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Wladimir I. Lenin 19020128 Über den Staatshaushalt

Wladimir I. Lenin: Über den Staatshaushalt

[Iskra" Nr. 15, 15./28. Januar 1902. Nach Sämtliche Werke, Band 4.2, Wien-Berlin 1929, S. 108-115]

Unsere Zeitungen haben wie immer den alleruntertänigsten Bericht des Finanzministers über die Einnahmen und Ausgaben des Staatshaushaltes für das Jahr 1902 veröffentlicht.1 Wie immer zeigt es sich so versichert der Minister –, dass alles in bester Ordnung ist: „die Finanzen befinden sich in durchaus günstigem Zustand", im Budget „ist das Gleichgewicht streng gewahrt", „das Eisenbahnwesen entwickelt sich weiterhin erfolgreich", und sogar „ein ständiges Wachstum des Volkswohlstandes geht vor sich"! Kein Wunder, dass man sich bei uns so wenig für die Fragen der Staatswirtschaft interessiert trotz ihrer Wichtigkeit: das Interesse ist abgestumpft durch die obligatorischen offiziellen Lobeshymnen, jeder weiß, dass das Papier geduldig ist, dass dem Publikum „ohnehin" der Eintritt hinter die Kulissen der offiziellen Finanz-Taschenspielerei „verboten" ist.

Diesmal jedoch springt folgender Umstand besonders in die Augen. Der Zauberkünstler zeigt dem Publikum mit gewohnter Gewandtheit seine leeren Hände, schüttelt sie und holt eine goldene Münze nach der andern hervor. Das Publikum spendet Beifall. Aber trotzdem beginnt der Zauberkünstler, sich mit großem Eifer zu verteidigen, fast mit Tränen in den Augen versichert er, dass er nicht betrüge, dass kein Defizit vorhanden sei, dass sein Vermögen größer sei als seine Schulden. Das russische Publikum ist in Bezug auf wohlanständiges Benehmen den Behörden gegenüber so gut abgerichtet, dass es sich unbehaglich fühlt, und nur wenige murmeln das französische Sprichwort vor sich hin: „Wer sich entschuldigt, klagt sich an."

Sehen wir zu, wie sich unser Herr Witte „entschuldigt". Riesenausgaben von fast 2 Milliarden Rubeln (1946 Mill.) konnten nur dadurch vollständig gedeckt werden, dass man 144 Mill. aus dem berühmten „frei verfügbaren Bestand" der Staatskasse nahm, dieser frei verfügbare Bestand ist aber ergänzt worden durch die vorjährige 4prozentige Anleihe in Höhe von 127 Mill. Rubeln (die gesamte Anleihe betrug 148 Mill. Rubel, wovon aber 21 Mill. noch ausstehen). Das Defizit ist also durch die Anleihe gedeckt worden? – Durchaus nicht, versichert uns der Zauberkünstler, „die Anleihe war keineswegs hervorgerufen durch die Notwendigkeit, die im Voranschlag nicht vorhergesehenen Ausgaben zu decken", da ja zu deren Deckung 114 Mill. Rubel „frei verfügbar" waren –, sondern durch den Wunsch, neue Eisenbahnlinien zu bauen. – Sehr gut, Herr Witte! Aber erstens widerlegen Sie damit nicht die Tatsache des Defizits, da ja selbst mit den „frei verfügbaren" 114 Mill. Rubel nicht Ausgaben von 144 Mill. Rubel gedeckt werden können. Zweitens gehörten zu dem frei verfügbaren Bestand (von 114 Mill. Rubel) 63 Mill. Rubel, die sich im Jahre 1901 aus den ordentlichen Mehreinnahmen gegenüber dem Voranschlag ergeben hatten, und unsere Presse weist seit langem darauf bin, dass Sie den Voranschlag der Einnahmen künstlich verkleinern, um den „frei verfügbaren Bestand" fiktiv aufzublasen und die Steuern dauernd erhöhen zu können. So wurden im vergangenen Jahre die Stempelgebühren erhöht (neue Stempelordnung), der Preis des Monopolschnapses stieg von 7 Rubel auf 7,60 Rubel für das Wjedro2, die Erhöhung der Zollgebühren, (die im Jahre 1900 im Hinblick auf den chinesischen Krieg angeblich „vorübergehend" vorgenommen wurde) bleibt bestehen usw. Drittens verschweigen Sie bescheiden, wenn Sie der „kulturellen Rolle" der Eisenbahn eine Lobeshymne singen, die spezifisch russische und durchaus unkulturelle Gewohnheit, beim Bau von Eisenbahnen die Staatskasse zu plündern (ganz abgesehen von der unerhörten Ausbeutung der Arbeiter und der hungernden Bauern durch die Eisenbahn-Bauunternehmer!). Zum Beispiel teilte eine russische Zeitung vor kurzem mit, dass die Kosten des Baues der Sibirischen Eisenbahn zunächst auf 350 Mill. Rubel veranschlagt waren, dass aber in Wirklichkeit 780 Mill. Rubel ausgegeben wurden und dass die Gesamtkosten vermutlich eine Milliarde übersteigen werden (welche Plünderung der Staatskasse beim Bau der Sibirischen Bahn vor sich ging, darüber hat die „Iskra" schon einiges mitgeteilt: siehe Nr. 2)3. Die Einnahmen rechnen Sie wohl richtig zusammen, Herr Witte, ohne etwas zu vergessen, aber wenn Sie doch auch versuchen wollten, über die wirkliche Höhe der Ausgaben Rechenschaft zu geben!

Schließlich darf man nicht außer acht lassen, dass die Eisenbahnbauten im Jahre 1902 veranlasst wurden zum Teil durch die militärischen Ziele unserer „friedliebenden" Regierung (so die riesige, mehr als tausend Werst lange Linie Bologoje–Siedlec), zum Teil durch die unbedingte Notwendigkeit, wenn auch ein wenig der danieder liegenden Industrie zu „helfen", an deren Geschäften die Staatsbank unmittelbar interessiert ist. Die Staatsbank hat nicht nur verschiedenen ins Schwanken geratenen Unternehmungen freigebig Kredite zur Verfügung gestellt, sondern auch viele von ihnen faktisch unter ihre eigene Verwaltung genommen. Der Bankrott industrieller Unternehmungen drohte zum Staatsbankrott zu führen! Schließlich darf auch nicht vergessen werden, dass unter der Leitung des „genialen" Witte eine ständige Erhöhung der Anleihesummen und der Steuern erfolgt, obgleich alle Kapitalien der Sparkassen zur Unterstützung des staatlichen Kredits herangezogen werden. Diese Kapitalien aber haben bereits 800 Millionen Rubel überstiegen. Man ziehe all das in Betracht – und man wird verstehen, dass Witte eine Raubwirtschaft treibt, dass die Selbstherrschaft langsam aber sicher dem Bankrott entgegengeht, weil es unmöglich ist, die Steuerschraube ohne Ende anzuziehen und auch die französische Bourgeoisie dem russischen Zaren nicht immer aus der Klemme helfen wird.

Witte verteidigt sich gegen die Anklage, die Staatsschulden vergrößert zu haben, mit Argumenten, über die man nur lachen kann. Er vergleicht die Schulden und das „Vermögen", stellt die Summen der Staatsanleihen in den Jahren 1892 und 1902 dem Werte der staatlichen Eisenbahnen in den gleichen Jahren gegenüber und leitet daraus eine Verringerung der „reinen" Verschuldung ab. Wir haben aber noch mehr Vermögen: „Festungen und Kriegsschiffe" (bei Gott, so steht es im Bericht!), Häfen und staatliche Betriebe, Bodenpacht und Wälder. – Ausgezeichnet, Herr Witte! Aber merken Sie denn nicht, dass Sie dem Kaufmann gleichen, der bereits wegen Bankrott vor Gericht geladen ist und der sich vor den Leuten zu verteidigen beginnt, die sein Vermögen pfänden wollen? Denn solange ein Unternehmen wirklich unerschütterlich feststeht – wird es niemand einfallen, eine besondere Garantie für die Anleihen zu fordern. Es zweifelt doch niemand daran, dass das russische Volk zahlreiche „Vermögenswerte" besitzt, aber je größer dieses Vermögen ist, um so größer ist die Schuld der Leute, die trotz des Überflusses an Vermögenswerten die Wirtschaft nur mit Hilfe erhöhter Anleihen und Steuern führen können. Sie beweisen doch nur, dass das Volk möglichst rasch die sein Vermögen verwaltenden Räuber vertreiben sollte. In der Tat, Hinweise auf spezielle Staatsvermögen zur Sicherung der Staatsanleihen hat bisher von allen europäischen Staaten einzig und allein die Türkei gemacht. Und diese Hinweise führten natürlich dazu, dass die ausländischen Kreditgeber verlangten, die Verfügung über das Vermögen, das die Rückgabe der von ihnen gegebenen Anleihegelder sichern soll, kontrollieren zu dürfen. Die Wirtschaft „der russischen Großmacht" unter der Kontrolle der Agenten von Rothschild und Bleichröder: welche glänzende Perspektive eröffnen Sie uns, Herr Witte!*

Wir sehen ganz davon ab, dass Festungen und Kriegsschiffe kein einziger Bankier als Pfand nehmen würde, dass dies nicht ein Plus, sondern ein Minus in unserer Volkswirtschaft ist. Aber auch die Eisenbahnen können nur dann als Garantie dienen, wenn sie Einnahmen bringen. Aber aus demselben Berichte Wittes erfahren wir, dass bis auf die letzte Zeit alle russischen Eisenbahnen nur Verluste gebracht haben. Erst im Jahre 1900 konnte das Defizit der Sibirischen Bahn gedeckt werden, es wurde ein „geringer Reingewinn" erzielt, der jedoch so gering ist, dass Witte seine Höhe mit bescheidenem Schweigen übergeht. Er übergeht auch den Umstand mit Schweigen, dass in den ersten acht Monaten des Jahres 1901 der Ertrag der Eisenbahnen im europäischen Russland infolge der Krise gesunken ist. Wie würde wohl die Bilanz unserer Eisenbahnwirtschaft aussehen, wenn man nicht nur die offiziellen Ziffern der für den Bau ausgegebenen Gelder, sondern auch die wirklichen Summen der beim Bau gestohlenen Gelder berechnen wollte? Wäre es nicht wirklich an der Zeit, dieses wirklich wertvolle Vermögen in zuverlässigere Hände zu legen?

Von der Industriekrise spricht Witte selbstverständlich in höchst beruhigendem Tone: „Zweifellos wird diese kleine Stockung die allgemeinen industriellen Erfolge nicht berühren, und nach Ablauf einiger Zeit wird vermutlich (I!) eine neue Periode industrieller Belebung eintreten". Ein guter Trost für die Millionen Arbeiter, die unter der Arbeitslosigkeit und unter der Verringerung ihres Verdienstes leidenl In der Aufzählung der staatlichen Ausgaben würde man vergeblich auch nur einen Hinweis darauf suchen, wieviel Millionen und Dutzende von Millionen der Staat für die direkte und indirekte Unterstützung der unter der Krise „leidenden" Industrieunternehmen ausgeworfen hat. Dass man hierbei auch vor Riesensummen nicht haltgemacht hat, geht aus der in den Zeitungen mitgeteilten Tatsache hervor, dass die Gesamthöhe der von der Staatsbank ausgegebenen Kredite vom 1. Januar 1899 bis zum 1. Januar 1901 gestiegen sind von 250 Millionen auf 449 Millionen Rubel, während die Höhe der Industriekredite von 8,7 auf 38,8 Millionen Rubel stiegen. Selbst der Verlust von 4 Millionen Rubel bei den Industriekrediten hat der Staatskasse keine Schwierigkeiten bereitet. Den Arbeitern aber, die auf dem Altar der „industriellen Erfolge" nicht den Inhalt ihres Geldbeutels opferten, sondern ihr eigenes Leben und das Leben von Millionen, – den von ihrem Verdienste lebenden Arbeitern half der Staat dadurch, dass er Tausende von ihnen „unentgeltlich" aus den Industriestädten in die hungernden Dörfer abtransportierte!

Das Wort „Hunger" vermeidet Witte gänzlich, er versichert in seinem Bericht, dass „der schwere Einfluss der Missernte … durch die freigebige Unterstützung der Bedürftigen gemildert werden wird". Diese freigebige Unterstützung beläuft sich, wie er selber angibt, auf 20 Millionen Rubel, während die Fehlernte auf 250 Millionen Rubel geschätzt wird (wenn man die Berechnung zu dem sehr niedrigen Preis von 50 Kopeken pro Pud vornimmt, dafür aber mit den Jahren guter Ernten vergleicht). Ist dies nicht wirklich sehr „freigebig"? Selbst wenn man annimmt, dass nur die Hälfte der Fehlernte auf die Dorfarmut entfällt, so wird es sich trotzdem erweisen, dass wir den schmutzigen Geiz der russischen Regierung noch weit unterschätzt haben, als wir in Nr. 9 der „Iskra" (aus Anlass des Sipjaginschen Zirkulars) schrieben, dass die Regierung die Darlehen auf ein Fünftel herabsetzt. Freigebig ist der russische Zar nicht, wenn es um die Unterstützung des Bauern geht, freigebig ist er mit polizeilichen Maßnahmen gegen alle, die den Hungernden wirklich zu helfen wünschen. Freigebig ging er auch mit den Millionen um, die ausgeworfen wurden, um ein möglichst fettes Stück von China zu ergattern. Im Verlauf von zwei Jahren kamen, wie Witte mitteilt, von den außerordentlichen Ausgaben 80 Millionen Rubel auf den chinesischen Krieg, und „außerdem wurden für ihn bedeutende Summen auf Rechnung des ordentlichen Budgets verausgabt". Insgesamt bedeutet dies vermutlich eine Ausgabe von 100 Millionen Rubel, wenn nicht gar mehr! Die arbeitslosen Arbeiter und die hungernden Bauern können sich damit trösten, dass dafür die Mandschurei sicherlich uns gehören wird …

Der Mangel an Raum zwingt uns, die übrigen Teile des Berichts nur kurz zu streifen. Witte verteidigt sich auch gegen die Anklage der niedrigen Ausgaben für die Volksbildung: zu den im Voranschlag des betreffenden Ministeriums angesetzten 36 Millionen Rubel fügte er noch die für Lehrzwecke bestimmten Ausgaben aller übrigen Ressorts hinzu und „treibt" so die Ziffer auf 75 Millionen Rubel hinauf. Aber auch diese Ziffer (von zweifelhafter Richtigkeit) ist für das ganze Russland außerordentlich dürftig und beträgt kaum fünf Prozent des Gesamtbudgets. Den Umstand, dass „unser Staatshaushalt hauptsächlich auf dem System der indirekten Besteuerung aufgebaut ist", hält Witte für einen Vorzug und er wiederholt die abgedroschenen bürgerlichen Argumente von der Möglichkeit, „den Verbrauch der besteuerten Gegenstände dem Grade des Wohlstandes anzupassen". In Wirklichkeit aber zeichnet sich die indirekte Besteuerung, die die Gegenstände des Massenverbrauchs belastet, durch größte Ungerechtigkeit aus. Ihre ganze Schwere lastet auf den Armen, während für die Reichen ein Privileg geschaffen wird. Je ärmer der Mensch, einen um so größeren Teil seines Einkommens zahlt er dem Staate an indirekten Steuern. Die Masse der Besitzlosen und der Kleinbesitzer umfasst neun Zehntel der Gesamtbevölkerung, konsumiert neun Zehntel aller besteuerten Produkte und zahlt neun Zehntel der Gesamtsumme der indirekten Steuern, dabei aber beträgt ihr Anteil am gesamten Volkseinkommen nur etwa zwei bis drei Zehntel.

Zum Schluss noch eine interessante „Kleinigkeit". In welchen Gruppen sind von 1901/02 die Ausgaben am meisten gestiegen? Die Gesamtsumme der Ausgaben stieg von 1788 Millionen Rubel auf 1946 Millionen Rubel, also weniger als um ein Zehntel. Dabei stiegen die Ausgaben um fast ein Viertel in zwei Gruppen: „für den Unterhalt der Personen der kaiserlichen Familie" – von 9,8 Millionen Rubel auf 12,8 Millionen Rubel und … „für den Unterhalt des besonderen Gendarmeriekorps" von 3,96 Millionen Rubel auf 4,94 Millionen Rubel. Das ist die Antwort auf die Frage: welche „Bedürfnisse des russischen Volkes" die dringendsten sind. Und welche rührende Einigkeit zwischen Zar und Gendarmen!

1 „Der untertänigste Bericht des Finanzministers über das Staatsbudget der Einnahmen und Ausgaben für das Jahr 1902" wurde am 29. Dezember 1901 bestätigt und in Nr. 1 des „Regierungsanzeigers" vom 1. (14.) Januar 1902 veröffentlicht, dann von anderen Zeitungen nachgedruckt. Welche Zeitung Lenin benutzt hat, lässt sich nicht feststellen.

2 Wjedro, russ. Maß == 12,3 Liter.

3 Die Notiz ist in Nr. 2 der „Iskra" (Februar 1901) in der Rubrik „Aus unserm sozialen Leben" unter der Überschrift „Auf der großen Sibirischen Eisenbahn" (Brief aus Sibirien) veröffentlicht worden. Der Verfasser der Notiz war wahrscheinlich G. Kschischanowski.

* Witte bemerkte selbst die Ungeschicklichkeit seiner Ausführungen über die „Vermögenswerte", darum ist er in einem anderen Teile seines Berichtes bemüht, sich zu „verbessern", indem er erklärt, dass das Anwachsen des Wertes des „Staatsvermögens" „von keiner besonderen Bedeutung sei in Bezug auf die Verpflichtungen der russischen Staatskasse, da ja der Kredit Russlands keiner besonderen Garantien bedürfe." Nun, natürlich! Aber die ins Einzelne gehende Berechnung mit einer Aufzählung dieser besonderen Garantien ist trotzdem geblieben, für alle Fälle!

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