2. Was wollen die Sozialdemokraten?

2. Was wollen die Sozialdemokraten?

Die russischen Sozialdemokraten wollen vor allem die politische Freiheit erringen. Die Freiheit aber brauchen sie für die umfassende offene Vereinigung aller russischen Arbeiter zum Kampf um den neuen, besseren, sozialistischen Aufbau der Gesellschaft.

Was ist politische Freiheit?

Um das zu verstehen, muss der Bauer zunächst seine jetzige Freiheit mit der Leibeigenschaft vergleichen. Zur Zeit der Leibeigenschaft durfte der Bauer es nicht wagen, ohne Erlaubnis des Gutsherrn zu heiraten. Jetzt kann der Bauer ohne jede Erlaubnis heiraten. Zur Zeit der Leibeigenschaft bestimmte der Gutsälteste, an welchen Tagen der Bauer für seinen Herrn arbeiten musste. Jetzt kann der Bauer wählen, für welchen Herrn, an welchen Tagen und für welchen Lohn er arbeiten will. Zur Zeit der Leibeigenschaft durfte der Bauer ohne Erlaubnis seines Herrn das Dorf nicht verlassen. Jetzt kann der Bauer gehen, wohin er will, wenn die Bauerngemeinde ihn freilässt, wenn er keine Rückstände hat, wenn man ihm einen Pass gibt, wenn der Gouverneur oder der Kreispolizeichef ihm die Übersiedlung nicht verbietet. Der Bauer ist also auch jetzt noch nicht vollständig frei, zu gehen, wohin er will, er hat auch jetzt keine vollständige Freizügigkeit, er befindet sich auch heute noch in halber Leibeigenschaft. Wir werden weiter eingehend davon sprechen, warum der russische Bauer sich noch in halber Leibeigenschaft befindet und wie er aus dieser Lage herauskommen kann.

Unter dem Leibeigenschaftsrecht durfte der Bauer ohne Erlaubnis seines Herrn kein Vermögen erwerben, keinen Boden kaufen. Jetzt ist der Bauer frei, jedes Vermögen zu erwerben (auch jetzt hat der Bauer noch nicht die vollständige Freiheit, über sein Land, wie es ihm beliebt zu verfügen). Unter dem Leibeigenschaftsrecht konnte der Bauer von dem Gutsherrn körperlich gezüchtigt werden. Jetzt kann der Bauer vom Gutsherrn nicht mehr bestraft werden, obgleich der Bauer auch jetzt vor körperlicher Züchtigung noch nicht sicher ist.

Diese Freiheit heißt bürgerliche Freiheit – Freiheit in Familienangelegenheiten, in persönlichen Angelegenheiten, in Vermögensangelegenheiten. Bauer und Arbeiter sind frei (wenn auch nicht ganz), ihr Familienleben einzurichten, ihre persönlichen Angelegenheiten zu regeln, über ihre Arbeit zu verfügen (sich ihren Herrn zu wählen), über ihr Vermögen zu verfügen.

Aber weder die russischen Arbeiter noch das ganze russische Volk haben bisher die Freiheit erlangt, über die allgemein-nationalen Angelegenheiten zu verfügen. Das ganze, das gesamte Volk bleibt ebenso den Beamten hörig, wie die Bauern den Gutsherren hörig waren. Das russische Volk hat nicht das Recht, die Beamten zu wählen, es hat nicht das Recht, seine Vertreter zu wählen, die für den gesamten Staat die Gesetze zu verfassen hätten. Das russische Volk hat nicht einmal das Recht, Zusammenkünfte zur Erörterung von Staatsangelegenheiten zu veranstalten. Ohne Erlaubnis der Beamten, die ohne unser Einverständnis über uns gestellt werden – wie in der alten Zeit der Gutsherr ohne Einverständnis der Bauern den Gutsältesten ernannte –, dürfen wir nicht einmal Zeitungen und Bücher drucken, dürfen wir nicht vor allen und für alle von den Angelegenheiten des gesamten Staates sprechen!

Wie die Bauern die Sklaven der Gutsherren waren, so bleibt das russische Volk bis heute der Sklave der Beamten. Wie die Bauern zur Zeit der Leibeigenschaft keine bürgerliche Freiheit hatten, so hat das russische Volk bis heute noch keine politische Freiheit. Die politische Freiheit bedeutet die Freiheit des Volkes, über seine nationalen, staatlichen Angelegenheiten zu verfügen. Die politische Freiheit bedeutet das Recht des Volkes, seine Vertreter (die Abgeordneten) in die Reichsduma (das Parlament) zu wählen. Nur diese vom Volke selbst gewählte Reichsduma (das Parlament) hat alle Gesetze zu erörtern und zu erlassen, alle Steuern und Abgaben zu bestimmen. Die politische Freiheit bedeutet das Recht des Volkes, sich selbst seine Beamten zu wählen, allerhand Zusammenkünfte zur Regelung der Staatsangelegenheiten zu veranstalten, ohne irgendwelche Genehmigung alle beliebigen Bücher und Zeitungen herauszugeben.

Alle übrigen europäischen Völker haben sich die politische Freiheit längst erkämpft. Nur in der Türkei und in Russland bleibt das Volk in der politischen Sklaverei der Sultanregierung und der selbstherrlichen Zarenregierung. Die zaristische Selbstherrschaft bedeutet die unbeschränkte Gewalt des Zaren. Das Volk nimmt weder am Aufbau des Staates noch an seiner Verwaltung den geringsten Anteil. Der Zar allein erlässt – auf Grund seiner persönlichen, unbeschränkten, selbstherrlichen Gewalt – alle Gesetze und ernennt alle Beamten. Aber der Zar ist natürlich gar nicht imstande, alle russischen Gesetze und alle russischen Beamten zu kennen. Der Zar ist nicht einmal imstande zu wissen, was im Staate vorgeht. Der Zar bestätigt einfach den Willen von mehreren Dutzenden der höchsten und vornehmsten Beamten. Ein Mensch allein könnte beim besten Willen einen so gewaltigen Staat, wie Russland, nicht verwalten. Nicht der Zar regiert Russland – man spricht nur so von der Selbstherrschaft eines Menschen! –, Russland wird regiert von einem Häuflein der reichsten und vornehmsten Beamten. Der Zar erfährt nur das, was dieses Häuflein ihm mitzuteilen beliebt. Der Zar hat gar keine Möglichkeit, gegen den Willen dieses Häufleins beamteter Adliger zu handeln: der Zar selber ist Gutsbesitzer und gehört dem Adel an; von seiner Kindheit an hat er immer nur unter solchen vornehmen Leuten gelebt; sie sind es, die ihn erzogen und unterrichtet haben; von dem ganzen russischen Volk weiß er nur das, was auch diese vornehmen Adligen, reichen Gutsbesitzer und die wenigen von den reichsten Kaufleuten, die zum Zarenhof Zutritt haben, wissen.

In jeder Amtsbezirksverwaltung kann man ein Bild vorfinden, das den Zaren darstellt (den Vater des jetzigen, Alexander III.). Der Zar hält eine Ansprache an die Gemeindeältesten, die zu seiner Krönung gekommen sind. Der Zar befiehlt ihnen: „Gehorcht euren Adelsmarschällen"! Und der jetzige Zar, Nikolaus II., hat das wiederholt. Die Zaren geben also selber zu, dass sie den Staat nicht anders regieren können als mit Hilfe des Adels, durch den Adel. Diese Zarenreden über den Gehorsam, den die Bauern dem Adel schulden, dürfen nie vergessen werden. Man muss sich ganz klar darüber werden, welche Lüge die Leute dem Volke erzählen, die sich bemühen, die Zarenregierung als die beste Regierung hinzustellen. In anderen Ländern, sagen diese Leute, wird die Regierung gewählt; dort werden die Reichen gewählt, die Reichen aber regieren ungerecht, sie unterdrücken die Armen. In Russland dagegen wird die Regierung nicht gewählt; der absolutistische Zar verwaltet alles allein. Der Zar steht über allen, über den Armen und den Reichen. Der Zar ist, heißt es, gegen alle, gegen die Armen und gegen die Reichen gleich gerecht.

Solche Reden sind nur Heuchelei. Jeder russische Mensch weiß, wie die Gerechtigkeit unserer Regierung aussieht. Jeder weiß, ob ein einfacher Arbeiter oder Tagelöhner Mitglied des Staatsrates werden kann. In allen übrigen europäischen Ländern dagegen sind auch Arbeiter aus der Fabrik und Landarbeiter vom Pflug zu Mitgliedern der Reichsduma (der Parlamente) geworden: und sie sprechen frei vor dem ganzen Volke von dem elenden Leben der Arbeiter, sie fordern die Arbeiter auf, sich zu vereinigen und für ein besseres Leben zu kämpfen. Und niemand wagt es, solche Reden der Volksvertreter zu unterbrechen, kein Polizist wagt es, sie auch nur mit einem Finger anzurühren.

In Russland besteht keine gewählte Verwaltung, es regieren nicht nur die Reichen und Vornehmen, sondern auch noch die schlimmsten von ihnen. Es regieren diejenigen, die beim Zarenhofe die besten Zuträger sind, die am geschicktesten anderen ein Bein stellen, die dem Zaren Lügen und Verleumdungen zutragen, ihm schmeicheln und zu Munde reden. Regiert wird im Geheimen. Das Volk weiß nicht und kann nicht wissen, welche Gesetze in Vorbereitung sind, welche Kriege man zu führen beabsichtigt, welche neuen Steuern eingeführt werden, welche Beamten und wofür man sie belohnt, welche abgesetzt werden. In keinem Lande gibt es eine solche Unmenge von Beamten, wie in Russland. Und diese Beamten stehen über dem stummen Volke, wie ein finsterer Wald, – dem einfachen Arbeiter wird es nie gelingen, durch diesen Wald durchzudringen, nie wird er zu seinem Rechte kommen. Keine Anklage gegen die Beamten wegen Bestechung, Raub und Gewalttat gelangt ans Licht: jede Beschwerde wird durch bürokratische Verschleppung ergebnislos gemacht. Die Stimme des einzelnen Menschen gelangt nie an das ganze Volk, sie verliert sich in diesem dunklen Dickicht, wird erstickt im Polizeikerker. Die Armee der Beamten, die vom Volke nicht gewählt sind und nicht verpflichtet sind, dem Volke Rechenschaft zu geben, hat ein dichtes Spinnwebenetz gesponnen, und in diesem Netz zappeln die Menschen wie die Fliegen.

Die Zarenselbstherrschaft ist die Selbstherrschaft der Beamten. Die Zarenselbstherrschaft ist die halb leibeigenschaftliche Abhängigkeit des Volkes von den Beamten und am meisten von der Polizei. Die Zarenselbstherrschaft ist die Selbstherrschaft der Polizei.

Aus diesem Grunde gehen die Arbeiter auf die Straße und schreiben auf ihre Fahnen: „Nieder mit der Selbstherrschaft!", „Es lebe die politische Freiheit!". Aus diesem Grunde müssen auch die vielen Millionen der Dorfarmen diesen Kampfruf der städtischen Arbeiter aufgreifen und unterstützen. Ebenso wie diese, müssen auch die Landarbeiter und die besitzlosen Bauern, ohne Verfolgungen zu fürchten, ohne vor den Drohungen und Gewalttaten des Feindes zurückzuweichen, ohne sich durch Misserfolge am Anfang einschüchtern zu lassen, in den entschlossenen Kampf für die Freiheit des gesamten russischen Volkes eintreten und vor allem die Einberufung der Volksvertreter fordern. Möge das Volk in ganz Russland selber seine Vertreter (Abgeordneten) wählen. Mögen diese Abgeordneten die höchste Versammlung bilden, die in Russland die gewählte Regierung errichtet, das Volk von der Abhängigkeit von den Beamten und der Polizei befreit, dem Volke das Recht der freien Zusammenkünfte, der freien Rede und der freien Presse sichert!

Das ist es, was die Sozialdemokraten vor allem wollen. Das ist es, was ihre erste Forderung – die Forderung der politischen Freiheit – bedeutet.

Wir wissen, dass die politische Freiheit, die Freiheit der Wahl in die Reichsduma (in das Parlament), die Freiheit der Versammlungen, die Freiheit der Presse das werktätige Volk noch nicht mit einem Schlage von Elend und Unterdrückung befreien wird. Es gibt kein Mittel in der Welt, das die Armen in Stadt und Land plötzlich von der Arbeit für die Reichen befreien könnte. Das arbeitende Volk darf auf niemanden hoffen, auf niemanden rechnen als nur auf sich selber. Den Arbeiter wird niemand von seinem Elend befreien, wenn er sich nicht selber befreit. Um sich aber zu befreien, müssen sich die Arbeiter im ganzen Land, in ganz Russland, zu einem Bund, zu einer Partei zusammenschließen. Aber Millionen von Arbeitern können sich nicht miteinander vereinigen, wenn die selbstherrliche Polizeiregierung alle Versammlungen, alle Arbeiterzeitungen, alle Wahlen von Arbeitervertretern verbietet. Um sich zu vereinigen, muss man das Recht haben, allerhand Vereinigungen zu gründen, muss man Koalitionsfreiheit, muss man die politische Freiheit haben.

Die politische Freiheit wird das Arbeitervolk nicht auf einmal vom Elend befreien, sie wird aber den Arbeitern eine Waffe zum Kampf gegen das Elend geben. Es gibt kein anderes Mittel und kann kein anderes Mittel zum Kampf gegen das Elend geben als den Zusammenschluss der Arbeiter selber. Es besteht nicht die Möglichkeit, dass Millionen sich zusammenschließen, wenn es keine politische Freiheit gibt.

In allen europäischen Ländern, in denen das Volk sich die politische Freiheit erobert hat, haben die Arbeiter auch schon seit langem begonnen, sich zusammenzuschließen. Solche Arbeiter, die weder Land noch Werkstätten besitzen, die ihr Leben lang für fremde Leute Lohnarbeit verrichten, – solche Arbeiter werden in ganz Europa Proletarier genannt. Vor mehr als fünfzig Jahren erging an das Arbeitervolk die Aufforderung zur Vereinigung. „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" – diese Worte sind in den letzten fünfzig Jahren durch die ganze Welt gegangen, diese Worte werden in zehntausenden und hunderttausenden Arbeiterversammlungen wiederholt, diese Worte könnt ihr in Millionen sozialdemokratischer Broschüren und Zeitungen aller Sprachen lesen.

Millionen von Arbeitern zu einem Bund zu vereinigen – das ist natürlich eine sehr, sehr schwierige Sache, die viel Zeit, Hartnäckigkeit, Ausdauer und Mut erfordert. Die Arbeiter werden durch Not und Elend niedergedrückt, sie sind abgestumpft durch die ewige Zwangsarbeit für die Kapitalisten und Gutsbesitzer und haben oft keine Zeit, auch nur darüber nachzudenken, warum sie ewig Bettler bleiben, wie sie sich davon befreien könnten. Die Arbeiter werden in jeder Weise an ihrem Zusammenschluss gehindert: entweder durch die nackte barbarische Gewalt in solchen Ländern, wie Russland, wo es keine politische Freiheit gibt, – oder durch die Weigerung, Arbeiter zur Arbeit einzustellen, die die Lehre des Sozialismus predigen, – oder, schließlich durch Betrug und Bestechung. Aber keine Gewalttat, keine Verfolgung können die Proletarier davon zurückhalten, für die große Sache der Befreiung des gesamten Arbeitervolkes von Elend und Unterdrückung zu kämpfen. Die Zahl der sozialdemokratischen Arbeiter wächst beständig. Im Nachbarstaat z. В., in Deutschland, besteht eine gewählte Verwaltung. Früher gab es auch in Deutschland eine unbeschränkte Selbstherrschaft, eine königliche Verwaltung. Aber das deutsche Volk hat schon seit langem, vor über fünfzig Jahren die Selbstherrschaft zerschlagen und sich die politische Freiheit mit Gewalt genommen. Gesetze werden in Deutschland nicht von einem Häuflein von Beamten erlassen, wie es in Russland der Fall ist, sondern von der Versammlung der Volksvertreter, dem Parlament oder dem Reichstag, wie ihn die Deutschen nennen. Die Abgeordneten für diesen Reichstag werden von allen erwachsenen Männern gewählt. Darum kann nachgerechnet werden, wie viel Stimmen für die Sozialdemokraten abgegeben wurden. Im Jahre 1887 ist der zehnte Teil aller Stimmen für die Sozialdemokraten abgegeben worden. Im Jahre 1898 (bei den letzten Wahlen zum Deutschen Reichstag) war die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen auf das Dreifache angewachsen. Bereits mehr als der vierte Teil aller Stimmen wurde für die Sozialdemokraten abgegeben. Über zwei Millionen erwachsener Männer haben sozialdemokratische Abgeordnete in das Parlament gewählt. Unter den Landarbeitern ist der Sozialismus in Deutschland noch wenig verbreitet, aber jetzt schreitet er dort besonders rasch vorwärts. Und wenn die Masse der Knechte, der Tagelöhner und der besitzlosen, verarmten Bauernschaft sich ihren Stadtbrüdern anschließen, dann werden die deutschen Arbeiter siegen und eine Staatsordnung errichten, bei der es kein Elend und keine Unterdrückung der Werktätigen geben wird.

Auf welche Weise wollen nun die sozialdemokratischen Arbeiter das Volk vom Elend befreien?

Um das zu wissen, muss man sich ganz klar darüber sein, woher das Elend gewaltiger Volksmassen in den jetzigen sozialen Verhältnissen kommt. Reiche Städte wachsen empor, es werden prachtvolle Geschäfte und Häuser gebaut, Eisenbahnen gelegt, allerhand Maschinen und Vervollkommnungen in Industrie und Landwirtschaft eingeführt, – aber die Millionen des Volkes kommen aus ihrem Elend nicht heraus, arbeiten fortgesetzt, ihr ganzes Leben lang nur für den Unterhalt der Familie. Mehr als das: immer größer wird die Zahl der Arbeitslosen. Immer größer wird in Stadt und Land die Zahl der Leute, die keine Arbeit finden können. Auf dem Lande hungern sie, in den Städten vermehren sie die Scharen der Vagabunden und Tagediebe, sie leben, wie die Tiere, in den Erdhütten der Stadtvororte oder in so entsetzlichen Spelunken und Kellerwohnungen, wie z. B. am Chitrow-Markt in Moskau.

Wie kann das sein? Reichtum und Luxus wachsen, und die Millionen und Abermillionen, die all diese Reichtümer durch ihre Arbeit schaffen, bleiben trotzdem in Not und Elend? Die Bauern sterben vor Hunger, die Arbeiter gehen ohne Arbeit herum, – die Kaufleute aber führen Millionen von Pud Getreide nach dem Ausland aus, die Fabriken und Betriebe stehen still, weil man nicht weiß, wo man die vielen Waren hin tun soll, weil man sie nirgends absetzen kann?

Das geschieht vor allem darum, weil ein ungeheuer großer Teil des Grund und Bodens, ferner die Fabriken, Betriebe, Werkstätten, Maschinen, Gebäude, Dampfer – einer geringen Zahl von Reichen als Eigentum gehören. Auf diesem Boden, in diesen Fabriken und Werkstätten arbeiten viele Millionen Menschen, – sie gehören aber wenigen Tausenden oder wenigen Zehntausenden von Reichen, Gutsbesitzern, Kaufleuten und Fabrikbesitzern. Für diese Reichen arbeitet das Volk gegen Lohn, gegen Bezahlung, für ein Stück Brot. Alles, was über den elenden Lebensunterhalt der Arbeiter hinausgeht, all das geht in die Hände der Reichen, all das ist ihr Gewinn, ihr „Einkommen". Alle Vorteile von den Maschinen, von den Verbesserungen in der Arbeit sind für die Grundbesitzer und Kapitalisten von Nutzen: sie häufen Millionenreichtümer an, die Arbeiter aber erhalten von diesem Reichtum nur armselige Brocken. Die Arbeiter werden zu gemeinsamer Arbeit vereinigt: auf großen Gütern und in großen Fabriken arbeiten mehrere hundert, mitunter sogar mehrere tausend Arbeiter. Eine solche Vereinigung der Arbeit bei Benutzung der verschiedensten Maschinen macht die Arbeit erfolgreicher: ein Arbeiter schafft sehr viel mehr, als früher Dutzende von Arbeitern schafften, die getrennt und ganz ohne Maschinen arbeiteten. Aber den Nutzen von diesen Erfolgen, von dieser Ergiebigkeit der Arbeit hat nicht die Gesamtheit der Werktätigen, sondern nur eine verschwindende Zahl von Großgrundbesitzern, Kaufleuten und Fabrikbesitzern.

Oft hört man sagen, dass die Gutsbesitzer und Kaufleute dem Volk „Arbeit geben", dass sie armen Leuten einen Verdienst „geben". Man sagt, zum Beispiel, dass die benachbarte Fabrik oder die benachbarte Wirtschaft die ortsansässigen Bauern „ernähre". In Wirklichkeit aber ernähren die Arbeiter durch ihre Arbeit sowohl sich selber als auch alle, die selber nicht arbeiten. Aber für die Erlaubnis, auf dem Boden des Gutsbesitzers, in der Fabrik oder an der Eisenbahn zu arbeiten, gibt der Arbeiter dem Eigentümer umsonst alles ab, was erarbeitet wird, wobei er selber nur einen kärglichen Lohn erhält. Folglich geben in Wirklichkeit nicht die Gutsbesitzer und nicht die Kaufleute den Arbeitern Arbeit, sondern die Arbeiter unterhalten alle durch ihre Arbeit, indem sie den größten Teil ihrer Arbeit umsonst weggeben.

Weiter. Das Elend des Volkes hat in allen modernen Staaten seinen Ursprung darin, dass die Arbeiter allerhand Gegenstände für den Verkauf, für den Markt herstellen. Der Fabrikbesitzer und der Handwerksmann, der Gutsbesitzer und der wohlhabende Bauer stellen diese oder jene Gegenstände her, züchten Vieh, säen und ernten Getreide, und alles für den Verkauf, um Geld zu erhalten. Das Geld ist jetzt überall die Hauptmacht geworden. Die Erzeugnisse der menschlichen Arbeit jeder Art werden gegen Geld eingetauscht. Für Geld kann man kaufen, was man will. Für Geld kann man sogar den Menschen kaufen, d. h. den besitzlosen Menschen zwingen, für den zu arbeiten, der Geld hat. Früher war der Grund und Boden die Hauptmacht, – so war es zur Zeit der Leibeigenschaft; wer Land besaß, der besaß auch Gewalt und Macht. Jetzt aber ist das Geld, das Kapital zur Hauptmacht geworden. Für Geld kann man Land kaufen, soviel man will. Ohne Geld kann man auch mit dem Land nicht viel anfangen: wofür sollte man denn einen Pflug oder andere Geräte, wofür Vieh, Kleidung und alle möglichen anderen städtischen Waren kaufen, ganz abgesehen vom Steuerzahlen? Um des Geldes willen haben fast alle Gutsbesitzer ihre Güter in den Banken verpfändet. Um Geld zu bekommen, macht die Regierung Anleihen bei reichen Leuten und Bankherren in der ganzen Welt, und für diese Anleihen zahlt sie jährlich hunderte Millionen von Rubeln Zinsen.

Um des Geldes willen führen jetzt alle einen erbitterten Kampf gegeneinander. Jeder bemüht sich, möglichst billig zu kaufen, möglichst teuer zu verkaufen, jeder bemüht sich, den andern zu überflügeln, möglichst viel Ware zu verkaufen, die Preise herabzudrücken, eine vorteilhafte Absatzstelle oder vorteilhafte Lieferung vor dem andern zu verheimlichen. Die kleinen Leute, der kleine Handwerker und der kleine Bauer sind in diesem allgemeinen Wettkampf um das Geld am schlimmsten dran: sie bleiben stets hinter dem reichen Kaufmann oder dem reichen Bauer zurück. Sie haben nie Vorräte, sie leben von einem Tag auf den andern, sie sind gezwungen, bei jeder Schwierigkeit, bei jedem Unglücksfall ihre letzte Habe zu versetzen oder ihr Arbeitsvieh für einen Spottpreis zu verkaufen. Sind sie einmal in die Klauen irgendeines Kulaken oder Wucherers gefallen, so gelingt es ihnen nur in den seltensten Fällen, sich von den Fesseln zu befreien, meist aber werden sie ganz zugrunde gerichtet. In jedem Jahr verriegeln Zehntausende und Hunderttausende von kleinen Bauern und Handwerkern ihre Hütten, geben ihren Landanteil der Gemeinde umsonst ab und werden Lohnarbeiter, Landarbeiter, ungelernte Arbeiter, Proletarier. Die reichen Leute dagegen bereichern sich in diesem Kampf um das Geld immer mehr. Die reichen Leute sammeln in Banken Millionen und aber Millionen von Rubeln und bereichern sich nicht nur mit Hilfe ihres eigenen Geldes, sondern auch mit Hilfe des fremden Geldes, das in den Banken liegt. Für ihre zehn oder hundert Rubel, die die kleinen Leute auf die Bank oder die Sparkasse tragen, bekommen sie drei oder vier Kopeken Zinsen auf den Rubel, die Reichen aber legen diese Summe zu Millionen zusammen, erweitern um diese Millionen ihren Umsatz und verdienen zehn und zwanzig Kopeken auf den Rubel.

Darum sagen die sozialdemokratischen Arbeiter, dass man dem Volkselend nur dann ein Ende setzen kann, wenn man die jetzigen Zustände im ganzen Staat ändert und die sozialistische Ordnung errichtet, d. h., wenn man den Großgrundbesitzern ihre Güter, den Fabrikbesitzern ihre Fabriken und Betriebe, den Bankherren ihr Geldkapital wegnimmt, – wenn man ihr Privateigentum aufhebt und dieses in die Hände des gesamten Arbeitervolkes im ganzen Staate legt. Dann werden über die Arbeit der Arbeiter nicht die reichen Leute verfügen, die von fremder Arbeit leben, sondern die Arbeiter selber und die von ihnen gewählten Vertreter. Dann werden die Früchte der gemeinsamen Arbeit und die Vorteile von allen Verbesserungen und Maschinen für alle Werktätigen, für alle Arbeiter von Nutzen sein. Dann wird der Reichtum noch rascher anwachsen, denn die Arbeiter werden für sich selber besser arbeiten als für die Kapitalisten, der Arbeitstag wird kürzer, die Lebenshaltung der Arbeiter besser sein, ihr ganzes Leben sich vollständig ändern.

Aber es ist keine leichte Sache, die Zustände im ganzen Staate zu ändern. Dazu ist viel Arbeit, ist ein langer und zäher Kampf erforderlich. Alle reichen Leute, alle Eigentümer, die ganze Bourgeoisie* wird mit allen Kräften ihre Reichtümer verteidigen. Zum Schutz der ganzen Klasse der Reichen werden sich die Beamten und das Heer erheben, denn die Regierung selber befindet sich in Händen der reichen Klasse. Die Arbeiter müssen sich zum Kampf gegen alle, die von fremder Arbeit leben, wie ein Mann zusammenschließen; die Arbeiter müssen sich selbst und alle Besitzlosen zu einer Arbeiterklasse, zu einer Klasse des Proletariats vereinigen. Der Kampf wird für die Arbeiterklasse nicht leicht sein, aber dieser Kampf wird unbedingt mit dem Siege der Arbeiter enden, denn die Bourgeoisie, oder die Leute, die von fremder Arbeit leben, bilden einen winzigen Teil des Volkes. Die Arbeiterklasse aber ist die gewaltige Mehrheit des Volkes. Die Arbeiter gegen die Eigentümer – das bedeutet: Millionen gegen Tausende.

Die Arbeiter haben in Russland bereits begonnen, sich für diesen großen Kampf zu einer sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu vereinigen. Wie schwer es auch ist, sich im Geheimen zu vereinigen, ohne Wissen der Polizei, so erstarkt und wächst diese Vereinigung dennoch. Wenn aber das russische Volk sich die politische Freiheit erobert haben wird, dann wird die Sache des Zusammenschlusses der Arbeiterklasse, die Sache des Sozialismus unvergleichlich viel rascher vorwärts schreiten, noch rascher als bei den deutschen Arbeitern.

* Bourgeois heißt Eigentümer. Die Bourgeoisie sind alle Eigentümer zusammen. Großbourgeois bedeutet Großbesitzer, Kleinbourgeois Kleinbesitzer. Bourgeoisie und Proletariat heißt soviel wie Eigentümer und Arbeiter, Reiche und Besitzlose, Leute, die von fremder Arbeit leben, und Leute, die um des Lohnes willen für andere arbeiten.

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