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Wladimir I. Lenin 19030214 Das Manifest der armenischen Sozialdemokraten

Wladimir I. Lenin: Das Manifest der armenischen Sozialdemokraten1

[Iskra" Nr. 33 1. Februar 1903. Nach Sämtliche Werke, Band 5, 1930, S. 340-344]

Im Kaukasus hat sich eine neue sozialdemokratische Organisation gebildet: der Bund der armenischen Sozialdemokraten". Dieser Bund hat, wie uns bekannt ist, vor mehr als einem halben Jahre seine praktische Tätigkeit begonnen und besitzt bereits ein eigenes Blatt in armenischer Sprache. Wir haben Nr. 1 dieses Blattes erhalten, das sich „Proletariat" nennt und mit der Aufschrift versehen ist: „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands". Sie enthält eine Reihe von Artikeln, Notizen und Korrespondenzen, in denen die sozialen und politischen Verhältnisse geschildert sind, die den „Bund der armenischen Sozialdemokraten" ins Leben gerufen haben, und in denen in allgemeinen Zügen das Programm seiner Tätigkeit entworfen wird.

Im Leitartikel, der sich „Manifest der armenischen Sozialdemokraten" nennt, lesen wir:

Der Bund der armenischen Sozialdemokraten, der einer der Zweige der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands ist, die über das ganze Gebiet Russlands ihr Netz ausgebreitet hat, ist in seiner Tätigkeit mit dieser Partei vollkommen solidarisch und wird mit ihr zusammen kämpfen für die Interessen des russischen Proletariats im allgemeinen und des armenischen im besonderen."

Die Verfasser weisen weiter auf die rasche Entwicklung des Kapitalismus im Kaukasus und auf die ihrer Kraft und Vielseitigkeit nach ungeheuerlichen Ergebnisse hin, die diesen Prozess begleiten, und gehen dann zu der Frage der gegenwärtigen Lage der Arbeiterbewegung im Kaukasus über. In den Industriezentren des Kaukasus, wie z. B. in Baku, Tiflis, Batum, mit ihren kapitalistischen Großbetrieben und ihrem zahlreichen Fabrikproletariat, hat diese Bewegung bereits tief Wurzel gefasst. Aber der Kampf der kaukasischen Arbeiter gegen die Unternehmer ist natürlich, infolge ihrer äußerst niedrigen Kulturstufe, bisher mehr oder weniger unbewusst, spontan gewesen. Es war eine Kraft notwendig, die imstande gewesen wäre, die zersplitterten Kräfte zu vereinigen, ihren Forderungen eine klar umrissene Form zu geben und in ihnen das Klassenbewusstsein herauszuarbeiten. Eine solche Kraft ist der Sozialismus. – Nach einer kurzen Darlegung der Grundsätze des wissenschaftlichen Sozialismus setzt der Bund dann seine eigene Stellung zu den heutigen Strömungen in der internationalen, insbesondere in der russischen Sozialdemokratie auseinander.

Das sozialistische Ideal – heißt es im Manifest – kann unseres Erachtens weder durch die wirtschaftliche Selbsttätigkeit der Arbeiterklasse noch durch politische und soziale Teilreformen verwirklicht werden; diese Verwirklichung ist nur möglich, wenn das gesamte bestehende System von Grund aus niedergerissen wird, und zwar durch die soziale Revolution, deren notwendige Einleitung die politische Diktatur des Proletariats sein muss."

Weiter weist der Bund auf das in Russland bestehende politische Regime als auf ein jeder sozialen Bewegung, insbesondere der Arbeiterbewegung, feindlich gegenüberstehendes hin, und er erklärt, dass er sich die politische Erziehung des armenischen Proletariats und dessen Beteiligung am Kampf des gesamten russischen Proletariats für den Sturz der Zarenselbstherrschaft zur nächsten Aufgabe mache. Der Bund leugnet nicht die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Teilkampfes der Arbeiter gegen die Unternehmer, doch misst er ihm keine selbständige Bedeutung bei. Er erkennt diesen Kampf an, soweit er die wirtschaftliche Lage der Arbeiter bessert und die Herausbildung des politischen Selbstbewusstseins und der Klassensolidarität in ihnen fördert.

Besonders interessant ist für uns die Stellung des Bundes zur nationalen Frage.

Angesichts des Umstandes – heißt es im Manifest –, dass zum Bestand des russischen Staates viele verschiedene Völkerschaften gehören, die sich auf verschiedenen Stufen der kulturellen Entwicklung befinden, und in der Erkenntnis, dass nur eine breite Entwicklung der örtlichen Selbstverwaltung die Interessen dieser verschiedenartigen Völkerschaften sichern kann, halten wir im zukünftigen freien Russland die Errichtung einer föderativen (von uns gesperrt) Republik für notwendig. Was den Kaukasus anbelangt, so werden wir, angesichts der außerordentlich hohen Zahl der Volksstämme, die ihn bevölkern, nach der Vereinigung aller örtlichen sozialistischen Kreise und aller Arbeiter, die den verschiedenen Nationalitäten angehören, streben; wir werden nach der Bildung einer einheitlichen starken sozialdemokratischen Organisation streben – zum erfolgreicheren Kampf gegen den Absolutismus. Im zukünftigen Russland erkennen wir für alle Nationen das Recht auf freie Selbstbestimmung an, denn in der nationalen Freiheit sehen wir nur eine der Formen der Bürgerfreiheit überhaupt. Von diesem Satz ausgehend, und dem bereits erwähnten Umstand Rechnung tragend, dass die kaukasische Bevölkerung aus vielen Stämmen zusammengesetzt ist, zwischen denen es keine geographischen Grenzen gibt, halten wir es nicht für möglich, die Forderung der politischen Autonomie in unser Programm aufzunehmen; wir fordern nur die Autonomie im kulturellen Leben, d. h. die Freiheit der Sprache, der Schulen, der Bildung usw."

Wir begrüßen von ganzem Herzen das Manifest des „Bundes der armenischen Sozialdemokraten" und insbesondere seinen bemerkenswerten Versuch, eine richtige Stellung in der nationalen Frage einzunehmen. Es wäre sehr wünschenswert, dass man diesen Versuch zu Ende führt. Die zwei wichtigsten Grundsätze, an die sich alle Sozialdemokraten Russlands in der nationalen Frage halten müssen, hat der Bund vollkommen richtig angedeutet. Das ist, erstens, die Forderung nicht der nationalen Autonomie, sondern der politischen und bürgerlichen Freiheit und der vollständigen Gleichberechtigung; das ist, zweitens, die Forderung des Selbstbestimmungsrechtes für jede Völkerschaft, die zu dem Bestand des Staates gehört. Aber diese beiden Grundsätze werden vom „Bund der armenischen Sozialdemokraten" noch nicht ganz folgerecht durchgeführt. In der Tat, kann man von ihrem Standpunkt aus von der Forderung der föderativen Republik sprechen? Eine Föderation setzt autonome nationale politische Einheiten voraus, der Bund aber lehnt die Forderung der nationalen Autonomie ab. Um ganz folgerecht vorzugehen, muss der Bund die Forderung der föderativen Republik aus seinem Programm entfernen und sich auf die Forderung der demokratischen Republik im Allgemeinen beschränken. Es ist nicht Sache des Proletariats, Föderalismus und nationale Autonomie zu prоpagieren, es ist nicht Sache des Proletariats, solche Forderungen aufzustellen, die unvermeidlich zu der Forderung der Bildung eines autonomen Klassen-Staates führen. Die Sache des Proletariats ist – möglichst breite Massen der Arbeiter aller Nationalitäten enger zusammenzufassen, sie zusammenzufassen zum Kampf für die demokratische Republik und den Sozialismus auf einem möglichst breiten Kampfboden. Und wenn der heute bestehende Kampfboden des Staates durch eine Reihe empörender Gewalttaten geschaffen worden ist und unterstützt und erweitert wird, so dürfen wir – eben zum erfolgreichen Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung jeder Art – die Kräfte der am meisten unterdrückten und kampffähigsten Arbeiterklasse nicht zersplittern, sondern wir müssen sie vereinigen. Die Forderung der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes für jede Völkerschaft bedeutet an und für sich nur, dass wir, die Partei des Proletariats, uns immer und unbedingt gegen jeden Versuch auflehnen müssen, die Selbstbestimmung des Volkes durch Gewalt oder Ungerechtigkeit von außen zu beeinflussen. Wenn wir diese unsere negative Pflicht (des Kampfes und der Auflehnung gegen die Gewalt) stets erfüllen, so sorgen wir selber von uns aus für die Selbstbestimmung nicht der Völker und Nationen, sondern des Proletariats jeder Nationalität. So muss also das allgemeine, grundlegende, stets bindende Programm der Sozialdemokraten Russlands nur in der Forderung der vollständigen Gleichberechtigung der Bürger (unabhängig von Geschlecht, Sprache, Religion, Rasse, Nationalität usw.) und des Rechtes auf ihre freie demokratische Selbstbestimmung bestehen. Was aber die Unterstützung der Forderungen der nationalen Autonomie betrifft, so ist diese Unterstützung durchaus keine bleibende, programmatische Pflicht des Proletariats. Diese Unterstützung kann für das Proletariat nur in einzelnen Ausnahmefällen notwendig werden. Hinsichtlich der armenischen Sozialdemokratie ist das Nichtvorhandensein solcher Ausnahmeumstände vom „Bund der armenischen Sozialdemokraten" selber anerkannt worden.

Wir hoffen, auf diese Frage der Föderation und auf die nationale Frage noch zurückkommen zu können. Jetzt aber wollen wir schließen, indem wir das neue Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands – den Bund der armenischen Sozialdemokraten – noch einmal begrüßen.

1 Die Notiz „Das Manifest der armenischen Sozialdemokraten" war in Nr. 33 der „Iskra", in der Rubrik „Aus der Partei" veröffentlicht. Der Titel der Notiz stammt von der russischen Redaktion der Werke. Zum Schluss der Notiz verspricht Lenin, noch einmal auf die Frage des Föderalismus und der Nationalität zurückzukommen. Dieses Versprechen ist erfüllt worden in dem Artikel „Die nationale Frage in unserm Programm".

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