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Wladimir I. Lenin 19031029 Eine nicht eingereichte Erklärung

Wladimir I. Lenin: Eine nicht eingereichte Erklärung1

[Zum ersten Mal veröffentlicht im Jahre 1928 im „Leninskij Sbornik" Nr. 7. Nach Sämtliche Werke, Band 6, Wien-Berlin 1930, S. 128-132]

29. Oktober 1903

Genossen! Ich bin gestern (am 28. Oktober) von der Kongresssitzung weggegangen, weil es zu widerwärtig war, dem Wühlen in schmutzigem Klatsch, in Gerüchten und Privatgesprächen beizuwohnen, das Martow unternahm und mit hysterischem Gekreisch, unter dem Jubel aller Liebhaber von Skandalgeschichten, durchführte. Als wollte er sich über sich selber lustig machen, hat derselbe Martow vorgestern sehr beredt davon gesprochen, wie unanständig es sei, sich auf Privatgespräche zu berufen, die nicht nachgeprüft werden können und die die Frage hervorrufen, wer von den am Gespräch Beteiligten gelogen hat. Eben diese Unanständigkeit hat Martow an den Tag gelegt, der mich gestern hysterisch darüber verhörte, wer bei der Darstellung des berühmten Privatgespräches über das berühmte Dreierkollegium gelogen habe, ich oder er.

Diese Methode, durch eine solche Fragestellung: wer hat gelogen? einen Skandal hervorzurufen, ist nur würdig entweder eines Raufboldes, der eine billige Gelegenheit zur Rauferei sucht, oder eines hysterisch erregten Menschen, der unfähig ist, die Sinnlosigkeit seines Verhaltens abzuwägen. Wenn aber ein politischer Führer, dem bestimmte politische Fehler vorgeworfen werden, eine solche Methode anwendet, so bezeugt das untrüglich, dass keine andere Verteidigungsmittel vorhanden sind, dass die politischen Meinungsverschiedenheiten von ihm kläglicherweise ins Gebiet des Gezänks und Klatsches verlegt werden.

Es fragt sich nun, welche Verteidigungsmittel überhaupt angewandt werden können gegen diese Methode aller Raufbolde und Skandalmacher, auf Grund von Privatgesprächen Anschuldigungen zu erheben, die nicht zu beweisen sind. Ich spreche von Anschuldigungen, „die nicht zu beweisen sind", denn nichtprotokollierte Privatunterhaltungen schließen ihrem ganzen Wesen nach jede Möglichkeit einer Beweisführung aus, und Anschuldigungen, die auf Grund solcher Privatgespräche erhoben werden, führen zur bloßen Wiederholung und Abwandlung des Wortes „Lüge". Martow hat es gestern in der Kunst solcher Wiederholungen bis zu einer wahren Virtuosität gebracht, und ich will seinem Beispiel nicht folgen.

Ich habe bereits in meiner gestrigen Erklärung auf eine Methode der Verteidigung hingewiesen und ich bestehe entschieden auf ihr. Ich schlage meinem Gegner vor, sofort alle seine Anklagen gegen mich, die er in seiner Rede in Form von endlosen und zahllosen dunklen Andeutungen, ich hätte gelogen, intrigiert usw. usw., ausgestreut hat, in einer besonderen Broschüre niederzulegen. Ich verlange, dass mein Gegner mit seiner Unterschrift vor der gesamten Partei auftritt, denn er hat auf mich, der ich Mitglied der Redaktion des Zentralorgans der Partei bin, einen Schatten geworfen, denn er hat davon gesprochen, dass es für gewisse Leute unmöglich sei, verantwortliche Stellen in der Partei zu bekleiden. Ich verpflichte mich, alle Anschuldigungen meines Gegners zu veröffentlichen, denn gerade die offene Auseinandersetzung über das Gezänk und Geklatsch wird, das weiß ich sehr gut, meine beste Verteidigung vor der Partei sein. Ich wiederhole, dass der Gegner, wenn er meiner Herausforderung aus dem Wege geht, damit beweisen wird, dass seine Anschuldigungen nur dunkle Insinuationen sind, die entweder den Verleumdungen eines Lumpen oder der hysterischen Unzurechnungsfähigkeit eines gestrauchelten Politikers entstammen.

Ich habe übrigens noch ein indirektes Verteidigungsmittel. Ich habe in meiner gestrigen Erklärung gesagt, dass Martow das Privatgespräch en question2 ganz falsch wiedergegeben hat. Ich will damit nicht von neuem anfangen, eben wegen der Hoffnungslosigkeit und Zwecklosigkeit von Behauptungen, die nicht zu beweisen sind. Mag sich aber jeder in das „Dokument" hineindenken, das ich gestern Martow gab und das er auf dem Kongress verlesen hat. Dieses Dokument ist das Programm des Parteitages und mein Kommentar dazu, -– ein Kommentar, den ich nach dem „Privatgespräch" geschrieben habe, den ich an Martow schickte, und den er mit Korrekturen zurückgeschickt hat.

Dieses Dokument ist zweifellos die Quintessenz unseres Gesprächs, und es genügt mir, seinen genauen Text zu prüfen, um den Klatschcharakter der Anschuldigungen Martows aufzuzeigen. Hier der ungekürzte Text:

Punkt 23 (der Tagesordnung des Parteitages). Wahlen des Zentralkomitees und der Redaktion des Zentralorgans der Partei."

Mein Kommentar: „Der Parteitag wählt drei Genossen in die Redaktion des Zentralorgans und drei Genossen in das Zentralkomitee. Diese sechs Genossen zusammen ergänzen, wenn es notwendig ist, auf Beschluss einer Zweidrittelmehrheit die Redaktion des Zentralorgans und das Zentralkomitee durch Kooptation und erstatten hierüber dem Parteitag Bericht. Ist dieser Bericht vom Parteitag bestätigt, so erfolgt die weitere Kooptation durch die Redaktion des Zentralorgans und durch das Zentralkomitee getrennt voneinander."

Martow versicherte, dieses System sei ausschließlich um der Erweiterung des Redaktions-Sechserkollegiums willen beschlossen worden. Diesen Behauptungen widersprechen direkt die Worte: „Wenn es notwendig ist." Es ist klar, dass schon damals die Möglichkeit vorausgesehen wurde, dass eine solche Notwendigkeit nicht eintreten wird. Wenn ferner für die Kooptation erforderlich war, dass von sechs Genossen vier ihr Einverständnis geben, so ist es klar, dass die Ergänzung des Bestandes der Redaktion nicht erfolgen könnte ohne das Einverständnis von Nichtredakteuren, ohne das Einverständnis mindestens eines Mitgliedes des Zentralkomitees. Folglich war die Erweiterung der Redaktion durch die Meinung eines Genossen bedingt, über dessen Person damals (einen oder anderthalb Monate vor dem Parteitag) nur ganz unbestimmte Vermutungen möglich waren. Es ist also klar, dass auch Martow damals der Ansicht war, das Redaktions-Sechserkollegium als solches sei eines weiteren selbständigen Bestehens nicht fähig, wenn die entscheidende Stimme in der Frage der Erweiterung des gewählten Dreierkollegiums einem ebenfalls gewählten Nichtredakteur gegeben war. Ohne Hilfe von außen, von außerhalb der Redaktion, hielt auch Martow die Verwandlung der alten „Iskra"-Redaktion in die Redaktion des Zentralorgans der Partei für unmöglich.

Gehen wir weiter. Wenn es sich ausschließlich darum handelte, das Sechserkollegium zu erweitern, warum dann von dem Dreierkollegium reden? Dann würde es doch genügen, die einstimmige Kooptation durch eine Kooptation mit dieser oder jener Mehrheit zu ersetzen. Dann wäre es überhaupt überflüssig, von der Redaktion zu sprechen, es würde genügen, von der Kooptation in Parteikörperschaften im Allgemeinen oder in die zentralen Körperschaften der Partei im Besonderen zu reden. Es ist also klar, dass es sich nicht ausschließlich um die Erweiterung handelte. Es ist auch klar, dass der möglichen Erweiterung nicht ein Mitglied der alten Redaktion im Wege stand, sondern vielleicht zwei oder sogar drei, wenn man es zur Erweiterung des Sechserkollegiums für nützlich anerkannte, das Kollegium zunächst auf drei Mitglieder zu beschränken.

Man vergleiche schließlich die „Ergänzung", die Erweiterung des Bestandes der zentralen Körperschaften nach dem jetzigen, vom Parteitag angenommenen Statut und nach dem ursprünglichen Entwurf, den wir, Martow und ich, im obenerwähnten Kommentar zu Punkt 23 der Tagesordnung festgehalten haben. Im ursprünglichen Entwurf wurde das Einverständnis von vier Mitgliedern gegen zwei verlangt (für die Erweiterung der Redaktion des Zentralorgans und des Zentralkomitees), das jetzige Statut erfordert letzten Endes das Einverständnis von drei gegen zwei, denn jetzt wird die Frage der Kooptation in die zentralen Körperschaften vom Parteirat endgültig entschieden, und wenn zwei Redaktionsmitglieder wünschen, so können sie folglich diese Erweiterung gegen den Willen des dritten durchführen.

So kann es also nicht dem geringsten Zweifel unterliegen (auf Grund des genauen Sinnes eines genau formulierten Dokuments), dass eine Änderung in der Zusammensetzung der Redaktion lange vor dem Parteitag ins Auge gefasst wurde (von mir und Martow, ohne dass irgend jemand von der Redaktion dagegen Einspruch erhob), wobei diese Änderung unabhängig vom Willen und Einverständnis irgendeines Mitglieds und sogar vielleicht von zwei oder drei Mitgliedern des Sechserkollegiums vorgenommen werden sollte. Danach kann man urteilen, welches Gewicht jetzt die kläglichen Worte haben vom nicht formal gebundenen Mandat, das das Sechserkollegium verpflichtet, die Worte von der moralischen Bindung innerhalb des Kollegiums, von der Bedeutung des unerschütterlichen Kollegiums und ähnliche Ausflüchte, die in der Rede Martows in solchem Überfluss vorhanden waren. All diese Ausflüchte widersprechen direkt dem unzweideutigen Text des Kommentars, der eine Erneuerung der Zusammensetzung der Redaktion verlangt, eine Erneuerung mit Hilfe einer ziemlich verwickelten und folglich sorgfältig überlegten Methode.

Noch weniger Zweifel lässt der Kommentar darüber, dass die Änderung in der Zusammensetzung der Redaktion bedingt werden sollte durch das Einverständnis von mindestens zwei vom Parteitag gewählten Genossen aus Russland, Mitgliedern des Zentralkomitees. Es steht also fest, dass sowohl ich als auch Martow die Hoffnung hatten, diese zukünftigen Mitglieder des Zentralkomitees von der Notwendigkeit einer bestimmten Änderung in der Zusammensetzung der Redaktion zu überzeugen. Wir haben also die Frage der Zusammensetzung der Redaktion der Entscheidung noch nicht genau bekannter Zentralkomitee-Mitglieder überlassen. Wir waren also zum Kampf entschlossen, in der Hoffnung, diese Zentralkomitee-Mitglieder für uns zu gewinnen, und wenn jetzt auf dem Parteitag die Mehrheit der einflussreichen Genossen aus Russland sich für mich und nicht für Martow entschieden hat (infolge der zwischen uns entstandenen Meinungsverschiedenheiten), so ist es eine unanständige und klägliche Kampfesweise, wenn Martow seine Niederlage hysterisch beweint und Klatsch und Anwürfe hervorruft, die ihrem Wesen nach unbeweisbar sind.

N. Lenin (W. I. Uljanow)

1 Die „nicht eingereichte Erklärung" (die Überschrift hat Lenin dem Dokument gegeben) sollte in der Sitzung des Liga-Kongresses vom 29. Oktober eingereicht werden, ist aber nicht eingereicht worden.

Das „Privatgespräch", das Martow in seinem Korreferat anführte und das Lenin auf S. 129 des vorliegendes Bandes erwähnt, hatte kurz vor dem Parteitag zwischen Lenin, Martow und Starowjer (Potressow) stattgefunden. In den Protokollen des Ligakongresses hat diese Stelle aus Martows Korreferat, die das Privatgespräch wiedergibt, folgenden Wortlaut: „Lenin schlug mir und Starowjer vor, die Redaktion auf dem Parteitag so zu wählen, wie es in seiner Anmerkung zum ordre du jour (Tagesordnung. Die Red.) angegeben ist, die ich gestern hier verlesen habe: es werden drei Redakteure gewählt, und diese wählen zusammen mit drei Mitgliedern des Zentralkomitees endgültig diese beiden Kollegien, wobei die Entscheidungen mit Zweidrittelmehrheit zu treffen sind (siehe S. 130 des vorliegenden Bandes. Die Red.). Das ist uns als Mittel vorgeschlagen worden, um, оhne nflikte hervоrzurufen, die Hindernisse für die Erweiterung des Kollegiums auf 7 Mitglieder zu umgehen, die durch die inneren Reibungen im Kollegium geschaffen wurden. (Lenin: Das ist nicht wahr! Das ist ungenau!) Nicht als Mittel, um die Reibungen zu beseitigen? (Lenin: Das ist falsch!). Im Entwurf ist hinzugefügt – ,wenn es notwendig ist', wenn aber Leute in einer bestimmten Zusammensetzung drei Jahre zusammen gearbeitet haben, so haben sie, solange irgendwer nicht offen erklärt hat, dass er die alte Zusammensetzung nicht für notwendig hält, kein Recht, das Ziel dieser Worte zu verdächtigen, wenn diese Leute nicht den Verdacht haben, dass hier eine Falle gelegt ist."

Wie aus den Protokollen hervorgeht, hat Lenin gleich während der Rede Martows auf die falsche und ungenaue Wiedergabe des „Privatgesprächs" der drei Redaktionsmitglieder durch Martow hingewiesen; nach der Rede Martows hat er dann noch einmal in schriftlicher Form bestätigt, dass „Martow das Privatgespräch vollkommen falsch ausgelegt habe" (Liga-Protokolle).

2 das in Frage steht. Die Red.

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