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Wladimir I. Lenin 19030728 Die nationale Frage in unserm Programm

Wladimir I. Lenin: Die nationale Frage in unserm Programm

[Iskra" Nr. 44, 15. Juli 1903. Nach Sämtliche Werke, Band 5, 1930, S. 478-488]

Im Entwurf zum Parteiprogramm haben wir die Forderung einer Republik mit demokratischer Verfassung aufgestellt, die unter anderem auch „die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes für alle dem Staate angehörenden Nationen" gewährleistet. Diese Programmforderung schien manchen nicht klar genug zu sein, und wir haben in Nr. 33 bei der Besprechung des Manifestes der armenischen Sozialdemokraten die Bedeutung dieses Punktes folgendermaßen erklärt. Die Sozialdemokratie wird stets jeden Versuch bekämpfen, durch Gewalt oder irgendeine Ungerechtigkeit die nationale Selbstbestimmung von außen her zu beeinflussen. Aber die bedingungslose Anerkennung des Kampfes für die Freiheit der Selbstbestimmung verpflichtet uns keineswegs, jede Forderung nach nationaler Selbstbestimmung zu unterstützen. Die Sozialdemokratie, die Partei des Proletariats, sieht ihre positive Hauptaufgabe in der Förderung der Selbstbestimmung nicht der Völker und Nationen, sondern des Proletariats jeder Nationalität. Wir müssen stets und unbedingt auf den engsten denkbaren Zusammenschluss des Proletariats aller Nationalitäten hinarbeiten, und nur in einzelnen Ausnahmefällen können wir Forderungen, die auf die Schaffung eines neuen Klassenstaates oder auf die Ablösung der völligen politischen Einheit eines Staates durch eine losere föderative Einheit usw. hinauslaufen, aufstellen und nach Kräften unterstützen.

Diese Auslegung unseres Programms in der nationalen Frage hat den entschiedenen Widerstand der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) hervorgerufen. In dem Aufsatz: „Die Stellung der russischen Sozialdemokratie zur nationalen Frage" („Przedświt"1, März 1903) empört sich die PPS über diese „erstaunliche" Auslegung und die „Nebelhaftigkeit" unserer „geheimnisvollen" Selbstbestimmung, sie wirft uns Doktrinarismus vor und die „anarchistische" Auffassung, „der Arbeiter brauche sich um nichts weiter zu kümmern als um die vollständige Vernichtung des Kapitalismus, da ja Sprache, Nationalität, Kultur usw. doch nur bürgerliche Erfindungen seien" usw. Es lohnt sich, mit aller Ausführlichkeit auf diese Behauptungen einzugehen, die fast alle Irrtümer enthalten, die in der nationalen Frage unter den Sozialisten so üblich und so verbreitet sind.

Weshalb ist unsere Auslegung so „erstaunlich"? Weshalb erblickt man darin ein Abweichen vom „wörtlichen" Sinne? Erfordert denn die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen die Unterstützung jeder Forderung jeder Nation, über sich selbst zu bestimmen? Verpflichtet doch auch die Anerkennung des Rechtes aller Bürger, freie Verbände zu gründen, uns Sozialdemokraten durchaus nicht, die Bildung jedes neuen Verbandes zu unterstützen, ja sie hindert uns keineswegs, gegen die Unzweckmäßigkeit und Unsinnigkeit des Gedankens, einen bestimmten Verband zu gründen, Stellung zu nehmen und dagegen zu agitieren. Wir gestehen selbst den Jesuiten das Recht der freien Agitation zu, aber wir bekämpfen (natürlich nicht mit Polizeimethoden) ein Bündnis zwischen Jesuiten und Proletariern. Wenn also „Przedświt" sagt: „sollte diese Forderung der freien Selbstbestimmung wörtlich aufgefasst werden (und diese Bedeutung haben wir ihr bisher beigelegt), so würde sie uns befriedigen", – dann ist es ganz offensichtlich, dass es gerade die PPS ist, die vom wörtlichen Sinne des Programms abweicht. Es kann nicht bestritten werden, dass ihre Schlussfolgerung vom formalen Standpunkt aus unlogisch ist.

Aber wir wollen uns nicht auf die formale Überprüfung unserer Auslegung beschränken. Stellen wir die Frage offen und sachlich: muss die Sozialdemokratie stets bedingungslos die nationale Unabhängigkeit fordern oder nur unter bestimmten Bedingungen, und unter welchen? Die PPS hat diese Frage immer im Sinne der unbedingten Anerkennung entschieden, und wir sind daher nicht im Geringsten erstaunt über ihre zärtlichen Gefühle für die russischen Sozialrevolutionäre, die die föderative Staatsordnung fordern und für die „vollständige und bedingungslose Anerkennung des Rechtes auf nationale Selbstbestimmung" eintreten („Rewoluzionnaja Rossija" Nr. 18, Aufsatz: „Die nationale Versklavung und der revolutionäre Sozialismus"). Leider ist das nicht mehr als eine der bürgerlich-demokratischen Phrasen, die zum hundertsten und tausendsten Male die wirkliche Natur der sogenannten Partei der sogenannten Sozialrevolutionäre zeigen. Und die PPS, die sich von diesen Phrasen ködern, von diesem Flittergold blenden lässt, beweist ihrerseits, wie schwach in ihrem theoretischen Bewusstsein und in ihrer politischen Tätigkeit die Verbindung mit dem Klassenkampf des Proletariats ist. Eben diesem Kampfe haben wir die Forderung der nationalen Selbstbestimmung unterzuordnen. Gerade in dieser Bedingung besteht der Unterschied zwischen unserer Einstellung zur nationalen Frage und der bürgerlich-demokratischen Einstellung. Der bürgerliche Demokrat (und auch der in seine Fußstapfen tretende moderne sozialistische Opportunist) bildet sich ein, die Demokratie beseitige den Klassenkampf, und darum stellt er seine gesamten politischen Forderungen abstrakt, allgemein, „bedingungslos", vom Standpunkt der Bedürfnisse des „ganzen Volkes" oder sogar vom Standpunkt des ewigen absoluten sittlichen Prinzips. Der Sozialdemokrat entlarvt schonungslos diesen bürgerlichen Wahn stets und überall, ob er nun in der abstrakten idealistischen Philosophie zum Ausdruck kommt oder in der bedingungslosen Forderung nach nationaler Unabhängigkeit.

Sollte es noch notwendig sein, nachzuweisen, dass der Marxist die Forderung der nationalen Unabhängigkeit nur bedingt, und zwar unter der oben angeführten Bedingung, anerkennen kann, dann wollen wir die Worte eines Schriftstellers anführen, der vom marxistischen Standpunkt aus die Forderung des polnischen Proletariats nach der Unabhängigkeit Polens verteidigt hat. Karl Kautsky schrieb im Jahre 1896 in dem Aufsatz „Finis Poloniae?"2:

Sobald also das Proletariat sich mit der polnischen Frage befasst, kann es gar nicht anders, als sich zugunsten der Unabhängigkeit Polens auszusprechen, damit aber auch die Unterstützung jedes Schrittes gutzuheißen, der in dieser Richtung heute schon getan werden kann, soweit er überhaupt vereinbar ist mit den Klasseninteressen des internationalen kämpfenden Proletariats.

Dieser Vorbehalt“ – fährt Kautsky fort – „muss allerdings gemacht werden. Die nationale Unabhängigkeit hängt nicht so innig mit den Klasseninteressen des kämpfenden Proletariats zusammen, dass sie bedingungslos, unter allen Umständen anzustreben wäre*. Marx und Engels traten für die Einigung und Befreiung Italiens mit größter Entschiedenheit ein, das hinderte sie aber nicht, 1859 sich gegen das mit Napoleon verbündete Italien zu erklären." („Neue Zeit", XIV.2, S. 5203.)

Man sieht: Kautsky lehnt die bedingungslose Forderung der Unabhängigkeit der Nationen ab, er verlangt entschieden, dass die Frage nicht nur auf den allgemein-geschichtlichen, sondern gerade auf den Klassenboden gestellt werde. Und nehmen wir die Stellung von Marx und Engels in der polnischen Frage, so sehen wir, dass auch sie diese Frage von Anfang an ebenso gestellt haben. Die „Neue Rheinische Zeitung" widmete der polnischen Frage viel Platz und forderte entschieden nicht nur die Unabhängigkeit Polens, sondern auch einen Krieg Deutschlands gegen Russland um die Befreiung Polens. Gleichzeitig aber wettert Marx gegen Ruge, der im Frankfurter Parlament für die Freiheit Polens eintrat und die polnische Frage nur mit Hilfe bürgerlich-demokratischer Redensarten über die „schmachvolle Ungerechtigkeit", ohne jede Untersuchung der geschichtlichen Lage lösen wollte. Marx gehörte nicht zu jenen Revolutions-Pedanten und -Philistern, die in revolutionären geschichtlichen Augenblicken die „Polemik" am meisten fürchten. Marx überschüttete den „humanen" Bürger Ruge mit schonungslosen Sarkasmen und wies ihm an dem Beispiel der Unterdrückung Südfrankreichs durch Nordfrankreich nach, dass nicht jede nationale Unterdrückung stets ein vom Standpunkte der Demokratie und des Proletariats gerechtfertigtes Streben nach Unabhängigkeit hervorruft. Marx berief sich auf die besonderen sozialen Bedingungen, denen zufolge

Polen … der revolutionäre Teil von Russland, Österreich und Preußen wurde … Sogar der Adel, der z. T. noch auf feudalem Boden stand, schloss sich mit einer beispiellosen Aufopferung der demokratisch-agrarischen Revolution an. Polen war schon der Herd der europäischen Demokratie geworden, als Deutschland noch in der plattesten konstitutionellen und überschwänglichen philosophischen Ideologie umher tappte … Solange wir (Deutsche) … Polen unterdrücken helfen, solange wir einen Teil von Polen an Deutschland schmieden, solange bleiben wir an Russland und die russische Politik geschmiedet, solange können wir den patriarchalisch-feudalen Absolutismus bei uns selbst nicht gründlich brechen. Die Herstellung eines demokratischen Polens ist die erste Bedingung der Herstellung eines demokratischen Deutschlands."

Wir haben diese Erklärungen so ausführlich wiedergegeben, weil sie anschaulich beweisen, unter welchen geschichtlichen Bedingungen die Einstellung zur polnischen Frage innerhalb der internationalen Sozialdemokratie entstanden ist, die fast die ganze zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts aufrechterhalten wurde. Die seither veränderten Bedingungen übersehen, auf den alten Lösungen des Marxismus beharren, heißt dem Buchstaben und nicht dem Geiste der Lehre treu sein, heißt alte Argumente mechanisch wiederholen, ohne es zu verstehen, die Methoden der marxistischen Forschung bei der Prüfung der neuen politischen Lage anzuwenden. Damals und jetzt – die Zeit der letzten bürgerlichen revolutionären Bewegungen und die Zeit der verzweifelten Reaktion, der äußersten Anspannung aller Kräfte am Vorabend der proletarischen Revolution – sind offensichtlich voneinander verschieden. Damals war gerade Polen als Ganzes revolutionär, nicht nur die Bauernschaft, sondern auch die Masse des Adels. Die Traditionen des Kampfes für die nationale Freiheit waren so stark und tief eingewurzelt, dass die besten Söhne Polens nach der Niederlage in der Heimat auszogen, um überall und allenthalben die revolutionären Klassen zu unterstützen. Das Andenken Dombrowskis und Wrublewskis ist unzertrennlich verbunden mit der gewaltigsten Bewegung des Proletariats des 19. Jahrhunderts, mit dem letzten – und hoffen wir, mit dem letzten missglückten – Aufstand der Pariser Arbeiter. Damals war der vollständige Sieg der Demokratie in Europa tatsächlich unmöglich ohne die Wiederherstellung Polens. Damals war Polen wirklich ein Bollwerk der Zivilisation gegen den Zarismus, die Vorhut der Demokratie. Jetzt treten die herrschenden Klassen Polens – die Schlachta in Deutschland und Österreich, die Industrie- und Finanzmagnaten in Russland – als Anhänger der herrschenden Klassen der Polen unterdrückenden Länder auf, während Seite an Seite mit dem polnischen Proletariat, das die großen Traditionen des alten revolutionären Polens heldenmütig übernommen hat, das deutsche und das russische Proletariat um ihre Befreiung kämpfen. Jetzt erklären die fortgeschrittensten Vertreter des Marxismus im Nachbarlande, die die politische Entwicklung Europas mit großer Aufmerksamkeit und den heldenmütigen Kampf der Polen mit warmer Teilnahme verfolgen, trotzdem offen:

Petersburg ist heute ein viel wichtigeres revolutionäres Zentrum als Warschau, die russische revolutionäre Bewegung hat bereits eine größere internationale Bedeutung als die polnische."

So äußerte sich Kautsky bereits im Jahre 1896, als er die Zulässigkeit der Forderung der Wiederherstellung Polens im Programm der polnischen Sozialdemokraten verteidigte. Und 1902 kam Mehring, der die Entwicklung der polnischen Frage vom Jahre 1848 bis heute erforschte, zu folgendem Schluss:

Wollte das polnische Proletariat die Wiederherstellung eines polnischen Klassenstaates auf seine Fahne schreiben, eines Klassenstaates, von dem die herrschenden Klassen selbst nichts wissen wollen, so würde es ein historisches Fastnachtsspiel aufführen, was wohl den besitzenden Klassen passieren mag, wie dem polnischen Adel im Jahre 1791, aber der arbeitenden Klasse nie passieren darf. Taucht diese reaktionäre Utopie nun gar auf, um diejenigen Schichten der Intelligenz und des Kleinbürgertums, in denen die nationale Agitation noch einen gewissen Widerhall findet, der proletarischen Agitation geneigt zu machen, so ist sie doppelt hinfällig, als Ausgeburt jenes verwerflichen Opportunismus, der um nichtiger und wohlfeiler Augenblickserfolge willen die dauernden Interessen der Arbeiterklasse preisgibt.

Diese Interessen gebieten durchaus, dass die polnischen Arbeiter in allen drei Teilungsstaaten mit ihren Klassengenossen ohne jeden Rückhalt Schulter an Schulter kämpfen. Die Zeiten sind vorüber, wo eine bürgerliche Revolution ein freies Polen schaffen konnte; heute ist die Wiedergeburt Polens nur möglich durch die soziale Revolution, in der das moderne Proletariat seine Ketten bricht."4

Wir unterschreiben diese Schlussfolgerung Mehrings Wort für Wort. Wir wollen nur bemerken, dass sie auch dann einwandfrei bleibt, wenn wir in unseren Behauptungen nicht so weit gehen wie Mehring. Zweifellos steht heute die polnische Frage wesentlich anders als vor fünfzig Jahren. Man darf jedoch die gegenwärtige Lage nicht als ewig betrachten. Zweifellos hat der Klassengegensatz die nationalen Fragen jetzt weit in den Hintergrund gedrängt, doch darf man nicht, ohne Gefahr zu laufen, in Doktrinarismus zu verfallen, entschieden behaupten, es sei unmöglich, dass diese oder jene nationale Frage vorübergehend in den Vordergrund des politischen Geschehens tritt. Zweifellos ist die Wiederherstellung Polens vor dem Sturze des Kapitalismus äußerst unwahrscheinlich, aber man kann nicht sagen, dass sie ganz unmöglich sei, dass sich die polnische Bourgeoisie unter bestimmten Umständen nicht auch auf die Seite der Unabhängigkeit stellen könne usw. Die russische Sozialdemokratie bindet sich in keiner Weise die Hände. Sie rechnet mit allen möglichen und sogar mit allen überhaupt denkbaren Umständen, wenn sie in ihrem Programm die Forderung der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker aufstellt. Dieses Programm schließt keineswegs aus, dass das polnische Proletariat die freie und unabhängige polnische Republik zu seiner Losung macht, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit ihrer Verwirklichung vor dem Sozialismus ganz gering sein sollte. Dieses Programm fordert nur, dass eine wirklich sozialistische Partei das proletarische Klassenbewusstsein nicht trübe, den Klassenkampf nicht verdunkele, die Arbeiterklasse nicht durch bürgerlich-demokratische Redensarten betöre und die Einheit des politischen Kampfes des Proletariats nicht zerstöre. Und gerade in dieser Bedingung, unter der allein wir die Selbstbestimmung anerkennen, ist alles Wesentliche enthalten. Vergeblich sucht die PPS die Sache so darzustellen, als trenne sie von den russischen und den deutschen Sozialdemokraten deren Ablehnung des Selbstbestimmungsrechtes, des Rechtes, eine freie und unabhängige Republik anzustreben. Nicht das, sondern das Vergessen des Klassenstandpunktes, sein Verdunkeln durch Chauvinismus, das Zerstören der Einheit im gegebenen politischen Kampf, – das ist es, was uns hindert, in der PPS eine wirkliche sozialdemokratische Arbeiterpartei zu sehen. Hier ein Beispiel, wie die PPS die Frage gewöhnlich stellt: … „wir können den Zarismus nur schwächen, indem wir Polen losreißen; stürzen müssen ihn die russischen Genossen." Oder weiter: … „nach der Vernichtung des Selbstherrschertums würden wir unser Schicksal einfach so bestimmen, dass wir uns von Russland trennten." Man beachte, zu welch ungeheuerlichen Schlüssen diese ungeheuerliche Logik selbst vom Standpunkt der Programmforderung der Wiederherstellung Polens führt. Weil die Wiederherstellung Polens eine mögliche (aber unter der Herrschaft der Bourgeoisie durchaus nicht gesicherte) Folge der demokratischen Entwicklung darstellt, darum darf das polnische Proletariat nicht gemeinsam mit dem russischen für den Sturz des Zarismus kämpfen, sondern „nur" für dessen Schwächung durch die Losreißung Polens. Weil der russische Zarismus ein immer engeres Bündnis mit der Bourgeoisie und den Regierungen Deutschlands, Österreichs usw. schließt, darum muss das polnische Proletariat sein Bündnis mit dem russischen, deutschen und übrigen Proletariat schwächen, mit dem es heute gegen ein und dasselbe Joch kämpft. Das bedeutet nichts anderes als den Verzicht auf die Lebensinteressen des Proletariats zugunsten der bürgerlich-demokratischen Auffassung der nationalen Unabhängigkeit. Der Zerfall Russlands, den die PPS zum Unterschied von unserem auf den Sturz des Selbstherrschertums gerichteten Ziel anstreben will, ist und bleibt ein leeres Wort, solange die wirtschaftliche Entwicklung die verschiedenen Teile eines politischen Ganzen immer enger zusammen schmiedet, solange sich die Bourgeoisie aller Länder immer einmütiger gegen ihren gemeinsamen Verbündeten, den Zaren, zusammenschließt. Dafür aber ist der Zerfall der Kräfte des Proletariats, das unter dem Joche dieses Selbstherrschertums leidet, eine traurige Wirklichkeit, das unmittelbare Ergebnis des Fehlers der PPS, das unmittelbare Ergebnis ihrer Anbetung der bürgerlich-demokratischen Formeln. Um die Augen vor diesem Zerfall des Proletariats zu verschließen, muss sich die PPS zum Chauvinismus erniedrigen und z. B. die Auffassung der russischen Sozialdemokraten folgendermaßen darstellen: „wir (Polen) sollen auf die soziale Revolution warten und bis dahin das nationale Joch geduldig ertragen." Das ist einfach nicht wahr. Die russischen Sozialdemokraten haben nicht nur nie etwas derartiges geraten, sondern im Gegenteil, sie selber kämpfen gegen jede nationale Unterdrückung in Russland und fordern das gesamte russische Proletariat auf, dasselbe zu tun; sie nehmen nicht nur die vollständige Gleichberechtigung der Sprache, der Nationalität usw. in ihr Programm auf, sondern auch die Anerkennung des Rechtes jeder Nation, ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Wenn wir, dieses Recht anerkennend, unsere Unterstützung der Forderungen nach nationaler Unabhängigkeit den Erfordernissen des proletarischen Kampfes unterordnen, so kann nur ein Chauvinist unsere Stellung aus dem Misstrauen des Russen gegenüber dem „Fremdstämmigen" erklären, denn in Wirklichkeit muss unsere Stellung unbedingt dem Misstrauen des klassenbewussten Proletariers gegen die Bourgeoisie entspringen. Die PPS ist der Ansicht, die nationale Frage erschöpfe sich in dem Gegensatz: „wir" (die Polen) und „sie" (die Deutschen, Russen usw.). Der Sozialdemokrat dagegen stellt einen andern Gegensatz in den Vordergrund: „wir" – die Proletarier, und „sie" – die Bourgeoisie. „Wir", die Proletarier, haben oft und oft gesehen, wie die Bourgeoisie Freiheit, Vaterland, Sprache und Nation verrät, wenn das revolutionäre Proletariat ihr entgegentritt. Wir haben gesehen, wie sich die französische Bourgeoisie im Augenblick der schwersten Unterjochung und Erniedrigung des französischen Volkes an die Preußen auslieferte, wie die Regierung der nationalen Verteidigung zur Regierung des Volksverrates wurde, wie die Bourgeoisie der unterdrückten Nation die Soldaten der unterdrückenden Nation zu Hilfe rief, um die Proletarier des eigenen Vaterlandes niederzuwerfen, die gewagt hatten, die Hand nach der Macht auszustrecken. Und darum werden wir, ohne uns auch nur im Geringsten durch chauvinistische und opportunistische Ausfälle beirren zu lassen, dem polnischen Arbeiter stets sagen: nur das vollständigste und engste Bündnis mit dem russischen Proletariat ist imstande, den Forderungen des politischen Tageskampfes gegen das Selbstherrschertum gerecht zu werden, nur ein solches Bündnis gibt die Gewähr für eine völlige politische und wirtschaftliche Befreiung.

Das, was wir über die polnische Frage gesagt haben, lässt sich Wort für Wort auch auf jede andere nationale Frage anwenden. Die fluchwürdige Geschichte des Selbstherrschertums hat uns eine furchtbare Entfremdung der Arbeiterklassen der von ihm unterdrückten verschiedenen Völkerschaften als Erbe hinterlassen. Diese Entfremdung ist das größte Übel, das größte Hindernis im Kampfe gegen das Selbstherrschertum, und wir dürfen dieses Übel nicht anerkennen, wir dürfen ihm nicht die Weihe geben durch irgendwelche „Prinzipien" der getrennten Parteien oder der Partei-„Föderation". Es ist natürlich einfacher und leichter, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen und jeden sich in seinem Winkel einrichten zu lassen nach der Regel: „Mein Haus ist meine Burg", wie es jetzt auch der „Bund" beabsichtigt. Je mehr wir die Notwendigkeit der Einheit erkennen, je fester wir von der Unmöglichkeit eines gemeinsamen Ansturms auf das Selbstherrschertum ohne vollständige Einheit überzeugt sind, desto dringender wird in unseren politischen Verhältnissen die Notwendigkeit einer zentralistischen Organisation des Kampfes – desto weniger sind wir geneigt, uns mit einer „einfachen", aber nur scheinbaren und ihrem Wesen nach grundfalschen Lösung der Frage zufriedenzugeben. Wenn die Schädlichkeit dieser Entfremdung nicht erkannt wird, wenn der Wunsch nicht vorhanden ist, im Lager der proletarischen Partei um jeden Preis und radikal mit ihr aufzuräumen, – dann sind auch die Feigenblätter der „Föderation" nicht notwendig, dann ist es auch überflüssig, an die Lösung einer Frage heranzugehen, die die eine Seite im Grunde gar nicht lösen will, dann überlässt man es besser den Lehren der lebendigen Erfahrung und der wirklichen Bewegung, die vom Selbstherrschertum unterdrückten Proletarier aller Nationalitäten zu überzeugen von der Notwendigkeit des Zentralismus zum erfolgreichen Kampf gegen dieses Selbstherrschertum und gegen die internationale, sich immer enger zusammenschließende Bourgeoisie.

1 Die Morgenröte. Die Red.

2 „Das Ende Polens?" Die Red.

* Von uns gesperrt.

3 Ein Zitat aus dem Artikel K. Kautskys „Finis Poloniae?" („Das Ende Polens?"), veröffentlicht in der „Neuen Zeit", XIV. Jahrgang, 1895/96, II. Bd., Nr. 42/43.

4 Zitat aus der zusammen mit R. Luxemburg von F. Mehring geschriebenen Einleitung zum 3. Band des von ihm herausgegebenen „Nachlass von Karl Marx und Friedrich Engels. 1841 bis 1850". Stuttgart 1902. Verlag J. H. W. Dietz.

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