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Wladimir I. Lenin 19030228 Braucht das jüdische Proletariat eine „selbständige politische Partei?"

Wladimir I. Lenin: Braucht das jüdische Proletariat eine „selbständige politische Partei?"

[Iskra" Nr. 34. 15. Februar 1903. Nach Sämtliche Werke, Band 5, 1930, S. 345-351]

In Nr. 105 (vom 28./15. Januar 1903) der vom „Auslandskomitee des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes in Litauen, Polen und Russland" herausgegebenen Zeitung „Poslednija Iswestija" finden wir in dem kleinen Aufsatz „Aus Anlass einer Flugschrift" (gemeint ist die Flugschrift des Jekaterinoslawer Komitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands) folgende ebenso erstaunliche, wie wichtige und wirklich „folgenschwere" Behauptung: „Das jüdische Proletariat hat sich im ,Bund' als selbständige (sic!) politische Partei konstituiert (sic!)".

Das hatten wir bis jetzt nicht gewusst. Das ist etwas Neues.

Bisher war der „Bund" ein Teil der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands und noch (noch!) in Nr. 106 der „Poslednija Iswestija" finden wir eine Erklärung des Zentralkomitees des „Bund" mit der Aufschrift „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands". Allerdings hatte der „Bund" auf seiner letzten, der vierten Konferenz, beschlossen, seinen Namen zu ändern (ohne auch nur den Wunsch zu äußern, die Meinung der russischen Genossen über die Benennung dieses oder jenes Teiles der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands anzuhören) und die Festlegung neuer, föderativer Beziehungen in den Statuten der Russischen Partei „durchzusetzen". Das Auslandskomitee des „Bund" hat diese neuen Beziehungen sogar schon „durchgesetzt", wenn man seinen Austritt aus dem Auslandsbund der Russischen Sozialdemokraten und den Abschluss eines föderativen Vertrages mit diesem Auslandsbund so bezeichnen kann.

Doch der „Bund" selbst erklärte ganz entschieden, als die „Iskra" gegen die Beschlüsse seiner vierten Konferenz polemisierte, dass er nur die Absicht habe, seine Wünsche und Beschlüsse innerhalb der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands durchzusetzen, d. h. er erklärte offen und entschieden, dass er ein Teil der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands bleibt, bis diese Partei neue Statuten angenommen und neue Formen der Beziehungen zum „Bund" ausgearbeitet hat.

Jetzt stellt sich plötzlich heraus, dass das jüdische Proletariat sich bereits als selbständige politische Partei konstituiert hat! Wir wiederholen noch einmal: das ist etwas Neues!

Ebenso neu ist der grimmige und unkluge Angriff des Auslandskomitees des „Bund" gegen das Jekaterinoslawer Komitee. Wir haben endlich (wenn auch leider mit großer Verspätung) dessen Flugschrift erhalten und können ohne zu zaudern sagen, dass der Angriff gegen eine solche Flugschrift zweifellos einen wichtigen politischen Schritt des „Bund" darstellt.* Dieser Schritt steht in völligem Einklang mit der Erklärung des „Bund" zu einer selbständigen politischen Partei und wirft ein grelles Licht auf das Gesicht und die Handlungsweise dieser neuen Partei.

Raummangel nimmt uns leider die Möglichkeit, die Jekaterinoslawer Flugschrift ganz abzudrucken (sie würde etwa zwei Spalten der „Iskra" beanspruchen**), und wir beschränken uns auf die Bemerkung, dass diese ausgezeichnete Flugschrift den jüdischen Arbeitern der Stadt Jekaterinoslaw (wir werden gleich erklären, warum wir diese Worte unterstreichen) die Stellung der Sozialdemokraten zum Zionismus und zum Antisemitismus ausgezeichnet auseinandersetzt. Dabei ist die Flugschrift so besorgt, so kameradschaftlich besorgt um die Gefühle, Stimmungen und Wünsche der jüdischen Arbeiter, dass sie die Notwendigkeit des Kampfes unter dem Banner der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands „sogar zur Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung eurer (die Flugschrift wendet sich an die jüdischen Arbeiter) nationalen Kultur", „sogar im rein nationalen Interesse'* (unterstrichen und fett gedruckt in der Flugschrift selber) besonders betont und unterstreicht.

Und trotzdem fällt das Auslandskomitee des „Bund" (fast bitten wir gesagt, das Zentralkomitee der neuen Partei) über diese Flugschrift her, weil sie mit keinem Wort den „Bund" erwähnt. Das ist ihr einziges, dafür aber unverzeihliches, furchtbares Verbrechen. Aus diesem Grunde wird dem Jekaterinoslawer Komitee Mangel an „politischem Sinn" vorgeworfen. Die Jekaterinoslawer Genossen werden gerügt, weil sie „den Gedanken an die Notwendigkeit einer besonderen Organisation (welch tiefer und wichtiger Gedanke!) der Kräfte (!!) des jüdischen Proletariats immer noch nicht verdaut haben", weil sie „immer noch den sinnlosen Träumereien nachgehen, ihn (den ,Bund') irgendwie abzutun", weil sie „das nicht minder (als das zionistische) schädliche Märchen" verbreiten, der Antisemitismus sei mit den bürgerlichen, nicht aber mit den proletarischen Schichten und den Interessen dieser Schichten verbunden. Darum wird dem Jekaterinoslawer Komitee empfohlen, „sich frei zu machen von der schlechten Gewohnheit, die selbständige jüdische Arbeiterbewegung totzuschweigen" und „sich mit der Tatsache, dass der ,Bund' da ist, abzufinden".

Es fragt sich nun: liegt hier wirklich ein Verbrechen des Jekaterinoslawer Komitees vor? Hätte es wirklich unbedingt den „Bund" erwähnen müssen? Auf diese Fragen kann man nur verneinend antworten, aus dem einfachen Grunde schon, weil die Flugschrift nicht an die „jüdischen Arbeiter" im Allgemeinen gerichtet ist (wie das Komitee des „Bund" es ganz falsch darstellt) , sondern an die „jüdischen Arbeiter der Stadt Jekaterinоslaw". (Das Auslandskomitee des „Bund" hat vergessen, diese beiden letzten Worte mit anzuführen!) In Jekaterinoslaw gibt es gar keine Organisation des „Bund". (Überhaupt hat die vierte Konferenz des „Bund" in Bezug auf Südrussland beschlossen, keine besonderen Komitees des „Bund" in den Städten zu gründen, in denen die jüdischen Organisationen einen Bestandteil der Parteikomitees bilden und die Bedürfnisse dieser Organisationen ohne Absonderung von den Parteikomitees befriedigt werden können.) Da die jüdischen Arbeiter in Jekaterinoslaw in einem besonderen Komitee organisiert sind, so steht ihre Bewegung (die mit der gesamten Arbeiterbewegung dieses Gebiets untrennbar zusammenhängt) unter der Leitung des Jekaterinoslawer Komitees, das sie unmittelbar der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands mit unterordnet, diese aber muss die jüdischen Arbeiter zur Arbeit für die gesamte Partei, und nicht für deren einzelne Teile, aufrufen. Es ist klar, dass das Jekaterinoslawer Komitee unter diesen Umständen nicht nur nicht verpflichtet war, den „Bund" zu erwähnen, sondern im Gegenteil, wenn es ihm eingefallen wäre, „die Notwendigkeit einer besonderen Organisation der Kräfte (das wäre eher und wahrscheinlicher eine Organisation der Kraftlosigkeit***) des jüdischen Proletariats" zu predigen (wie die Bundisten wollen), so hätte es einen gewaltigen Fehler begangen und nicht nur den Parteistatuten, sondern auch den Interessen der Einheit des proletarischen Klassenkampfes geradezu zuwider gehandelt.

Weiter. Gegen das Jekaterinoslawer Komitee wird die Anklage erhoben, in der Frage des Antisemitismus mangelhaft „orientiert" zu sein. Das Auslandskomitee des „Bund" offenbart eine wahrhaft kindische Anschauung über die großen sozialen Bewegungen. Das Jekaterinoslawer Komitee spricht von der internationalen antisemitischen Bewegung der letzten Jahrzehnte und bemerkt, dass „diese Bewegung von Deutschland nach anderen Ländern übergegriffen und überall gerade in den bürgerlichen, nicht aber in den proletarischen Schichten der Bevölkerung Anhänger gefunden hat". – „Das ist ein nicht minder schädliches Märchen" (als die zionistischen Märchen), schreibt ganz erbost das Auslandskomitee des „Bund". Der Antisemitismus „hat in der Arbeitermasse Wurzeln geschlagen", was der „orientierte" „Bund" durch zwei Tatsachen zu beweisen sucht: 1. die Beteiligung von Arbeitern an dem Judenpogrom in Czenstochau; 2. die Handlungsweise von 12 (zwölf!) christlichen Arbeitern in Schitomir, die Streikbrecherdienste leisteten und „alle Juden abzuschlachten" drohten. Das sind wirklich schwerwiegende Beweise, insbesondere der letzte! Die Redaktion der „Poslednija Iswestija" ist so gewöhnt an große Streiks von 5 bis 10 Mann, dass sie die Handlungsweise von 12 rückständigen Arbeitern in Schitomir heranzieht als Maßstab für die Verbindung des internationalen Antisemitismus mit diesen oder jenen „Bevölkerungsschichten". Das ist wirklich großartig! Hätten die Bundisten, statt in dieser unklugen und lächerlichen Weise ihren Zorn gegen das Jekaterinoslawer Komitee auszulassen, ein wenig über diese Frage nachgedacht und hätten sie z. B. in die von ihnen vor kurzem in jüdischer Sprache herausgegebenen Broschüre Kautskys über die soziale Revolution1 hineingeschaut, so würden sie den zweifellos vorhandenen Zusammenhang zwischen dem Antisemitismus und gerade den kapitalistischen, nicht aber den proletarischen Schichten der Bevölkerung begriffen haben. Und wenn sie noch etwas mehr nachgedacht hätten, so würden sie auch verstanden haben, dass der soziale Charakter des heutigen Antisemitismus sich nicht ändert durch die Tatsache, dass an diesem oder jenem Pogrom nicht nur Dutzende, sondern sogar Hunderte unorganisierter und zu neun Zehnteln noch ganz unaufgeklärter Arbeiter teilgenommen haben.

Das Jekaterinoslawer Komitee wandte sich (und zwar mit vollem Recht) gegen das Märchen der Zionisten von der Ewigkeit des Antisemitismus, der „Bund" aber hat durch seine erboste Berichtigung die Frage nur verwirrt und unter den jüdischen Arbeitern Anschauungen verbreitet, die zur Trübung ihres Klassenbewusstseins führen.

Vom Standpunkte des Kampfes der gesamten Arbeiterklasse Russlands für die politische Freiheit und den Sozialismus ist der Ausfall des „Bund" gegen das Jekaterinoslawer Komitee der Gipfel der Unvernunft. Vom Standpunkte der „selbständigen politischen Partei des Bund" wird dieser Ausfall begreiflich: Ihr dürft „jüdische" Arbeiter nirgends zusammen und untrennbar verbunden mit den „christlichen" organisieren! Ihr dürft euch nicht im Namen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands oder ihrer Komitees unmittelbar, „unter Umgehung der zuständigen Parteistellen", ohne Vermittlung des „Bund", ohne den „Bund" zu erwähnen, an die jüdischen Arbeiter wenden!

Und diese tief bedauerliche Tatsache ist ja kein Zufall. Habt ihr einmal in Angelegenheiten, die das jüdische Proletariat betreffen, statt Autonomie „Föderation" verlangt, so wart ihr gezwungen, den „Bund" für eine „selbständige politische Partei" zu erklären, um die Möglichkeit zu haben, die Föderation unter allen Umständen durchzusetzen. Doch den „Bund" für eine selbständige politische Partei erklären, heißt den Grundirrtum in der nationalen Frage in seiner ganzen Unsinnigkeit bloßstellen, denn diese selbständige Partei wird unbedingt und unvermeidlich zum Ausgangspunkt eines Umschwunges in den Anschauungen des jüdischen Proletariats und der jüdischen Sozialdemokraten überhaupt werden. Die „Autonomie" in den Statuten von 1898 sichert der jüdischen Arbeiterbewegung alles, was sie braucht: Propaganda und Agitation in jüdischer Sprache, eigene Literatur, eigene Konferenzen, die Aufstellung von besonderen Forderungen bei der Herausbildung eines allgemeinen sozialdemokratischen Programms, die Befriedigung der örtlichen Nöte und Bedürfnisse, die sich aus den besonderen Bedingungen des jüdischen Lebens ergeben. In allem anderen ist die vollständige und engste Verschmelzung mit dem russischen Proletariat notwendig, sie ist notwendig für den Kampf des gesamten russischen Proletariats. Und dem ganzen Wesen der Sache nach hat jede Angst vor dem „Überstimmtwerden" bei einer solchen Verschmelzung unbegründet, denn vor dem Überstimmtwerden im besonderen Fragen der jüdischen Bewegung sichert gerade die Autonomie, in Fragen des Kampfes gegen den Absolutismus ober, des Kampfes gegen die gesamte russische Bourgeoisie müssen wir als eine einzige, einheitliche, kampffähige Organisation auftreten. Wir müssen uns auf das gesamte Proletariat stützen, ohne Unterschied der Sprache Und der Nationalität, auf das, durch die ständige gemeinsame Lösung der theoretischen und der praktischen, der taktischen und der organisatorischen Fragen geeinte Proletariat. Wir dürfen keine Organisationen schaffen, die getrennt marschieren, die ihre eigene Wege gehen; wir dürfen die Kraft unseres Ansturms nicht durch Zersplitterung in zahlreiche selbständige politische Parteien schwächen, keine Entfremdung und Isolierung in unsere Reihen hinein tragen, um dann nachher die künstlich eingeimpfte Krankheit mit den Pflastern der berüchtigten „Föderation" zu heilen.

* Vorausgesetzt natürlich, dass das Auslandskomitee des „Bund" in dieser Frage die Ansichten des gesamten „Bund" zum Ausdruck bringt.

** Wir beabsichtigen, diese Flugschrift und den Angriff des Auslandskomitees des „Bund" gegen sie in einer Broschüre zu veröffentlichen, deren Druck in Vorbereitung ist. [Die von der Redaktion der „Iskra" beabsichtigte Herausgabe einer Broschüre, die das Flugblatt des Jekaterinoslawer Komitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands „An die jüdischen Arbeiter der Stadt Jekaterinoslaw" (Ende 1902) und den Artikel des Auslandskomitees des „Bund" („Aus Anlass eines Flugblattes") („Poslednije Iswestija" Nr. 105 vom 28. Januar 1903 n. St.) enthalten sollte, wurde nicht verwirklicht.]

*** Eben dieser „Organisation der Kraftlosigkeit" dient der „Bund", wenn er Ausdrücke gebraucht, wie z. В.: unsere Genossen aus den „christlichen Arbeiterorganisationen". Das ist ebenso unglaublich wie der ganze Ausfall gegen das Jekaterinoslawer Komitee. Wir kennen keine „christlichen" Arbeiterorganisationen. Die Organisationen, die zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands gehören, haben in ihrer Mitgliedschaft nie religiöse Unterschiede gemacht, haben nie nach der Religion gefragt und werden nie danach fragen, – auch dann nicht, wenn der „Bund" sich tatsächlich als „selbständige politische Partei" konstituiert.

1 Gemeint ist die ins Jüdische übersetzte, im Jahre 1902 in deutscher Sprache erschienene Broschüre K. Kautskys „Die soziale Revolution".

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