kleinbauernwirtschaften, desgleichen Tagelöhnerwirtschaften entnommen, insgesamt 70 Bauernwirtschaften (31 große, 21 mittlere und 18 kleine) und 17 Tagelöhnerwirtschaften, deren Haushalte einer gründlichen Detailuntersuchung unterworfen wurden. Wir waren nicht in der Lage, alle diese Angaben zu verwerten, allein schon die unten angeführten Hauptergebnisse genügen, um zu ganz unzweideutigen Ergebnissen zu gelangen.

Betrachten wir zunächst die Angaben über den allgemeinen Wirtschaftstypus der großen (a), mittleren (b) und kleinen (c) Bauernwirtschaften (vgl. Anlage VI: „Übersichtliche Darstellung der Ergebnisse der in den Erhebungsgemeinden angestellten Ertragsberechnungen", wobei wir die Angaben dieser Tabelle bezüglich der Großbauern, Mittelbauern und Kleinbauern getrennt erfassen). Der Umfang des Grundbesitzes ist – im Durchschnitt für die Gruppen: a) 33,34 ha, b) 13,5 und c) 6,96 ha – für ein Land des landwirtschaftlichen Kleinbetriebes wie Baden relativ groß; allein, wenn man jene zehn Wirtschaften aus den Gemeinden Nr. 20, 22 und 30 ausschließt, die sich durch einen besonders umfangreichen Landbesitz auszeichnen (ein Kleinbauer besitzt bis zu 43 ha, während ein Großbauer bis zu 170 ha hat!), so erhalten wir folgende, für Baden schon normalere Zahlen: a) 17,8 ha, b) 10,0 ha und c) 4,25 ha. Die Zahl der Familienglieder beträgt bei: a) 6,4, b) 5,8 und c) 5,9. (Diese Angaben, wie auch alle folgenden, beziehen sich, soweit nicht anderes vermerkt, auf alle 70 Wirtschaften.) Somit haben die Großbauern erheblich größere Familien; nichtsdestoweniger spielt die Lohnarbeit bei ihnen eine unvergleichlich größere Rolle. Insgesamt verwenden Lohnarbeit 54 von 70 Bauern, d. h. mehr als drei Viertel der Gesamtzahl, und zwar 29 Großbauern (von 31), 15 Mittelbauern (von 21) und 10 Kleinbauern (von 18). Somit benötigen Lohnarbeiter von den Großbauern 93 Prozent, von den Kleinbauern 55 Prozent. Diese Zahlen sind sehr aufschlussreich für die Nachprüfung der landläufigen (und von den „Kritikern" kritiklos übernommenen) Ansicht über die Belanglosigkeit der Lohnarbeit in der heutigen Bauernwirtschaft. Bei den Großbauern (deren Grundbesitz mit 18 ha unter die 5-20-ha-Kategorie fällt, die bei allen generellen Charakteristiken als eigentliche Bauernwirtschaften gelten), sehen wir rein kapitalistische Wirtschaften: 24 Wirtschaften mit 71 Landarbeitern, nahezu drei Arbeiter pro Wirtschaft, und 27 Wirtschaften, die Tagelöhner für insgesamt 4347 Tage einstellen (161 Arbeitstage pro Wirt). Man vergleiche damit den Umfang des Grundbesitzes bei jenen Großbauern der Umgebung Münchens, deren „Fortschritt" dem biederen Herrn Bulgakow zur Widerlegung des „marxistischen Vorurteils" von der Bedrückung der Bauern durch den Kapitalismus diente!

Bei den Mittelbauern finden wir: bei 8 Mittelbauern 12 Lohnarbeiter, bei 14 Mittelbauern 956 Tagelöhnertage; bei Kleinbauern: bei 2 Kleinbauern 2 Lohnarbeiter, bei 9 Kleinbauern 543 Tagelöhnertage. Die Hälfte der Kleinbauern benötigt Lohnarbeit während zweier Monate (543:9 = 60 Tage), d. h. in der für den Landwirt wichtigsten Periode. (Dabei verfügen diese Kleinbauern trotz des größeren Umfanges ihres Grundbesitzes über einen unvergleichlich geringeren Umfang der Produktion als jene Friedrichsthaler, von denen die Herren Tschernow, David und Hertz so entzückt sind).

Die Wirtschaftsergebnisse sind folgende: 31 Großbauern zeigen 21.329 Mark Reingewinn und 2113 Mark Defizit, d. h. insgesamt 19.216 Mark Gewinn oder 619,9 Mark pro Wirtschaft (bei Abzug der fünf Wirtschaften der Gemeinden Nr. 20, 22 und 30 – 523,5 Mark); für mittlere Wirtschaften lautet die entsprechende Summe 243,3 Mark (272,2 bei Abzug der drei Gemeinden), für die Kleinwirtschaften 35,3 Mark (37,1 bei Abzug der drei Gemeinden. Der Kleinbauer vermag sich mithin, im wahrsten Sinne des Wortes, mit Not über Wasser zu halten, und das nur dank der Einschränkung des Verbrauchs. Die Enquete macht („Ergebnisse" usw. im IV. Band der „Erhebungen", S. 138) Angaben über die Menge der in jeder Wirtschaft verbrauchten wichtigsten Erzeugnisse. Wir geben hier diese Angaben unter Berechnung der Durchschnittswerte für jede der obengenannten Gruppen von Bauern wirtschaften wieder:

Gruppen von Bauern­wirtschaften

Verbrauch pro Person und Tag

Ausgaben pro Person

Brot und Früchte

Kartoffeln

Fleisch

Milch

Tägl. Kolonial­waren, Heizung u. Beleucht.

Jährlich

für Kleidung

Pfd.

Pfd.

Gramm

Liter

Pfennig

Mark

Großbauern

1,84

1.82

138

1,05

72

66

Mittelbauern

1,59

1,90

111

0,95

62

47

Kleinbauern

1.49

1,94

72

1,11

57

38

Tagelöhner

1,69

2,14

56

0,85

51

32

So sehen die Daten aus, die der biedere Hertz „übersehen" hat: Weder Unterernährung noch Not! Wir sehen, dass der Kleinbauer seinen Verbrauch, verglichen mit dem des Groß- und Mittelbauern, sehr beträchtlich einschränkt und kaum besser ernährt und gekleidet ist als der Tagelöhner. Fleisch z. B. genießt er um ein Drittel weniger als der Mittelbauer und nahezu um die Hälfte weniger als der Großbauer. Diese Daten zeigen erneut, wie wertlos ein generalisierendes Urteilen ist, und wie irreführend alle Ertragsberechnungen sind, die die Unterschiede in der Lebenshaltung unberücksichtigt lassen. Beschränken wir uns z. B. auf die Betrachtung allein der beiden letzten Rubriken unserer Tabelle (um uns komplizierte Umrechnungen der Nahrungsmittel in Geld zu ersparen), so stellt sich heraus, dass der „Reingewinn" nicht nur des kleinen, sondern sogar des Mittelbauern eine reine Fiktion darstellt, mit der sich nur reinste Bourgeois, wie Hecht und Klawki, oder reinste Woroschilows, wie unsere Kritiker, abgeben können. In der Tat, wenn wir die Annahme machen, dass der Kleinbauer für gegen Geld erhältliche Produkte soviel ausgibt wie der Mittelbauer, so werden sich dessen Ausgaben um hundert Mark erhöhen, und wir erhalten ein gewaltiges Defizit. Gäbe der Mittelbauer soviel aus wie der Großbauer, so würden seine Ausgaben um 220 Mark steigen, und würde er nicht seine Kost „einschränken", so hätte er ebenfalls ein DefizitF. Bildet denn diese Einschränkung des Verbrauches des Kleinbauern, die selbstverständlich untrennbar verbunden ist mit einer Verschlechterung der Ernährung des Viehes und einer mangelhaften Wiederherstellung (zuweilen sogar direkten Verschwendung) der Produktivkräfte des Bodens, nicht eine vollkommene Bestätigung folgender Worte von Marx, über die die modernen Kritiker so hochmütig die Achseln zucken:

Unendliche Zersplitterung der Produktionsmittel und Vereinzelung der Produzenten selbst. Ungeheure Verschwendung von Menschenkraft. Progressive Verschlechterung der Produktionsbedingungen und Verteuerung der Produktionsmittel ein notwendiges Gesetz des Parzelleneigentums." (Das Kapital", III, 2, S. 341 u. 342.)

In Verbindung mit dieser badischen Enquete sei eine weitere Entstellung des Herrn Bulgakow vermerkt. (Die Kritiker ergänzen sich gegenseitig; entstellt in einer bestimmten Quelle einer derselben die eine Seite der Sache, so ein anderer die andere.) Herr Bulgakow zitiert wiederholt die badische Enquete; man sollte also doch annehmen, dass sie ihm bekannt ist. Nichtsdestoweniger bringt er folgendes Stücklein fertig:

Die angeblich außergewöhnliche und verhängnisvolle Verschuldung des Bauern", so lautet die Ouvertüre, II, S. 271, „wurde zu einem der obligatorischen Dogmen jener Mythologie, die in der Literatur in der Frage der bäuerlichen Wirtschaft aufgekommen ist…" „In den uns vorliegenden Untersuchungen tritt uns eine hohe Verschuldung nur beim allerkleinsten, noch nicht gefestigten Besitz (Taglöhnergüter) entgegen. So fasst Sprenger den Gesamteindruck, den man von den Angaben der umfassenden badischen Enquete (in der Anmerkung wird auf die Enquete verwiesen) erhält, folgendermaßen zusammen: ,… nur die Verschuldung der Taglöhnergüter und der kleinbäuerlichen Besitzungen ist in einer größeren Anzahl Erhebungsgemeinden eine verhältnismäßig stärkere; sie erreicht aber auch hier in der Mehrzahl der Fälle keine Bedenken erregende Höhe…" (S. 272.)

Sonderbar! Einerseits wird auf die Enquete selbst verwiesen, andererseits begnügt man sich mit dem „Gesamteindruck" irgendeines Sprenger, der über die Enquete geschrieben. Überdies sagt Sprenger die Unwahrheit (wenigstens an der von Herrn Bulgakow angeführten Stelle, denn uns ist Sprengers Buch unbekannt1). Die Verfasser der Enquete behaupten, dass in der Mehrzahl der Fälle die Verschuldung gerade des kleinbürgerlichen Besitzes eine zu Befürchtungen Anlass bietende Höhe erreicht. Dies das eine. Zum zweiten aber behaupten sie, dass hinsichtlich der Verschuldung die Lage der Kleinbauern nicht nur schlechter ist als die der Mittel- und Großbauern (was Sprenger vermerkt), sondern auch als die der Tagelöhner.

Überhaupt muss bemerkt werden, dass die Verfasser der badischen Enquete die außerordentlich wichtige Tatsache feststellen, dass die Grenze der zulässigen Verschuldung (d. h. zulässig ohne Gefahr des Ruins) für die großen Wirtschaften höher liegt als für die kleinen. Nach den oben von uns angeführten statistischen Daten über die Wirtschaftsergebnisse für die Großbauern, Mittelbauern und Kleinbauern bedarf dieser Umstand keiner weiteren Erläuterung. Was die großen sowie die mittleren Wirtschaften betrifft, so sind die Verfasser der Enquete der Ansicht, dass eine Verschuldung von 40–70 Prozent (durchschnittlich von 55 Prozent) des Bodenwertes zulässig und unbedenklich sei. Bezüglich der Kleinwirtschaft (deren Größe sie auf 4–7 ha für die Landwirtschaft und auf 2–4 ha für den Weinbau und den Anbau von Handelspflanzen veranschlagen) sind sie der Auffassung, dass „die Grenze der Verschuldung 30 Prozent des Gutswertes nicht übersteigen dürfe, sofern volle Sicherheit regelmäßiger Zinsenzahlung und Schuldenabtragung vorausgesetzt wird" (IV, S. 66).

In den erforschten Gemeinden (mit Ausnahme derjenigen, wo das Anerbenrecht besteht, wie z. B. Unadingen und Neukirch) sehen wir die Verschuldung prozentual zum veranschlagten Wert des Gutes vom Kleinbetrieb zum Großbetrieb sukzessive sinken. Beispielsweise beträgt der Prozentsatz der Verschuldung in der Gemeinde Dittwar für Wirtschaften bis 0,25 ha 180,65 Prozent, von 1-2 ha 73,07 Prozent, von 2-5 ha 45,73 Prozent, von 5-10 ha 25,34 Prozent, von 10-20 ha 3,02 Prozent (S. 89 u. 90, ebenda). Allein die Angaben über die Höhe der Verschuldung enthalten noch nicht alles, und die Verfasser der Enquete gelangen zu folgendem Schluss:

Die vorstehenden Zahlennachweise haben somit die seither schon viel verbreitete Ansicht bestätigt, dass diejenigen Inhaber bäuerlicher Anwesen, welche auf der Grenze (in der Mitte) zwischen den Tagelöhner-(Gewerbe-) Gütlern und den Mittelbauern stehen (man pflegt die hierher gehörigen Landwirte in den Dorfgemeinden als ,Mittelstand' zu bezeichnen), insofern häufig in einer schwierigeren Lage als die oberen und unteren (sic!) Besitzgruppen sich befinden, als sie zwar bei mäßiger Verschuldung ganz gut zu bestehen vermögen, bei einer gewissen, nicht sehr hoch liegenden Grenze der Verschuldung aber, wegen der Unmöglichkeit, einem regelmäßigen Nebenverdienst (im Tagelohn usw.) nachzugehen und dadurch das Einnahmekonto zu erhöhen, nur schwer … ihre Verpflichtungen zu erfüllen vermögen …" Tagelöhner sind, „sofern die Nebenverdienstquelle nur einigermaßen regelmäßig fließt, häufig in wesentlich günstigerer Lage als jene Angehörigen des ,Mittelstandes', weil, wie das die Berechnungen in einer Anzahl von Fällen nachgewiesen haben, der Nebenverdienst dasjenige Maß barer Einnahmen häufig verschafft, das nötig ist, um selbst eine hohe Verschuldung zurückzuzahlen."G (S. 67, l. c.)

Schließlich wiederholen die Verfasser erneut, dass die Verschuldung des kleinbürgerlichen Besitzes, an der zulässigen Grenze der Verschuldung gemessen, „zum Teil nicht ohne Gefahr" sei, und dass „zur Anwendung größerer wirtschaftlicher Vorsicht bei Liegenschaftserwerbungen daher vor allem gerade die kleinbäuerliche und der ihr nahestehende Teil der Tagelöhnerbevölkerung besonders veranlasst" seien (S. 98),

Hier zeigt sich das wahre Gesicht des bürgerlichen Beraters des Kleinbauern! Einerseits stützt er die Hoffnung der Proletarier und Halbproletarier, sich, „wenn nicht in der ersten, so doch in der zweiten Generation" ein Stückchen Land zu erwerben, um von diesem bei Fleiß und Mäßigkeit einen riesigen „Reinertrag" zu erlangen, andererseits empfiehlt er gerade den Armen eine „besonders große Vorsicht" beim Landankauf, sofern nicht „regelmäßige Verdienstmöglichkeiten" vorhanden seien, d. h. sofern die Herren Kapitalisten keinen Bedarf an sesshaften Arbeitern haben. Bei alledem finden sich noch „kritische" Einfaltspinsel, die eine solche eigennützige Lüge und solche platte Abgeschmacktheiten für Ergebnisse der allermodernsten Wissenschaft halten!

Die von uns angeführten detaillierten Daten über Groß-, Mittel- und Kleinbauern vermöchten nun, sollte man meinen, selbst Herrn V. Tschernow plausibel zu machen, worin denn eigentlich der Inhalt jener Kategorie der „Kleinbürgerlichkeit" in Anwendung auf den Bauern bestehe, die ihm einen solchen Schrecken einjagt. Die kapitalistische Entwicklung hat das allgemeine wirtschaftliche Gefüge nicht allein der westeuropäischen Staaten im Vergleich zueinander, sondern auch Russlands im Vergleich zum Westen, bereits derart einander genähert, dass die ökonomischen Grundzüge der Bauernwirtschaft in Deutschland sich als dieselben erweisen wie in Russland. Nur, dass jener Prozess der Differenzierung der Bauernschaft, der durch die russische marxistische Literatur eingehend nachgewiesen worden ist, sich in Russland noch in einem Anfangsstadium der Entwicklung befindet, dort noch keine mehr oder minder endgültigen Formen angenommen, z. B. noch keinen besonderen und für alle sichtbaren, prägnanten Typus des Großbauern ausgeschieden hat und die Massenexpropriation und das Aussterben eines gewaltigen Teiles der Bauernschaft die „ersten Schritte" unserer Dorfbourgeoisie noch allzu sehr verdecken. Im Westen hat dieser Prozess, der bereits vor der Aufhebung der Leibeigenschaft eingesetzt hat (vgl. Kautsky, „Agrarfrage", S. 27), seit langem einerseits zur Vernichtung der ständischen Schranke zwischen der Bauernschaft und der Wirtschaft des „Privatbesitzes" (in unserem Sinne), andererseits zur Bildung einer bereits ziemlich ausgeprägten Klasse landwirtschaftlicher Lohnarbeiter geführt.H Allein man beginge einen großen Fehler, wollte man glauben, dass dieser Prozess – sofern sich einmal mehr oder minder bestimmte Formen neuer Typen der Landbevölkerung herausgebildet haben – zum Stillstand gekommen sei. Im Gegenteil, dieser Prozess vollzieht sich unablässig weiter, selbstverständlich bald rascher, bald weniger rasch, entsprechend seiner Abhängigkeit von einer großen Zahl wechselnder Umstände und unter dem Einfluss verschiedener agronomischer Bedingungen usw. in den mannigfaltigsten Formen. Die Proletarisierung der Bauernschaft geht weiter, das werden wir weiter unten an Hand der Massendaten der deutschen und französischen Statistik zeigen, überdies ist das bereits aus den oben angeführten Angaben über die Kleinbauern klar zu ersehen. Die bloße Tatsache der zunehmenden Landflucht nicht nur der Landarbeiter, sondern auch der Bauern, bezeugt bereits augenfällig eine Zunahme der Proletarisierung. Der Flucht des Bauern nach der Stadt geht aber nun notwendigerweise dessen Ruin voraus, dem Ruin seinerseits ein zäher Kampf um die wirtschaftliche Selbständigkeit. Diesen Kampf nun illustrieren in prägnanter Weise die Angaben über die Verwendung von Lohnarbeit, die Höhe der „Reineinnahmen" und die Höhe des Konsums bei Bauern verschiedener Typen. Die Hauptkampfmittel sind „eiserner Fleiß" und Sparsamkeit, eine Sparsamkeit mit der Devise: „lassen wir den Magen und sorgen wir lieber für den Geldbeutel!" Das unabwendbare Ergebnis des Kampfes aber ist: Ausscheidung einer Minderheit wohlhabender, begüterter Besitzer (zumeist einer winzigen Minderheit, nämlich in allen denjenigen Fällen, in denen keine besonders günstigen Umstände, wie die Nähe einer Hauptstadt, der Bau einer Eisenbahn, die Entdeckung eines neuen einträglichen Zweiges landwirtschaftlichen Handels vorliegen usw.) und wachsende Verelendung der Mehrheit, die durch chronische Unterernährung und übermäßige Arbeit die Kraft des Arbeiters untergräbt und die Qualität des Bodens und des Viehes herabdrückt. Das unabwendbare Ergebnis des Kampfes ist ferner die Bildung einer Minderheit kapitalistischer, auf Lohnarbeit beruhender Wirtschaften und wachsende Notwendigkeit für die Mehrheit, sich nach „Nebenverdiensten" umzusehen, d. h. zu industriellen und landwirtschaftlichen Lohnarbeitern zu werden. Die Angaben über Lohnarbeit zeigen mit größter Klarheit die der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung innewohnende, bei ihrem Fortbestand unabwendbare, immanente Tendenz zur Verwandlung eines jeden Kleinproduzenten in einen kleinen Kapitalisten.

Es wundert uns keineswegs, dass die bürgerlichen Ökonomen einerseits und allerhand Opportunisten andererseits dieser Seite der Sache gegenüber die Augen verschließen und gar nicht anders können. Der Zerfall der Bauernwirtschaft zeigt uns die tiefsten Widersprüche des Kapitalismus in ihrer Entstehung und weiteren Steigerung. Eine volle Berücksichtigung dieser Widersprüche führt unabwendbar zur Anerkennung der Ausweglosigkeit und der Hoffnungslosigkeit der Lage der Kleinbauernschaft (Hoffnungslosigkeit – ohne den revolutionären Kampf des Proletariats gegen die gesamte kapitalistische Ordnung). Kein Wunder, dass gerade diese tiefsten und noch unentwickelten Widersprüche verschwiegen werden. Man sucht die Tatsache der Überanstrengung und Unterernährung der Kleinbauern, die nur gewissenlose oder unwissende Leute leugnen können, zu umgehen; man drückt sich um die Frage der Lohn arbeit bei der Dorfbourgeoisie, der Lohnarbeit der Dorfarmut herum. Herr Bulgakow z. B. beschert uns den „Versuch einer Theorie der Agrarentwicklung", in dem die beiden letzten Fragen mit beredtem StillschweigenI übergangen werden!

Als Bauernwirtschaft", sagt er, „kann man eine Wirtschaft ansehen, die ganz oder vorwiegend mit der Arbeit der eigenen bäuerlichen Familie auskommt; ohne fremde Arbeit – nachbarliche Hilfe oder kurzfristige Lohnarbeit – kommt selten eine Bauernwirtschaft aus, was indessen deren ökonomische Physiognomie nicht ändert." (Nun, natürlich!) (I, S. 141.)

Hertz erklärt noch naiver gleich zu Beginn seines Buches:

Unter Kleinbetrieb oder Bauernwirtschaft verstehe ich im folgenden stets jene Betriebe, die nur die Arbeitskraft des Besitzers, seiner Familie und höchstens einen oder zwei Arbeiter beschäftigen" (S. 6).

Sobald es sich um die Dingung eines Arbeiters handelt, vergessen unsere Kleinbürger schnell jene „Besonderheiten" der Landwirtschaft, mit denen sie sonst bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit hausieren gehen. In der Landwirtschaft sind ein oder zwei Arbeiter, auch wenn sie nur im Sommer beschäftigt werden, durchaus nicht wenig. Allein, nicht das ist wichtig, ob es viel oder wenig ist, sondern, dass zur Dingung von Arbeitern gerade die wohlhabenden, die begüterten Landwirte greifen, deren „Fortschritte" und „Wohlstand" die Ritter des Spießbürgertums für einen Wohlstand der Masse der Bevölkerung auszugeben belieben. Um nun dieser Verdrehung des wahren Sachverhalts eine annehmbare Form zu verleihen, erklären diese Ritter großspurig: „Der Bauer ist genau so ein arbeitender Mensch wie der Proletarier". (Bulgakow II, S. 288.) Und der Verfasser drückt seine Zufriedenheit damit aus, dass die „Arbeiterparteien immer mehr den ihnen früher eigenen (früher eigenen!) bauernfeindlichen Charakter verlieren" (S. 289). Diese „frühere" Anschauung habe nämlich „außer acht gelassen, dass das bäuerliche Eigentum kein Ausbeutungsmittel, sondern eine Vorbedingung für die Anwendung von Arbeit" darstelle. So wird Geschichte geschrieben! Wahrlich, da müssen wir schon sagen: Ihr mögt fälschen, ihr Herren, aber mit Maß! Hat doch derselbe Herr Bulgakow eine zweibändige, 800 Seiten starke, von „Zitaten" (deren Genauigkeit wir wiederholt aufgezeigt haben) aus allen möglichen Enqueten, Schilderungen, Monographien usw. strotzende „Untersuchung" geschrieben, ohne auch nur in einem Falle, buchstäblich einem einzigen Falle, zu versuchen, jenes Verhältnis aufzuklären, in dem die Bauern, deren Eigentum ein Ausbeutungsmittel sei, zu jenen Bauern stünden, deren Eigentum „bloß" eine Vorbedingung für die Anwendung von Arbeit sei. Nirgends findet man bei ihm systematische Angaben (die sich, wie wir gesehen haben, auch in den von ihm selbst zitierten Quellen vorfinden) über den Wirtschaftstypus, die Lebenshaltung usw. bei Bauern, die Lohnarbeiter beschäftigen, ferner solchen, die weder Lohnarbeiter verwenden noch sich selbst verdingen, endlich solchen, die sich als Arbeiter verdingen. Nicht genug damit. Wir sahen, wie er sich zur Bekräftigung seiner Behauptung vom „Fortschritt der Bauernwirtschaft" (der Bauernwirtschaft schlechthin!) auf Tatsachen berief, die sich auf Großbauern beziehen, und auf Gewährsmänner, die einen Fortschritt bei der einen Gruppe und eine Verelendung, eine Proletarisierung bei der anderen konstatieren. In der Bildung „starker Bauernwirtschaften" sieht er sogar eine allgemeine „soziale Gesundung" (sic!) (II, S. 138; vgl. die allgemeinen Schlussfolgerungen auf S. 456), als ob eine starke Bauernwirtschaft nicht gleichbedeutend mit einer bourgeoisen, kapitalistischen Bauernwirtschaft wäre! Sein einziger Versuch, sich aus diesem Netz von Widersprüchen zu befreien, besteht in folgendem, die Sache noch mehr verwirrenden Gedankengang:

Natürlich bildet die Bauernschaft keine gleichförmige Masse; das ist oben gezeigt worden (wahrscheinlich in den Betrachtungen über ein so unbedeutendes Detail, wie die industrielle Lohnarbeit des Ackerbauers); hier findet ein dauernder Kampf statt zwischen differenzierenden und nivellierenden Tendenzen. Sind denn aber diese Unterschiede und selbst die Gegensätze der Sonderinteressen größer als die zwischen den einzelnen Schichten der Arbeiterklasse, zwischen den städtischen und den ländlichen Arbeitern, zwischen den Gelernten und Ungelernten, zwischen den gewerkschaftlich Organisierten und den Unorganisierten? War es doch gerade die völlige Außerachtlassung dieser Verschiedenheiten innerhalb des Arbeiterstandes (die andere Forscher veranlasste, neben dem vierten bereits von einem fünften Stand zu reden), die es ermöglichte, eine pseudohomogene Arbeiterklasse einer heterogenen Bauernschaft entgegenzustellen" (S. 288).

Welch tiefgründige Analyse! Berufsunterschiede mit Klassenunterschieden und Unterschiede in der Lebenslage mit Unterschieden in der Lage der Klassen im Gesamtsystem der gesellschaftlichen Produktion verwechseln, illustriert das nicht auf das augenfälligste die völlige wissenschaftliche Prinzipienlosigkeit der zur Zeit üblichen „Kritik"J und deren praktische Tendenz, den Begriff der „Klasse" selbst zu verwischen, die Idee des Klassenkampfes als solche zu beseitigen! Der Landarbeiter verdient 50 Kopeken im Tag, der Tagelöhner beschäftigende Bauer einen Rubel im Tag, der Fabrikarbeiter in der Hauptstadt 2 Rubel im Tag, der kleine Besitzer einer Werkstatt in der Provinz 1,5 Rubel im Tag. Jedem einigermaßen denkenden Arbeiter ist es ohne weiteres klar, welchen Klassen die Vertreter dieser verschiedenen „Schichten" angehören und in welcher Richtung die öffentliche Betätigung dieser „Schichten" liegen muss. Für einen Vertreter der Universitätswissenschaft oder einen modernen „Kritiker" dagegen ist das eine Weisheit, die sein Kopf nicht zu fassen vermag.

F Herr Tschernow „erwidert": „Auferlegt denn der Großbauer seinem Tagelöhner nicht noch größere Entbehrungen in Kost und anderen Ausgaben? („Russkoje Bogatstwo", 1900, Nr. 8, S. 212.) Diese Erwiderung wiederholt, wenn man so sagen darf, die alte Kriwenko-Woronzowsche Methode, bei der dem Marxisten bürgerlich-liberale Argumente unterschoben werden. Die Erwiderung hätte Sinn nur demjenigen gegenüber, der behaupten wollte, der Großbetrieb stehe nicht nur technisch höher sondern auch, weil er die Lage des Arbeiters verbessere (oder sie wenigstens überhaupt leidlich gestalte). Die Marxisten sagen etwas anderes Sie entlarven lediglich die falschen Methoden der Beschönigung der Lage des kleinen Landwirts, sei es nun mittels generalisierender Urteile über den Wohlstand (Herr Tschernow über Hecht) oder mittels Berechnungen der „Rentabilität unter Verschweigung der Einschränkung des Verbrauchs Die Bourgeoisie braucht solche Beschönigungen zur Aufrechterhaltung der Illusion, dass es dem Arbeiter möglich sei, „Besitzer" zu werden, dem kleinen „Besitzer aber, hohe Erträge zu erhalten. Sache der Sozialisten ist es, diese Lügen zu entlarven, und den Kleinbauern klar zu machen, dass es auch für sie keine andere Rettung gibt als den Anschluss an die revolutionäre Bewegung des Proletariats.

1 „Das Werk Sprengers", das Lenin zur Zeit der Abfassung seiner Abhandlung über „Die Agrarfrage und die ,Marxkritiker'" nicht kannte, trägt den Titel „Die Lage der Landwirtschaft in Baden" (Karlsruhe, 1884).

G Der Kleinbauer, bemerken die Verfasser der Enquete mit Recht, verkauft verhältnismäßig wenig gegen bar, obwohl sein Bargeldbedarf besonders groß ist und ihn wegen Kapitalmangels das Viehsterben, der Hagel und ähnliches besonders empfindlich treffen.

H „Die Bauernschaft", heißt es bei Herrn Bulgakow über das Frankreich des XIX. Jahrhunderts, „zerfiel in zwei sich bereits scharf voneinander unterscheidende Teile: Proletariat und kleine Eigentümer" (II, S. 176). Nur sollte der Verfasser sich nicht einbilden, der „Zerfall" sei damit abgetan, er stellt vielmehr einen unaufhörlich fortschreitenden Prozess dar.

I Oder aber mit nicht minder beredten Ausflüchten, etwa folgender Art: „… jene zahlreichen Fälle einer Verbindung von Industrie und Landwirtschaft, in denen Industriearbeiter über ein Stückchen Land verfügen", bilden „lediglich ein Detail (!?) im System der Volkswirtschaft; darin eine neue Äußerung der Industrialisierung der Landwirtschaft, einen Verlust ihrer selbstständigen Entwicklung zu erblicken, dazu liegt vorläufig keinerlei (??) Veranlassung vor. Diese Erscheinung ist ihrem Umfange nach viel zu unbedeutend (in Deutschland z. B. entfallen auf die in der Industrie Beschäftigten nur 4,09 Prozent der landwirtschaftlichen Bodenfläche)" (sic!). (II, S. 254 u. 255.) Erstens beweist der unbedeutende Bodenanteil bei Hunderttausenden von Arbeitern nicht, dass „diese Erscheinung ihrem Umfange nach unbedeutend sei", sondern die Verelendung und Proletarisierung des kleinen Landwirts durch den Kapitalismus. Verfügen doch alle Landwirte mit weniger als 2 ha Land (obwohl ihre Zahl gewaltig ist: 3,2 von 5,5 Millionen, d. h. 58,2 Prozent, fast drei Fünftel der Gesamtzahl) „insgesamt" über 5,6 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche! Will nun etwa der geistreiche Herr Bulgakow daraus schließen, dass die ganze „Erscheinung" des Kleingrundbesitzes und der kleinbäuerlichen Landwirtschaft überhaupt ein „Detail" und „ihrem Umfange nach viel zu unbedeutend" sei?? Unter 5,5 Millionen deutscher Landwirte befinden sich 791.000, d. h. 14,2 Prozent industrieller Lohnarbeiter, wobei deren überwiegende Mehrheit weniger als 2 ha Land besitzt, nämlich 743.000, was 22,9 Prozent der Gesamtzahl der weniger als 2 ha besitzenden Landwirte ausmacht. Zweitens hat Herr Bulgakow, wie üblich, wieder die von ihm angeführte Statistik entstellt. Versehentlich entnahm er der von ihm erwähnten Seite der deutschen Enquete (Stat. d. D. R., Bd. 112, S. 49) die Angabe über die Landfläche der selbständigen industriellen Landwirte. Die nicht selbständigen industriellen Landwirte dagegen (d. h. die industriellen Lohnarbeiter) besitzen insgesamt nur 1,84 Prozent der landwirtschaftlichen Bodenfläche. 791.000 Lohnarbeiter besitzen 1,84 Prozent, 25.000 Grundbesitzer dagegen 24 Prozent der Bodenfläche. In der Tat, ein recht unbedeutendes „Detail"!

J Wir erinnern daran, dass der Hinweis auf die vermeintliche Gleichartigkeit der Arbeiterklasse ein beliebtes Argument E. Bernsteins und aller seiner Anhänger ist. Und was die „Differenzierung" betrifft, so hat schon Herr Struve in seinen „Kritischen Bemerkungen" tiefgründig auseinandergesetzt, dass es eine Differenzierung und eine Nivellierung gäbe; für den objektiven Forscher seien das Vorgänge von gleicher Wichtigkeit (wie es dem Schtschedrinschen objektiven Historiker einerlei war, ob der Isjaslaw den Jaroslaw oder ob der Jaroslaw den Isjaslaw geschlagen habe). Wohl entwickele sich die Geldwirtschaft, doch seien auch Rückschläge in der Richtung der Naturalwirtschaft vorhanden. Zwar entwickele sich die große Fabrikindustrie, doch sei auch eine Entwicklung der kapitalistischen Hausindustrie zu beobachten (Bulg. II, S. 88: „die Hausindustrie denkt noch nicht daran, in Deutschland auszusterben"). Der „objektive" Gelehrte habe sorgfältig Tatsachen zu sammeln, das „Einerseits" und das „Andererseits" zu konstatieren, (gleich Goethes Wagner) „von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt" zu schreiten, nur dürfe er es nicht wagen, sich folgerichtige Anschauungen zu bilden, sich eine allgemeine Vorstellung über den Gesamtprozess zu verschaffen.

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