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Wladimir I. Lenin 19011100 Zuchthausbestimmungen und ein Zuchthausurteil

Wladimir I. Lenin: Zuchthausbestimmungen und ein Zuchthausurteil

[Iskra" Nr. 10, November 1901. Nach Sämtliche Werke, Band 4.2, Wien-Berlin 1929, S. 21-28]

Wieder einmal „provisorische Bestimmungen!"

Diesmal handelt es sich jedoch nicht um Studenten, die der Widersetzlichkeit beschuldigt werden, sondern um Bauern, deren Schuld darin besteht, dass sie hungern.

Am 15. September erfolgte die allerhöchste Bestätigung und unmittelbar darauf die Veröffentlichung der „provisorischen Bestimmungen über die Beteiligung der Bevölkerung der von der Missernte betroffenen Gebiete an den auf Anordnung der Ministerien für Verkehrswesen, für Landwirtschaft und für Staatsdomänen vorzunehmenden Arbeiten". Wenn der russische Bauer die Bestimmungen kennenlernt (natürlich nicht aus der Veröffentlichung in den Zeitungen, sondern aus persönlicher Erfahrung), so wird er eine neue Bestätigung der Wahrheit finden, die ihm die jahrhundertlange Versklavung durch Gutsbesitzer and Beamte eingebläut hat: wenn die Behörden feierlich erklären, dem Bauer sei an einem großen oder kleinen Werk – an der Ablösung von Gutsländereien oder an Notstandsarbeiten aus Anlass der Hungersnot – „die Teilnahme gestattet", so ist irgendeine neue ägyptische Plage zu erwarten.

Und in der Tat macht der ganze Inhalt der provisorischen Bestimmungen vom 15. September den Eindruck eines neuen Strafgesetzes, den Eindruck von ergänzenden Bestimmungen zum Strafgesetzbuch. Vor allem werden schon Organisation und Durchführung der Arbeiten mit einer solchen „Vorsicht" in die Wege geleitet und so sehr verschleppt, dass man meinen könnte, es handle sich um irgendwelche Aufständische oder verbannte Sträflinge, und nicht um Hungernde. Man sollte meinen, die Organisierung der Arbeiten wäre eine höchst einfache Angelegenheit: die Semstwo- und sonstigen Institutionen erhalten Geldmittel und stellen Arbeiter an zum Straßenbau, zur Ausrodung von Wald u. dgl. m. Es ist üblich, Arbeiten solcher Art auf diese Weise zu organisieren. Jetzt aber wird eine besondere Ordnung geschaffen: der Bezirkshauptmann bringt die Arbeiten in Vorschlag, der Gouverneur gibt sein Gutachten ab, das dann nach St. Petersburg an das besondere „Beratende Komitee für Verpflegungswesen" weitergeht, das aus Vertretern der verschiedenen Ministerien unter dem Vorsitz des Staatssekretärs im Innenministerium gebildet wurde. Außerdem liegt die Gesamtleitung in Händen des Ministers, der auch besondere Bevollmächtigte ernennen kann. Das Petersburger Beratende Komitee wird sogar die Höchstnormen für die Entlohnung der Arbeiter festlegen, d. h. es wird wohl dafür sorgen, dass der Bauer nicht durch allzu hohe Bezahlung „korrumpiert" wird! Es ist klar, dass die provisorischen Bestimmungen vom 15. September den Zweck haben, eine weitgehende Organisation der Notstandsarbeiten zu erschweren, ebenso wie das Sipjaginsche Zirkular vom 15. August die Verteilung von Unterstützungen an die Hungernden erschwert hat.

Aber noch viel wichtiger und viel schädlicher sind die Sonderbestimmungen über die Einstellung der Bauern für die Arbeiten.

Wenn die Arbeiten „außerhalb ihres Wohnbezirks" (das wird natürlich in den weitaus meisten Fällen der Fall sein) stattfinden, so bilden die Arbeiter besondere Artels unter der Aufsicht des Bezirkshauptmanns, der auch einen Ältesten zur Aufrechterhaltung der Ordnung einzusetzen hat. Den Ältesten selbst zu wählen, wie es die Arbeiter gewöhnlich zu tun pflegen – das ist den hungernden Bauern nicht erlaubt. Sie werden unter die Fuchtel des Bezirkshauptmanns gestellt! Die Mitglieder des Artels werden auf eine besondere Liste gesetzt, was ihnen die vom Gesetze erforderten Aufenthaltsausweise ersetzt… An die Stelle der Einzelpässe treten also Artel-Listen. Warum geschieht das? Um dem Bauer, der sich, mit einem Einzelpass in Händen, freier bewegen, leichter anderswo eine für ihn bequemere Arbeit finden, seine Arbeit, wenn er mit ihr unzufrieden ist, leichter verlassen könnte, – Schranken zu setzen.

Weiter. „Die Sorge um die Aufrechterhaltung der notwendigen Ordnung während des Transportes und die Ablieferung der beförderten Arbeiterkolonnen an die Leiter der Arbeiten wird Beamten anvertraut, die das Innenministerium speziell für diesen Zweck bestimmt." Freie Arbeiter erhalten einen Vorschuss für die Reise, – Leibeigene werden nach Listen „gruppenweise" „transportiert" und besonderen Beamten „übergeben". Haben die Bauern nicht recht, wenn sie die öffentlichen" und staatlichen Arbeiten als eine neue Leibeigenschaft betrachten?

Und tatsächlich stellt das Gesetz vom 15. September die hungernden Bauern nicht nur in der Hinsicht auf eine Stufe mit den Leibeigenen, dass es ihnen die Bewegungsfreiheit nimmt. Das Gesetz gibt den Beamten das Recht, einen Teil des Arbeitslohnes zur Überweisung an die Familien der Arbeiter einzubehalten, wenn „die Gouvernementsbehörden der Gegenden, in denen die Familien zurückgeblieben sind, das für nötig halten". Über das verdiente Geld wird man also ohne Einverständnis der Arbeiter verfügen! Der Bauer ist dumm: er wird es selber nicht verstehen, für seine Familie zu sorgen. Die Behörde wird das alles viel besser machen: wer hat nicht davon gehört, wie gut sie für die Bauernfamilien in den Militärkolonien gesorgt hat?

Nur eins ist schlimm: die Bauern sind jetzt nicht mehr so gefügig, wie zur Zeit der Militärkolonien. Sie könnten schließlich fordern, dass man ihnen gewöhnliche Pässe aushändige und dass man es nicht wage, ohne ihr Einverständnis das von ihnen verdiente Geld einzubehalten! Für diesen Fall muss die Strenge verschärft werden, und das Gesetz bestimmt in einem besonderen Artikel, dass „die Aufrechterhaltung der Ordnung an den Arbeitsstellen auf Anordnung des Innenministeriums den örtlichen Bezirkshauptleuten, Offizieren des besonderen Gendarmeriekorps, PoIizeibearnten oder besonders hierzu bestimmten Personen zu übertragen sei". Die Regierung betrachtet die hungernden Bauern offenbar von vornherein als „Aufrührer" und führt für sie, neben der allgemeinen Polizeiaufsicht über alle russischen Arbeiter, noch eine ganz besonders strenge Aufsicht ein. Man hat von vornherein beschlossen, den Bauer fest in die Hand zu nehmen, weil er es gewagt hat, die Hungersnot zu „übertreiben", und weil er (wie sich Sipjagin in seinem Zirkular ausgedrückt hat) „durch nichts gerechtfertigte Ansprüche an die Regierung" stellt.

Um aber im Falle irgendwelcher Unzufriedenheit der Arbeiter nichts mit den Gerichten zu tun zu haben, geben die provisorischen Bestimmungen den Beamten das Recht, ohne besonderes Gerichtsverfahren über die Arbeiter Gefängnisstrafen bis zu drei Tagen wegen Ruhestörung, nicht gewissenhafter Arbeit und Nichtbeachtung von Anordnungen zu verhängen!! Der freie Arbeiter muss vor den Friedensrichter zitiert werden, vor dem er sich verteidigen, gegen dessen Beschluss er Einspruch erheben kann, – der hungernde Bauer aber wird ohne jedes Gericht ins Loch gesteckt! Den freien Arbeiter kann man wegen Arbeitsverweigerung nur entlassen, für den hungernden Bauer dagegen schreibt das neue Gesetz vor, dass er wegen „hartnäckiger Arbeitsverweigerung" per Schub, zusammen mit Dieben und Räubern, in die Heimat abzutransportieren sei!

Die neuen provisorischen Bestimmungen sind richtige Zuchthausbestimmungen für die Hungernden, Bestimmungen, die sie zur Arbeit zwingen und sie ihrer Rechte berauben, weil sie es gewagt haben, die Behörden mit ihren Bitten um Hilfe zu belästigen. Die Regierung hat sich nicht damit begnügt, den Semstwos die Leitung des Verpflegungswesens zu entziehen, Privatpersonen zu verbieten, ohne polizeiliche Genehmigung Speisestellen einzurichten, und anzuordnen, in Berichten den tatsächlichen Umfang der Not auf ein Fünftel zu verkleinern, sie erklärt außerdem noch die Bauern für minderen Rechts und befiehlt, ohne Gerichtsverfahren mit ihnen abzurechnen. Zu dem Zuchthausleben ewigen Hungers und die Kräfte übersteigender Arbeit kommt jetzt noch die Gefahr staatlicher Zwangsarbeit hinzu.

Das sind die Maßnahmen der Regierung in Bezug auf die Bauern. Was die Arbeiter anbelangt, so wird die Abrechnung mit ihnen am besten charakterisiert durch den in der vorhergehenden Nummer unserer Zeitung veröffentlichten „Anklageakt" in Sachen der Maiunruhen in den Obuchow-Werken. Die „Iskra" hat in ihren Juni- und Julinummern über das Ereignis selbst bereits herichtet.1 Unsere legale Presse hat über die Gerichtsverhandlung geschwiegen, offenbar eingedenk der Tatsache, dass selbst einer so wohlgesinnten Zeitung, wie dem „Nowoje Wremja", der Versuch, iber dieses Thema zu schreiben, schlecht bekommen ist. In die Zeitungen kamen nur einige Zeilen darüber, dass die Gerichtsverhandlung Ende September stattgefunden hat, und dann wurde beiläufig in einer Zeitung des Südens das Urteil mitgeteilt: zwei Personen sind zu Zwangsarbeit verurteilt worden, acht wurden freigesprochen, die übrigen bekamen Gefängnisstrafen von 23½ Jahren.

Wir haben also im Artikel „Ein neues Blutbad" („Iskra" Nr. 5) die Rachsucht der russischen Regierung noch unterschätzt. Wir sind der Ansicht gewesen, sie habe zu den militärischen Maßnahmen, als zu ihrem letzten Kampfmittel, gegriffen, da sie Angst gehabt habe, sich an das Gericht zu wenden. Nun stellt es sich heraus, dass sie es verstanden hat, das eine mit dem anderen zu verbinden: nachdem man mit Prügeln gegen die Arbeiter vorgegangen war und drei Arbeiter ermordet hatte, wurden 37 Mann aus mehreren tausend herausgegriffen und zu drakonischen Strafen verurteilt.

Wie man sie herausgegriffen und wie man sie abgeurteilt hat, davon gibt der Anklageakt eine gewisse Vorstellung. Als die Rädelsführer wurden An. Iw. Jermakow, Jefr. Step. Dachin und An. Iw. Gawrilow hingestellt. Die Anklageschrift gibt an, Jermakow habe Flugblätter in seiner Wohnung gehabt (nach Aussage der Hilfsangestellten in einem staatlichen Branntweinladen, Michailowa, die vom Gericht nicht als Zeugin vernommen wurde), er halbe vom Kampf um die politische Freiheit gesprochen und sei am 22. April, eine rote Fahne bei sich tragend, auf den Newski gegangen. Ferner wird betont, auch Gawrilow habe Flugblätter, die zur Demonstration am 22. April aufriefen, besessen und verteilt. Von der Angeklagten Jakowlewa heißt es ebenfalls, sie habe an irgendwelchen geheimen Versammlungen teilgenommen. Der Staatsanwalt hat sich also zweifellos bemüht, als Rädelsführer Leute hinzustellen, die von der Geheimpolizei politischer Tätigkeit verdächtigt wurden. Der politische Charakter der Angelegenheit gehe auch daraus hervor, dass die Menge gerufen habe: „Wir wollen Freiheit!", ferner auch aus dem Zusammenhang mit dem 1. Mai. Nebenbei gesagt, hat die Entlassung von 26 Personen wegen Versäumnis der Arbeit am 1. Mai den ganzen Brand erst hervorgerufen, aber der Staatsanwalt hat selbstverständlich kein Wörtchen über das Ungesetzliche einer solchen Entlassung verlauten lassen!

Die Sache ist klar. Für das Gericht wurden diejenigen herausgegriffen, die man als politische Feinde verdächtigte. Die Geheimpolizei legte die Listen vor. Die Polizeibeamten aber haben natürlich „bestätigt", dass diese Leute in der Menge gewesen seien, mit Steinen geworfen hätten und durch ihr Verhalten zu erkennen gewesen seien.

Durch die Gerichtsverhandlung wurde der zweite (nach dem Blutbad) politische Racheakt gedeckt. Und zwar in niederträchtiger Weise gedeckt: die Politik erwähnte man nur zur Erschwerung der Schuld, dagegen wurde eine Schilderung der politischen Umstände, unter denen sich der Vorfall abspielte, nicht zugelassen. Die Angeklagten wurden auf Grund des Paragraphen 263 des Strafgesetzbuches als Kriminalverbrecher abgeurteilt, d. h. wegen „offenen Aufstandes wider die von der Regierung eingesetzten Behörden", und zwar eines von bewaffneten (?) Personen unternommenen Aufstandes. Die Anklage war gefälscht; die Polizei hat den Richtern den Befehl erteilt, nur die eine Seite der Angelegenheit zu behandeln.

Wir wollen bemerken, dass man auf Grund der Artikel 263 bis 265 des Strafgesetzbuches für jede Kundgebung wegen „offenen Aufstandes mit der Absicht, die Ausführung der von der Regierung vorgeschriebenen Verfügungen und Maßnahmen zu verhindern", ins Zuchthaus gesteckt werden kann, selbst wenn die ,.Aufrührer" unbewaffnet waren und sich keine offenen Gewalttaten zuschulden kommen ließen! Die russischen Gesetze sind freigebig mit Zuchthausstrafen! Und es ist Zeit, dass wir dafür sorgen, dass ein jeder solcher Prozess durch die Angeklagten selber in einen politischen Prozess verwandelt wird, damit die Regierung es nicht wagt, ihre politischen Racheakte durch die Komödie der Kriminalprozesse zu maskieren!

Welcher „Fortschritt" aber in unserem Gerichtsverfahren im Vergleich z. B. zum Jahre 1885! Damals wurden die Morosowschen Weber von Geschworenen abgeurteilt, die Zeitungen brachten vollständige Berichte, und Arbeiter enthüllten als Zeugen vor Gericht alle Schandtaten des Fabrikanten. Und jetzt – ein Beamtengerichtshof mit stummen Ständevertretern und mit geschlossenen Türen, ein tiefes Schweigen der Presse, abgerichtete Zeugen: die Fabrikleitung, Fabrikwächter, Polizeibeamte, die das Volk geprügelt, Soldaten, die auf Arbeiter geschossen haben. Welch widerliche Komödie!

Man vergleiche den „Fortschritt" von 1885 bis 1901 in der Abrechnung mit den Arbeitern mit dem „Fortschritt" von 1891 bis 1901 im Kampfe gegen die Hungernden, und man erhält eine gewisse Vorstellung davon, wie rasch die Empörung des Volkes und der Gesellschaft in die Tiefe und in die Breite wächst, wie die Regierung in Raserei gerät, wie sie versucht, sowohl die privaten Wohltäter als auch die Bauern fest im Zaum zu halten und die Arbeiter durch Zuchthausurteile einzuschüchtern. Nun, die Arbeiter, deren Führer nicht fürchteten, im offenen Straßenkampf gegen die Zarenschergen zu sterben, werden vor dem Zuchthaus nicht zurückschrecken. Der Gedanke an die ermordeten und in den Gefängnissen zu Tode gefolterten heldenhaften Genossen wird die Kräfte der neuen Kämpfer verzehnfachen und Tausende veranlassen, ihnen zu Hilfe zu kommen; diese Helfer werden ebenso wie die achtzehnjährige Marfa Jakowlewa offen erklären: „Wir stehen für unsere Brüder ein!" Die Regierung beabsichtigt, die Manifestanten nach der polizeilichen und militärischen Abrechnung auch noch wegen Aufstandes abzuurteilen; – wir wollen darauf antworten mit der Zusammenfassung aller revolutionären Kräfte, mit der Aufforderung an alle, die die zaristische Willkür unterdrückt, sich unserer Sache anzuschließen, und mit der systematischen Vorbereitung des allgemeinen Volksaufstandes!

1 In der Juninummer der „Iskra" (Nr. 5) war den Ereignissen in den Obuchowwerken der Artikel Lenins „Ein neues Blutbad" und eine Notiz in der Rubrik „Der erste Mai in Russland" gewidmet; die Julinummer (Nr. 6) enthielt eine Notiz über das gleiche Thema („Die Obuchow-Werke") in der Rubrik „Chronik der Arbeiterbewegung und Briefe aus Fabriken und Betrieben".

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