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Wladimir I. Lenin 19030128 Mitteilung über die Bildung des „Organisationskomitees"

Wladimir I. Lenin: Mitteilung über die Bildung des „Organisationskomitees"

[„Iskra" Nr. 32 15. Januar 1903 Nach Sämtliche Werke, Band 5, Wien-Berlin 1930, S. 320-323]

Vor vier Jahren haben sich mehrere russische sozialdemokratische Organisationen zu der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands" zusammengeschlossen, sie haben einen gewissen Organisationsplan und die allgemeinen Grundsätze für ihre Tätigkeit ausgearbeitet, die in dem von der Partei herausgegebenen „Manifest" dargelegt sind. Leider war dieser erste Versuch nicht von Erfolg gekrönt: die notwendigen Voraussetzungen zur Bildung einer einheitlichen, starken sozialdemokratischen Partei, die unbeirrt für die Befreiung des Proletariats von jeder Art Ausbeutung und Unterdrückung kämpft, waren noch nicht gegeben. Einerseits waren die Formen der praktischen Tätigkeit der russischen Sozialdemokratie selber erst noch im Werden begriffen; die Sozialdemokratie, die erst vor kurzem den Weg des Kampfes betreten hatte, suchte noch nach Wegen für die beste Durchführung ihrer theoretischen Ansichten, sie bewegte sich noch mit schüchternen, unsicheren Schritten. Die ihrer Tätigkeit zugrunde liegende Arbeiterbewegung, die in gewaltigen Streiks ihren Ausdruck gefunden hatte, war eben erst mit jenem hellen Glanz zum Ausbruch gekommen, der vielen die Augen blendete, ihnen die so klaren und bestimmten Aufgaben und Ziele der revolutionären Sozialdemokratie verdunkelte und die Begeisterung für den eng gewerkschaftlichen Kampf aufzwang. Andererseits machten die unaufhörlichen Unterdrückungsmaßnahmen der Regierung gegen die noch nicht erstarkten und noch nicht genügend fest verwurzelten sozialdemokratischen Organisationen jede Stetigkeit, jede Tradition in der Tätigkeit zunichte.

Dennoch ist dieser missglückte Versuch nicht spurlos vorübergegangen. Der Gedanke einer organisierten politischen Partei des Proletariats, der unsere Vorgänger geleitet hatte, ist seither zum Leitstern und zum ersehnten Ziel aller klassenbewussten sozialdemokratischen Führer geworden. Im Verlauf dieser vier Jahre wurden mehrfach Versuche unternommen, diese uns von den ersten sozialdemokratischen Führern als Vermächtnis hinterlassene Idee zu verwirklichen. Aber wir stehen heute noch ebenso desorganisiert da, wie vor vier Jahren.

Indessen stellt das Leben immer höhere Ansprüche an uns. Wenn sich die ersten Führer der Partei die Erweckung der in den Arbeitermassen schlummernden revolutionären Kräfte zur Aufgabe gestellt hatten, so stehen wir vor der viel verwickelteren Aufgabe, den erwachenden Kräften die notwendige Richtung zu geben, uns an ihre Spitze zu stellen und sie zu leiten. Wir müssen bereit sein, wenn nicht heute, so morgen den Ruf zu vernehmen: „Führt uns, wohin ihr uns gerufen habt!" und wehe, wenn uns dieser Augenblick überraschend kommt, wenn er uns so zersplittert, so unvorbereitet, wie wir es in diesem Augenblick sind, antrifft. Man soll uns nicht sagen, dass wir den Ernst der Lage übertreiben. Wer fähig ist, mehr als die Oberfläche zu sehen, wer fähig ist, zu erkennen, was in der Tiefe vor sich geht, der wird uns nicht der Übertreibung beschuldigen.

Aber der Ernst der Lage wird noch durch andere Umstände erhöht. Wir erleben einen bedeutsamen geschichtlichen Augenblick. Das Erwachen der Arbeiterklasse im Zusammenhang mit dem allgemeinen Verlauf des russischen Lebens hat auf verschiedene Gesellschaftsschichten erweckend gewirkt. Mehr oder weniger bewusst sind sie bestrebt, sich zu organisieren, um so oder anders am Kampf gegen die überlebte Ordnung teilzunehmen. Willkommen! Die Sozialdemokratie muss jeden begrüßen, der sich diesem Kampfe anschließt. Aber sie muss scharf aufpassen, dass solche Verbündete sie nicht zum Hammer in ihren Händen machen, sie nicht von ihrem Haupttätigkeitsfeld verdrängen, ihr nicht die führende Rolle im Kampf gegen den Absolutismus entwinden und vor allem den revolutionären Kampf nicht hemmen und vom richtigen Weg ablenken. Dass diese Gefahr kein Schreckbild ist, begreift jeder, der den revolutionären Kampf der letzten Jahre aufmerksam verfolgt hat.

Die russische Sozialdemokratie steht also gegenwärtig vor einer gewaltigen Aufgabe, die die Kräfte der örtlichen Komitees und sogar der Bezirksorganisationen bei weitem übersteigt. Mögen die örtlichen Organisationen noch so vollkommen sein, sie werden trotzdem mit dieser Aufgabe nicht fertig werden können, denn sie ist bereits über den örtlichen Rahmen hinausgewachsen. Sie kann nur mit den gemeinsamen Kräften aller zu einer einzigen zentralisierten und disziplinierten Armee zusammengeschlossenen russischen Sozialdemokraten bewältigt werden. Wer aber soll den ersten Schritt zu diesem Zusammenschluss tun?

Diese Frage wurde im vergangenen Jahr erörtert, und zwar in einer Konferenz der Vertreter des Petersburger Kampfbundes, des Zentralkomitees der vereinigten Komitees und Organisationen des Südens, der „Iskra"-Organisation, der Zentralkomitees des (russischen und des ausländischen) „Bund", des Auslandsbundes der russischen Sozialdemokraten und verschiedener anderer Organisationen. Die Konferenz beauftragte die Vertreter mehrerer Organisationen, ein Organisationskomitee zu bilden, das die Aufgabe des tatsächlichen Wiederaufbaus der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands auf sich nehmen sollte.

Zur Durchführung dieses Beschlusses haben die Vertreter des Petersburger Kampfbundes, der „Iskra"-Organisation und der Gruppe des „Juschny Rabotschi"* das „Organisationskomitee" gebildet, das sich zur ersten und wichtigsten Aufgabe die Schaffung der Bedingungen für die Einberufung eines Parteitages stellt.

Da aber die Einberufung des Parteitages sehr schwierig ist und viel Zeit erfordert, übernimmt das Organisationskomitee bis zur Wiederherstellung der einheitlichen Parteiorganisation einige allgemeine Aufgaben (die Herausgabe von Flugblättern für ganz Russland, den allgemeinen Transport und die technischen Angelegenheiten, die Herstellung von Verbindungen unter den Komitees usw.).

Ej versteht sich von selbst, dass das Organisationskomitee, das auf Anregung einzelner Organisationen entstanden ist, nur zu jenen Organisationen in einem bindenden Verhältnis steht, die es entweder bereits bevollmächtigt haben oder ihm noch seine Vollmachten geben werden. Allen übrigen Komitees und Gruppen gegenüber ist es eine Sonderorganisation, die ihnen ihre Dienste anbietet.

Groß und verantwortungsvoll ist die Aufgabe, die das Organisationskomitee zu übernehmen sich entschlossen hat, und wenn das Komitee trotzdem wagt, das zu tun, so nur, weil die Notwendigkeit der Vereinigung zu zwingend ist, weil sich die Zersplitterung zu sehr geltend macht und ein Fortdauern der Zerfahrenheit die allgemeine Sache zu sehr bedroht. Das Organisationskomitee, das jetzt an seine Tätigkeit herangeht, ist der Meinung, dass der Erfolg dieser Tätigkeit in hohem Maße von der Einstellung der sozialdemokratischen Komitees und Organisationen ihm gegenüber abhängig sein wird, und eben an dieser Einstellung wird das Komitee erkennen, inwieweit es den gegenwärtigen Augenblick richtig eingeschätzt hat.

Das Organisationskomitee.

Die Erklärung des neugebildeten Organisationskomitees unserer Partei spricht genügend klar für sich selbst, und es ist nicht notwendig, viel Worte über die große Bedeutung des vollzogenen Schrittes zu verlieren. Die Vereinigung, die Wiederherstellung der Einheit der Partei ist die dringendste, eine sofortige Lösung fordernde Aufgabe der russischen Sozialdemokraten. Diese Aufgabe ist sehr schwierig, denn wir brauchen nicht eine Vereinigung mehrerer kleiner Häuflein von revolutionär gesinnten Intellektuellen, sondern einen Zusammenschluss sämtlicher Führer der Arbeiterbewegung, die eine ganze breite Klasse der Bevölkerung zu selbständigem Leben und zum Kampf erweckt hat. Wir brauchen eine Vereinigung auf der Grundlage einer strengen grundsätzlichen Einmütigkeit, zu der sich alle oder doch die überwiegende Mehrheit der Komitees, Organisationen und Gruppen, der Intellektuellen und der Arbeiter, die in verschiedenen Verhältnissen unter verschiedenen Bedingungen tätig sind und oft auf ganz verschiedenen Wegen zu ihren sozialdemokratischen Überzeugungen gelangt sind, sich bewusst und entschieden durchringen müssen. Eine solche Vereinigung lässt sich nicht nur nicht verordnen, sie kann auch nicht auf einmal, nur durch die Resolutionen der versammelten Delegierten bewerkstelligt werden, es ist vielmehr notwendig, sie planmäßig, Schritt für Schritt vorzubereiten und durchzuführen, so dass der allgemeine Parteitag das schon Getane festigen und verbessern, das Begonnene fortsetzen, eine feste Grundlage für die weitere, umfassendere und tiefer gehende Arbeit legen und in aller Form bestätigen kann. Und wir begrüßen es daher besonders, dass das Organisationskomitee mit weiser Vorsicht und Bescheidenheit an seine Arbeit herantritt. Ohne auf irgendein bindendes Verhältnis zu der Gesamtmasse der russischen Sozialdemokratie Anspruch zu erheben, beschränkt sich das Organisationskomitee darauf, ihnen seine Dienste anzubieten. Mögen alle russischen Sozialdemokraten ohne Ausnahme, die Komitees und Zirkel, die Organisationen und Gruppen, die aktiven Genossen und die zeitweilig Ausgeschiedenen (Verbannten usw.) sich beeilen, auf diesen Aufruf zu antworten, mögen sie sich bemühen, unmittelbare und lebendige Beziehungen mit dem Organisationskomitee anzuknüpfen, mögen sie aufs Energischste an die aktive Unterstützung der ungeheuer großen Vereinigungsarbeit herangehen. Wir müssen es erreichen, dass es keine einzige Gruppe russischer Sozialdemokraten gibt, die nicht mit dem Organisationskomitee in Verbindung stünde, die nicht in kameradschaftlicher Einmütigkeit mit ihm zusammen arbeitete. Weiter übernimmt das Organisationskomitee, das die Vorbereitung und Einberufung des allgemeinen Parteitages als seine Hauptaufgabe betrachtet, noch einige allgemeine Funktionen, die der gesamten Bewegung dienen. Wir sind überzeugt, dass sich kein Sozialdemokrat finden wird, der nicht die dringende Notwendigkeit dieser Erweiterung des Aufgabenkreises des Organisationskomitees zugibt, denn das ist nur das erweiterte Anbieten seiner Dienste, – ein Anerbieten, das tausendfach geäußerten Anfragen entgegenkommt – ein Vorschlag, nicht auf irgendwelche „Rechte" zu verzichten, sondern nur möglichst rasch in Wirklichkeit die Isolierung zu überwinden und zusammen an die Organisierung einer Reihe gemeinsamег Unternehmungen heranzugehen. Schließlich halten wir auch die entschiedene Erklärung des Organisationskomitees, dass die Einberufung des Parteitages eine höchst verwickelte Sache ist und viel Zeit beansprucht, für durchaus richtig und angebracht. Das heißt natürlich keineswegs, dass die Einberufung des Parteitags verschoben werden soll. Nichts dergleichen. Geht man nur von der Dringlichkeit des Parteitages aus, so muss selbst die Frist von einem Monat als zu lang bezeichnet werden. Wenn wir uns aber unsere Arbeitsbedingungen und die Notwendigkeit einer wirklichen Vertretung der gesamten Bewegung auf dem Parteitag vergegenwärtigen, so wird auch eine fünf- oder zehnmal so lange Frist keinen auch nur einigermaßen erfahrenen Parteiarbeiter missmutig machen.

Wünschen wir also dem Werk der möglichst raschen Verfügung und des Wiederaufbaues der Partei den besten Erfolg, beweisen wir unsere Teilnahme nicht nur in Worten, sondern auch durch die sofortigen Taten aller und jedes einzelnen. Es lebe die russische, es lebe die internationale revolutionäre Sozialdemokratie!

* An den „Bund" war ebenfalls die Aufforderung ergangen, seinen Vertreter in das Organisationskomitee zu entsenden, aber aus uns unbekannten Gründen hat der „Bund" auf diese Einladung nicht geantwortet. Wir hoffen, dass diese Gründe rein zufällige sind und dass der „Bund" nicht zögern wird, seinen Vertreter zu schicken.

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