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Wladimir I. Lenin 19030928 Vorbeigelungen!

Wladimir I. Lenin: Vorbeigelungen!1

[Iskra" Nr. 48, 15. September 1903. Nach Sämtliche Werke, Wien-Berlin 1930, Band 6, S. 72-78]

Nun, und wenn Ihre laut klingenden, redseligen und hochtrabenden Versicherungen schon durch ihren Charakter allein Misstrauen hervorrufen?

Ich möchte sehen, wer es wagt, an meinen Worten zu zweifeln!

Nun, und wenn man trotzdem zweifelt?

Ich wiederhole, ich werde nicht gestatten, dass man an den Worten eines Revolutionärs zweifelt, ich werde vor nichts haltmachen, ich werde bis zu Ende gehen, ich werde entweder eine offene Misstrauenserklärung oder einen offenen Rückzug fordern, ich …

Und wenn Ihre Forderung nach einer offenen Misstrauenserklärung erfüllt wird?

Was heißt das?

Wenn man Ihnen offen und bestimmt sagt, dass man Ihnen nicht glaubt?

Ich werde jeden, der das zu sagen wagt, einen niederträchtigen Verleumder nennen, ich werde seine beispiellose Handlungsweise vor der ganzen Welt brandmarken …

Wenn man Ihnen aber als Antwort darauf systematisch nachweist, dass Ihr ganzes Verhalten schon längst nicht mehr gestattet, Ihnen Vertrauen entgegenzubringen?

Dann werde ich überall Proteste gegen diese brudermörderische Polemik sammeln, ich werde mich an alle mit gefühlvollen Worten wenden, ich werde ihnen von Wahrheit und Gerechtigkeit sprechen, von der durch unsaubere Hände beschmutzten kristallenen Reinheit, von der groben, schmutzigen, kleinlichen Eigenliebe, von der läuternden Flamme, die meine Seele mit grenzenlosem Enthusiasmus erfüllt, ich werde meine Feinde mit Pontius Pilatus vergleichen …

Und wenn man Sie auf diese Reden hin mit Tartuffe vergleicht?

Dann werde ich ein Schiedsgericht fordern!

Man wird Ihnen ohne weiteres antworten, dass man Ihre Herausforderung mit Vergnügen annimmt, und man wird vor allem vorschlagen, sich darüber zu verständigen, dass das Gericht die Frage untersuche, ob Ihr Gegner berechtigt war, an der Glaubwürdigkeit Ihrer Erklärungen zu zweifeln.

Dann … dann … dann werde ich erklären, dass es „nach all dem, was geschehen ist, lächerlich sei, von irgendeiner „Verständigung" irgendwelcher „Parteien" zu reden!

So sah die, nach dem Ausdruck der „Rewoluzionnaja Rossija", „beispiellose Kampagne anlässlich des Attentats vom 2. April" aus. Die ehrenwerte Zeitung will aus sehr begreiflichen Gründen nicht zugeben, dass die Geschichte sich wirklich so verhalten hat. Die ehrenwerte Zeitung verbirgt sich hinter einer ganzen Reihe von Ausflüchten, die wir genauer betrachten müssen.

Rewoluzionnaja Rossija" ist erstaunt, erstens, weil „an Stelle der organisierten russischen Sozialdemokratie", an die sich die Genossen Balmaschows gewandt haben, die Redaktion der „Iskra" antwortet. Die Genossen Balmaschows – sagt man uns – „hätten auf ihren ganz bestimmten Vorschlag, der an eine ganz bestimmte Adresse gerichtet war, keine Antwort erhalten".

Das stimmt nicht, ihr Herren. Ihr wisst ebenso gut wie jeder andere, was die organisierte russische Sozialdemokratie darstellt, welcher Art alle unsere Organisationen sind. Über Nacht entstehen bei uns keine Organisationen, wie das bei manchen anderen Leuten der Fall ist. Wir haben die Parteikomitees, die „Iskra" und das Organisationskomitee, das seit langem den 2. Parteitag vorbereitet. An welche „bestimmte Adresse" habt ihr euch denn gewandt? An die Adresse des 2. Parteitages? An die Adresse des Organisationskomitees? Nein, entgegen euren Worten von der bestimmten Adresse habt ihr diese Adresse in keiner Weise bestimmt. Ihr habt selber festgestellt, dass die „Iskra" von der Mehrheit der Komitees anerkannt ist, und darum konnte euch niemand anders antworten als die „Iskra". Erkennt der 2. Parteitag unserer Partei die „Iskra" als Parteiorgan an, so wird die Antwort der „Iskra" als Antwort der Partei gelten. Tut er es nicht, – so werdet ihr es mit einem anderen Organ zu tun haben. Das ist eine so einfache Angelegenheit, dass jedes sechsjährige Kind sie verstehen müsste.

Rewoluzionnaja Rossija" ist „erstaunt, warum man an Stelle einer offenen Antwort auf den offenen Vorschlag der Genossen Balmaschows" (ein Vorschlag, der der Sozialdemokratie angeblich die Möglichkeit geben sollte, das wirkliche Wesen der Tat vom 2. April kennenzulernen) „vorschlägt, sie sollten sich und die ,Iskra' als zwei Parteien betrachten, zwischen denen, nach all dem, was geschehen ist, irgendwelche Vorbesprechungen, irgendeine Verständigung über die ,Stellung der Frage' möglich sein sollen". „Rewoluzionnaja Rossija" behauptet also jetzt, man habe uns nicht ein Schiedsgericht vorgeschlagen, sondern nur die Möglichkeit geben wollen, „kennenzulernen". Das stimmt nicht. Die „Erklärung" in Nr. 27 der „Rewoluzionnaja Rossija" spricht wörtlich von einer „nicht nachgeprüften Beschuldigung (der „Iskra") der Verleumdung", von der Nachprüfung dieser Anklage, sie spricht davon, dass man „einem Menschen, auf dessen Gewissenhaftigkeit und konspirative Zuverlässigkeit sowohl wir als auch das Zentralorgan (man höre) der russischen Sozialdemokratie uns verlassen können", die entsprechenden Beweise zur Verfügung stellen solle. Die „Nachprüfung der Anklage", die „Untersuchung der Beweise" durch einen Menschen, dem Ankläger und Angeklagter gleichermaßen vertrauen können, – ist das kein Schiedsgericht? Ist das nur ein Vorschlag, „kennenzulernen"? Ihr scherzt, Herrschaften! Nachdem ihr bereits vorgeschlagen habt, dass man sich über die Wahl eines vertrauenswürdigen Menschen einig werden soll, erklärt ihr jetzt mit der unnachahmlich stolzen Miene der ertappten Nosdrew, Verständigungen irgendwelcher Art seien unmöglich!

Rewoluzionnaja Rossija" fragt weiter, „über wen die ,Iskra' sich lustig macht, wenn sie von einer Verständigung über die Stellung der Frage spricht, gleichzeitig aber ihre eigene Stellung dekretiert und entschieden erklärt, eine andere Stellung der Frage sei ausgeschlossen". Vor Gericht spricht jeder seine Ansicht entschieden aus und erklärt, sie sei die einzig richtige. Anstatt nun aber seine eigene bestimmte Stellung der Frage klarzulegen, fängt unser stolzer Gegner an, wichtig zu tun und edelmütige Worte zu reden!

Nachdem sich die „Rewoluzionnaja Rossija" eine Zeitlang gesträubt hat, geruht sie, einige Bemerkungen auch über unsere Stellung der Frage zu machen. Ihrer Meinung nach nimmt die „Iskra" zu Winkelzügen Zuflucht und tritt den Rückzug an. Es handle sich nämlich gar nicht darum, „dass die Kampforganisation einen Anschlag unternommen habe auf das Recht der ,Iskra', frei zu denken (!), verschiedene politische Handlungen von ihrem Standpunkt aus zu beurteilen und sogar (sic!) innerlich an allem möglichen zu zweifeln". Dieses „innerlich zu zweifeln" ist wirklich unvergleichlich. Die „Kampforganisation" ist so außerordentlich liberal, dass sie (jetzt, nach einem Kampf, der über ein Jahr dauert) bereit ist, uns zu gestatten, sogar zu zweifeln, – aber nur innerlich, d. h. wahrscheinlich so, dass niemand außer dem Zweifelnden selbst, davon erfährt… Vielleicht gestatten uns diese kampffreudigen Männer, nur im Stillen „frei zu urteilen"?

Man könnte meinen", sagt „Rewoluzionnaja", „nur die Weigerung der ,Iskra', sich dieser Forderung zu fügen, sei der Anlass zu der Anklage der Verleumdung gewesen." Es folgen Zitate aus dem Artikel „Die Tartuffes der revolutionären Moral" und die Bemerkung „hier ist nicht die Rede von irgendwelchen bescheidenen und unbestimmten Zweifeln, sondern von sehr unbescheidenen und sehr bestimmten Anklagen".

Wir fordern den Leser auf, sich einige allgemein bekannte Tatsachen ins Gedächtnis zu rufen. In Nr. 20 der „Iskra" (vom 1. Mai 1902) geben wir über die Tat Balmaschows unser Urteil ab, ohne eine Ahnung von irgendeiner Kampforganisation zu haben. Diese Kampforganisation schreibt uns einen Brief, in dem sie verlangt, dass wir die Beweggründe für den Entschluss Balmaschows in ihren offiziellen Erklärungen suchen. Wir werfen diesen Brief einer unbekannten Organisation schweigend in den Papierkorb. Der Brief wird in Nr. 7 der „Rewoluzionnaja Rossija" (Juni 1902) veröffentlicht, deren Redaktion schon allein aus Anlass unseres Schweigens ein Geheul anstimmt, wir hätten auf die sittliche Seite der Tat einen Schatten geworfen, wir hätten ihre Bedeutung herabgesetzt usw. Wir antworten mit dem Artikel: „Eine aufgezwungene Polemik" (Nr. 23 der „Iskra" vom 1. August 1902), in dem wir uns über den zürnenden Jupiter lustig machen, unser Urteil über die Tat vom 2. April aufrechterhalten und erklären, die Zugehörigkeit Balmaschows zur „Kampforganisation" sei für uns „mehr als zweifelhaft". Darauf erheben die Herren Sozialrevolutionäre, die von uns so den äußeren Ausdruck unserer inneren Zweifel erlangt haben, ein hysterisches Geschrei über die „beispiellose Handlungsweise" und sprechen ohne weiteres von „Schmutz" und von „Insinuationen" (Nr. 11 der „Rewoluzionnaja Rossija", September 1902).

Das sind in kurzen Umrissen die Hauptmomente unseres literarischen Streites. Jemand, der genau weiß, dass der Gegner seinen Worten schweigendes Misstrauen entgegenbringt, setzt diesem in aller Öffentlichkeit das Messer an die Kehle und fordert entweder eine offene Vertrauenserklärung oder eine Erklärung des Misstrauens, und nachdem ihm das Misstrauen ausgesprochen ist, schlägt er sich an die Brust und klagt urbi et orbi2, welch edelmütiges Wesen er sei und wie schmählich man ihn gekränkt habe. Ist das nicht revolutionäre Klopffechterei? Erinnert ein solches Verhalten nicht an Nosdrew? Hat ein solcher Mensch nicht den Namen Tartuffe verdient?

Woraus schließt „Rewoluzionnaja Rossija", dass wir den Rückzug antreten, wenn wir für den Artikel und für die Artikel über die Tartuffes keine Verantwortung übernehmen wollen? Weil in unserer Stellung die Thesen dieser Artikel nicht enthalten sind? Aber hat man uns denn ein Gericht aus Anlass irgendwelcher bestimmten Artikel vorgeschlagen und nicht wegen des ganzen Verhaltens der „Iskra" zu den Versicherungen der „Sozialrevolutionären Partei"? Wird nicht gleich zu Beginn der Erklärung der Genossen Balmaschows in Nr. 27 der „Rewoluzionnaja Rossija" gerade der Ausgangspunkt dieses Streites zitiert, – die Worte aus Nr. 23 der „Iskra", dass die Zugehörigkeit Balmaschows zur „Kampforganisation" für sie mehr als zweifelhaft sei? Wir gestatten uns, der „Rewoluzionnaja Rossija" zu versichern, dass wir für alle unsere Artikel die Verantwortung übernehmen, dass wir bereit sind, unsere Fragen für das Gericht durch Hinweise auf jede beliebige Nummer der „Iskra" zu ergänzen, dass wir bereit sind, vor jedermann den Beweis zu erbringen, dass wir das volle moralische Recht und vernünftige Gründe hatten, jene Publizisten der „Rewoluzionnaja Rossija" als Tartuffes zu bezeichnen, die sich anlässlich unseres vermessenen Zweifels an der Glaubwürdigkeit ihrer Worte bis zu den von uns oben angeführten Ausdrücken verstiegen haben.

Rückzug und Winkelzüge", in der Tat, aber auf wessen Seite? Etwa nicht auf Seiten der Leute, die jetzt großmütig bereit sind, uns das Recht des freien Urteils und der inneren Zweifel zuzugestehen, und die sich über ein Jahr lang mit widerwärtig-hochtrabenden Deklamationen befasst hatten, weil die „Iskra" hartnäckig zu zweifeln fortfuhr und jedem ernsten Menschen die Notwendigkeit, an der revolutionären Belletristik zu zweifeln, nachzuweisen bemüht war? Als sie dann sahen, dass die gefühlvollen Worte über die hohe Ehrbarkeit in Wirklichkeit nur das Lachen und nicht das Schluchzen der Zuhörer hervorriefen3, da wünschten sie eine neue Sensation, und sie traten mit der Forderung des Schiedsgerichtes auf. Das sensationslustige Publikum der Auslandskolonien rieb sich vergnügt die Hände und flüsterte sich lebhaft zu: „Sie haben sie vor das Gericht zitiert… Endlich! Jetzt werden wir sehen!" Und jetzt sahen sie – den letzten Auftritt eines Vaudeville, dessen Held mit der nicht zu beschreibenden gekränkten Miene eines edelmütigen Menschen erklärt, dass „nach all dem, was geschehen ist", keine Verständigung über die Stellung der Frage vor Gericht möglich sei.

Fahrt ruhig in diesem Geiste fort, ihr Herren! Aber merkt euch, dass kein Schwall erbärmlicher Worte uns hindern wird, unsere Pflicht zu erfüllen: das Phrasentum und die Irreführung zu entlarven, wo immer sie auch auftreten, – in den „Programmen" revolutionärer Abenteurer, im Flittergold ihrer Belletristik oder in erhabenen Predigten über die lautere Wahrheit, die läuternde Flamme, die kristallene Reinheit und vieles andere.

1 Der Artikel „Vorbeigelungen!" ist eine Antwort auf die in Nr. 30 der „Rewoluzionnaja Rossija" (vom 20. August 1903) veröffentlichte Notiz „Von der Redaktion", die eins der zahlreichen Dokumente in der Polemik zwischen der „Iskra" und der „Rewoluzionnaja Rossija" über die Tat vom 2. April 1902 (die Tötung des Innenministers Sipjagin durch W. Balmaschow) gewesen ist. Die Polemik ging um die Frage, ob Balmaschow selbständig, aus eigener Initiative gehandelt oder ob er, wie es sich in Wirklichkeit erwies, als Mitglied der Kampforganisation der Sozialrevolutionären Partei und in ihrem Auftrag das terroristische Attentat verübt hat. Die „Iskra" zweifelte an der Zugehörigkeit Balmaschows zur Kampforganisation.

In der „Iskra" hat es eine ganze Anzahl von Artikeln (von Potressow, Martow, Trotzki usw.) gegeben, die dieses Thema behandelten.

2 Vor aller Welt. Die Red.

3 Eine Paraphrasierung der Worte Repetilows aus der Komödie Gribojedows „Verstand schafft Leiden". Repetilow spricht von jemanden, der zwar selber sehr unehrlich ist, aber mit einem solchen Ausdruck von Ehrlichkeit zu sprechen versteht, dass er selber weint und alle Zuhörer mitschluchzen.

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