Wladimir I. Lenin 19040128 Resolutionsentwurf

Wladimir I. Lenin: Resolutionsentwurf

(eingebracht in der Sitzung des Parteirates vom 28. Januar 1904)

[Veröffentlicht im Jahre 1904 in der Broschüre von N. Schachow „Der Kampf um den Parteitag", Genf. Nach Sämtliche Werke, Band 6, Wien-Berlin, S. 182-185]

Angesichts des Charakters und der Erscheinungsformen jenes Zwiespalts zwischen den Parteimitgliedern, der mit dem zweiten ordentlichen Parteitag verknüpft ist, hält der Parteirat es für dringend geboten, alle Mitglieder der Partei zur energischen und einmütigen Zusammenarbeit unter der Führung der beiden zentralen Parteikörperschaften, des Zentralorgans und des Zentralkomitees, aufzurufen.

Der geschichtliche Augenblick, den Russland durchlebt – das ungeheure Anwachsen der revolutionären Gärung innerhalb des Landes und die internationalen Schwierigkeiten, die zu einem Kriege führen können –, legen der Partei des klassenbewussten Proletariats, das für die Befreiung des gesamten Volkes vom Joch der Selbstherrschaft in den ersten Reihen kämpft, besonders ernste Pflichten auf. Die Notwendigkeit einer einmütigen Zusammenarbeit unter der Leitung der beiden zentralen Körperschaften für die Festigung unserer Organisation, für die Entwicklung des Bewusstseins und der Geschlossenheit möglichst breiter Massen der Arbeiterklasse ist nie mit solcher Dringlichkeit in Erscheinung getreten, wie gegenwärtig.

Die einen oder die anderen Meinungsverschiedenheiten über die verschiedensten Fragen hat es stets gegeben und wird es unvermeidlich geben in einer Partei, die sich auf eine gigantische Volksbewegung stützt, die es sich zur Aufgabe macht, die bewusste Trägerin dieser Bewegung zu sein, und jedes Zirkelwesen und eng-sektiererische Auffassungen entschieden ablehnt. Um aber würdige Vertreter des klassenbewussten kämpfenden Proletariats, würdige Mitkämpfer in der internationalen Arbeiterbewegung zu sein, müssen die Mitglieder unserer Partei aus allen Kräften danach streben, dass nicht persönliche Meinungsverschiedenheiten in der Auffassung und in den Methoden der Durchführung der von unserm Parteiprogramm anerkannten Grundsätze die einmütige Zusammenarbeit unter der Leitung unserer zentralen Körperschaften stören, dass sie nicht imstande seien, sie zu stören. Je tiefer und breiter wir unser Programm und die Aufgaben des internationalen Proletariats auffassen, je höher wir die Bedeutung der positiven Arbeit an der Entfaltung der Propaganda, der Agitation und der Organisation einschätzen, je weiter wir entfernt sind vom Sektierertum, vom kleinlichen Zirkelwesen und lokalen Steifigkeiten – mit um so größerer Energie müssen wir zu erreichen suchen, dass die Meinungsverschiedenheiten unter den Parteimitgliedern ruhig und sachlich erörtert werden, dass diese Meinungsverschiedenheiten nicht imstande sind, unsere Arbeit zu stören, unsere Tätigkeit zu desorganisieren, dass sie nicht imstande sind, das richtige Funktionieren unserer zentralen Körperschaften zu hemmen.

Der Parteirat, als höchste Instanz der Partei, verurteilt auf das entschiedenste alle Versuche der Desorganisation, von wem sie auch ausgehen mögen, jedes Fernbleiben von der Arbeit, jede Weigerung, die zentrale Parteikasse materiell zu unterstützen, jeden Boykott, der nur imstande ist, den rein ideologischen Kampf der Anschauungen, der Auffassungen und Schattierungen auf das Niveau von Methoden grob mechanischer Einwirkung, auf das Niveau einer unwürdigen Katzbalgerei herabzudrücken. Die Partei ist der Streitigkeiten, die seit fast einem halben Jahr vor sich gehen, müde, sie fordert dringend Frieden. Keine Meinungsverschiedenheiten unter den Mitgliedern der Partei, keine Unzufriedenheit mit der persönlichen Zusammensetzung der einen oder anderen zentralen Körperschaft können den Boykott und ähnliche Kampfmethoden rechtfertigen, die gerade ein Beweis sind für das Fehlen prinzipieller ideologischer Einstellung, die davon zeugen, dass die Interessen der Partei den Interessen eines Zirkels, die Interessen der Arbeiterbewegung den Kirchturminteressen geopfert werden. Es ist natürlich bei uns vorgekommen – und in einer großen Partei wird es immer vorkommen –, dass die einen oder die anderen Mitglieder mit einer gewissen Schattierung in der Tätigkeit der einen oder der anderen zentralen Parteistelle oder mit einzelnen Zügen ihrer Richtung oder mit ihrer personellen Zusammensetzung unzufrieden sind. Solche Mitglieder können und müssen die Ursachen und das Wesen ihrer Unzufriedenheit in einem kameradschaftlichen Meinungsaustausch und in der Polemik in den Parteipublikationen auseinandersetzen, aber es wäre ganz unerlaubt und eines Revolutionärs unwürdig, seine Unzufriedenheit durch den Boykott zum Ausdruck zu bringen oder durch die Weigerung, die positive Arbeit, die von beiden zentralen Körperschaften der Partei zusammengefasst und geleitet wird, mit allen Kräften zu unterstützen. Die Unterstützung der beiden zentralen Körperschaften, die einmütige Arbeit unter ihrer unmittelbaren Führung, – das ist unsere gemeinsame und unmittelbare Parteipflicht.

Die nicht-ideologischen, grob-mechanischen Kampfmethoden, von denen oben die Rede war, verdienen unbedingte Verurteilung, denn sie können die gesamte Partei, die gänzlich und ausschließlich durch den guten Willen der Revolutionäre zusammengehalten wird, vollkommen zerstören. Der Parteirat erinnert alle Mitglieder der Partei daran, dass dieser gute Wille bereits mit vollständiger Klarheit in unserm gemeinsamen, von niemand angefochtenen Beschluss zum Ausdruck gekommen ist, alle Entschließungen des 2. Parteitags und alle von ihm vorgenommenen Wahlen als bindend für alle Mitglieder der Partei anzuerkennen. Schon das Organisationskomitee, das sich den allgemeinen Dank für seine Tätigkeit zur Einberufung des Parteitags erworben hat, hat in § 18 des Statuts des 2. Parteitags folgenden, von allen Parteikomitees gebilligten Beschluss angenommen.

Alle Beschlüsse des Parteitags und alle von ihm vorgenommenen Wahlen gelten als Parteibeschluss, der für alle Parteiorganisationen bindend ist. Sie können von niemand und unter keinem Vorwand angefochten werden, und nur dem nächsten Parteitag steht es zu, sie aufzuheben oder abzuändern."

Dieser Beschluss, der von der gesamten Partei vor dem Parteitag angenommen und auf dem Parteitag selber mehrfach bestätigt wurde, ist wie ein Ehrenwort, dass sich alle Sozialdemokraten aus freiem Willen gegeben haben. Mögen sie also dieses Ehrenwort nicht vergessen! Mögen sie alle kleinlichen Streitigkeiten schnellstens beiseite werfen und ein für allemal den ideologischen Kampf in einen solchen Rahmen bringen, dass er nicht zur Verletzung des Statuts führt, die praktische Tätigkeit und die positive Arbeit nicht hemmt.

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