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2. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands

Der Zweite Parteitag der SDAPR nimmt in der Geschichte der Partei einen außergewöhnlichen Platz ein, da er für die weitere Entwicklung der Partei von der größten Bedeutung war. Die wichtigsten Aufgaben des 2. Parteitages bestanden darin, die ideologische und organisatorische Wirrnis in den Reihen der russischen Sozialdemokratie zu beenden, mit dem Losgerissensein von den Massen, mit dem Zirkelwesen und der Handwerklerei in der Arbeit der örtlichen Parteiorganisationen und Gruppen Schluss zu machen, alle Kräfte der Partei zusammenzufassen und die Grundlage für eine einheitliche Partei für ganz Russland zu schaffen. Alle diese Aufgaben, deren Lösung durch die Arbeit der „Iskra" seit Dezember 1900 vorbereitet worden war, wurden am klarsten von Lenin in seiner Broschüre „Was tun?“ auseinandergesetzt. Zu Beginn des Jahres 1902 schritten die Redaktion der „Iskra“ und der „Sarja“ an die Ausarbeitung des Entwurfes für ein Parteiprogramm. Der endgültige Entwurf wurde im Sommer 1902 in der „Iskra“ veröffentlicht. Anfang April desselben Jahres wurden von der „Iskra“ die ersten Schritte zur Gründung eines Organisationskomitees zur Einberufung des 2. Parteitages unternommen. Zu derselben Zeit unternahm der Auslandsbund der russischen Sozialdemokraten (die Organisation der Ökonomisten) zusammen mit dem Bund einen zweiten Versuch, diesen Parteitag einzuberufen, nachdem der erste Versuch im Mai 1901 misslungen war. Die Redaktion der „Iskra" nahm an der von diesen beiden Organisationen einberufenen Tagung teil, um sie in eine bloße Vorbereitungskonferenz zu verwandeln. Das gelang vollständig. Die schwach besuchte Tagung, die in Bialystok stattfand, beschloss auf Antrag der Vertreter der „Iskra“, dass sie sich auf die Gründung eines Organisationskomitees zur Einberufung des 2. Parteitages beschränke. Dieser erste Versuch der Bildung eines Organisationskomitees misslang, denn das ganze Komitee wurde bald nach der Tagung verhaftet. Die Bildung des Organisationskomitees gelang erst Ende 1902 auf einer Konferenz in Pskow, die von der Organisation der „Iskra“ einberufen worden war. Von jetzt an begann die Arbeit nicht nur für die Einberufung des 2. Parteitages, sondern auch für den Zusammenschluss der örtlichen Organisationen unter der Führung des Organisationskomitees. Die ganze praktische Arbeit der Vorbereitung des Parteitages lag auf den Schultern der Organisation der „Iskra“ und ihrer „Agenten“ in den einzelnen Orten. Alle Fäden der praktischen und ideellen Führung liefen in der Redaktion der „Iskra“ zusammen, deren tatsächlicher Führer Lenin war. Nach zweieinhalbjähriger ideeller Führung durch die „Iskra“ und praktischer Arbeit durch ihre Organisation wurde vom Organisationskomitee der 2. Parteitag auf den 30. Juli 1903 ins Ausland einberufen. Mit wenigen Ausnahmen war auf diesem Parteitage die volle Vertretung aller aktiv arbeitenden sozialdemokratischen Organisationen in Russland gesichert. Die Mehrheit des Parteitages bestand aus der „iskristischen“, d. h. der revolutionären Richtung der russischen Sozialdemokratie.
Der 2. Parteitag stand am Wendepunkte zweier Epochen der Parteigeschichte und verrichtete die Arbeit der wirklichen Gründung der Partei: er nahm die ideologisch-theoretischen Prinzipien der „Iskra" als allgemein gültige an, beschloss das Programm der Partei, arbeitete das Statut aus und setzte die führenden Organe der Partei ein. Aber der Übergang zur neuen Epoche wird bezeichnet durch eine Krise, durch die Spaltung des Parteitages und dann auch der Partei in zwei Teile. An der Spitze des einen, des größeren Teiles des Parteitages stand die Mehrheit der Organisation der „Iskra“ mit Lenin und Plechanow, die den revolutionären Prinzipien der „Iskra“ für den Aufbau der Partei treu geblieben waren; an der Spitze des anderen, des kleineren Teils des Parteitages stand die Minderheit der früheren Organisation der „Iskra“ mit Martow, Axelrod, Potressow und Vera Sassulitsch an der Spitze, denen der wirkliche Aufbau einer proletarischen Partei mit strenger, klassenmäßiger Auswahl ihres Bestandes, mit ihrem Zentralismus einer Kampforganisation, mit ihrer eisernen proletarischen Disziplin nicht in den Kram passte. Die Minderheit des 2. Parteitages verkörperte auf neuer Grundlage und in neuer Form die opportunistische Strömung in den Reihen der russischen Sozialdemokratie. [Ausgewählte Werke, Band 2]

Der 2. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands fand am 30. (17.) Juli–23. (10.) August 1903 statt. Der Parteitag wurde – vor der belgischen Polizei geheim gehalten – in Brüssel eröffnet. In Brüssel fanden 15 Sitzungen statt, die letzte am 4. August (neuen Stils), dann musste der Parteitag infolge der polizeilichen Verfolgungen nach London verlegt werden, wo er am 11. August seine Arbeiten wieder aufnahm. Im ganzen hat es 37 Sitzungen gegeben. Zum ersten Vorsitzenden wurde Plechanow, zu zweiten Vorsitzenden wurden Lenin und Krassikow gewählt. Der Parteitag bestätigte das Programm und die Statuten der Partei, nahm eine Reihe von Resolutionen zu den wichtigsten Fragen des revolutionären Kampfes an (die Stellung des „Bund" in der Partei, das Verhältnis zu den Liberalen, über die Sozialrevolutionäre, über Demonstrationen, über den Gewerkschaftskampf usw.; siehe die Resolutionen im Anhang zu diesem Band, „Dokumente und Materialien", Nr. 1) und wählte das Zentralkomitee und die Redaktion des Zentralorgans.

In der zweiten Parteitagshälfte vollzog sich innerhalb der „Iskristen" eine Teilung in der Frage der Formulierung des § 1 des Statuts und insbesondere in der Frage der Zusammensetzung der zentralen Körperschaften. Diese Teilung der „Iskristen" hat später die Spaltung des Parteitags in die Leninsche „Mehrheit" und die Martowsche „Minderheit" hervorgerufen.

Insgesamt waren auf dem Parteitag 43 Delegierte mit beschließender Stimme anwesend, die 25 sozialdemokratische Organisationen vertraten (die Gruppe „Befreiung der Arbeit", die „Iskra"-Organisation, das Auslandskomitee des „Bund", das Zentralkomitee des „Bund", die Liga der revolutionären Sozialdemokratie, der Auslandsbund der russischen Sozialdemokraten, die Gruppe „Juschny Rabotschij", die Petersburger Arbeiterorganisation und 18 Komitees und Verbände). Die Delegierten verteilten sich nach folgenden Gruppierungen:

I. 20 Delegierte der „iskristischen Mehrheit" (Lenin-Anhänger) mit 24 Stimmen: Stepanow (Braun), D. Uljanow (Herz), A. Stopani (Lange). L. Knipowitsch (Djedow), Malkin (Orlow), A. Wilenski (Lenski), R. Semljatschka (Ossipow), A. Schotman (Gorski), Andrej (Stepanow), M. Ljadow, W. Gorin-Galkin, P. Krassikow (Pawlowitsch), B. Knunjanz (Russow) 2 Stimmen, A. Surabow (Bekow) 2 Stimmen, Topuridse (Karski), Plechanow, Lenin – 2 Stimmen, S. Gussew, N. Bauman (Sorokin), Pjetuchow (Murawjow).

II. 7 Delegierte der „iskristischen Minderheit" (Martow-Anhänger) mit 9 Stimmen: M. Makadsjub (Panin) 2 Stimmen, Martow 2 Stimmen, Trotzki, W. Mandelberg (Possadowski), L. Deutsch, W. Krochmal (Fomin), S. Sborowski (Kostitsch).

III. 4 Delegierte – Anhänger des „Juschny Rabotschij": W. Rosanow (Popow), J. Lewin (Jegorow), J. Lewina (Iwanow), L. Nikolajew (Medwedjew).

IV. 3 Delegierte-Anhänger des „Rabotscheje Djelo": A. Martynow, W. Machnowez (Akimow), L. Machnowez (Bruker).

V. 5 Delegierte des „Bund": I. Aisenstadt (Judin), W. Kossowski (Hofmann), M. Liber, K. Portnoi (Abramson), W. Medem (Goldblatt).

VI. Die Gruppe des „Sumpf", der Schwankenden, die die Gruppe II unterstützten: D. Kalafati (Machow) 2 Stimmen, L. Zeitlin (Bjelow), A. Lokerman (Zarew), I. Moschinski (Lwow) 2 Stimmen (im ganzen 4 Delegierte mit 6 Stimmen),

Die Gruppen II, III, IV, V und VI stellten den antibolschewistischen (antileninschen) Teil des Parteitags dar (23 Delegierte mit 27 Stimmen) und hatten die Mehrheit; nachdem zwei Delegierte vom „Rabotscheje Djelo" (Martynow und Akimow) und die fünf Delegierten des „Bund" den Parteitag verlassen hatten, wurden sie zur Parteitagsminderheit, die Lenin-Anhänger (Gruppe I) aber zur Mehrheit (20 Delegierte mit 24 Stimmen). (Die hier angeführte Gruppierung stammt von Lenin. Siehe „Leninskij Sbornik" VI, ferner vorliegenden Band, S. 42 u. 43.)

Mit beratender Stimme nahmen am Parteitag teil: P. Axelrod, J. Alexandrowa (Stein), A. Warski, R. Halberstadt (Fischer), J. Hanecki, N. Jordanja (Kostrow), V. Sassulitsch, B. Kolzow-Ginsburg, A. Kremer (Wolf), N. Krupskaja (Sablina), W. Noskow (Glebow), A. Potressow (Starowjer), K. Tachtarew (Strachow) und J. Jakubowa (Jushin). Insgesamt 14 Delegierte.

Eine ausführliche Analyse der Arbeiten des 2. Parteitags ist in Lenins Broschüre „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück" enthalten. Ein umfassendes Material, das den 2. Parteitag und die auf ihn folgende Epoche der Spaltung betrifft, ist im „Leninskij Sbornik" (russisch) VI, VII und X enthalten.

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