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Wladimir I. Lenin 19050600 An die jüdischen Arbeiter

Wladimir I. Lenin: An die jüdischen Arbeiter1

[Geschrieben im Sommer 1905. Zum ersten Mal veröffentlicht in jiddischer Sprache als Vorwort der Broschüre: „Bericht über den 3. Kongress vun der Russlender Sozial-Demokratischer Arbeiter-Partei". Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 29-32]

Anlässlich der Herausgabe des Berichtes vom 3. Parteitag der SDAPR in jüdischer Sprache erachtet es die Redaktion des Zentralorgans der Partei als notwendig, einige Worte zu sagen.

Die Lebensbedingungen des klassenbewussten Proletariats der ganzen Welt verlangen die Herstellung einer möglichst engen Verbindung und einer größeren Einheitlichkeit des planmäßigen sozialdemokratischen Kampfes der Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten. Die große Losung: „Proletarier aller Länder vereinigt euch!" die vor einem halben Jahrhundert zum ersten Mal erscholl, ist jetzt nicht nur zur Losung der sozialdemokratischen Parteien innerhalb der verschiedenen Länder geworden. Diese Losung wird immer mehr lebendige Wirklichkeit, sowohl in der Vereinheitlichung der Taktik der internationalen Sozialdemokratie als auch in der Herstellung der organisatorischen Einheit unter den Proletariern der verschiedenen Nationalitäten, die unter dem Joch ein und desselben despotischen Staates für die Freiheit und den Sozialismus kämpfen.

In Russland befinden sich die Arbeiter aller Nationalitäten unter einem wirtschaftlichen und politischen Joch, wie sonst in keinem anderen Staate, besonders aber jene Arbeiter, die nicht der russischen Nation angehören. Die jüdischen Arbeiter leiden nicht nur unter dem allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Joch, das sie als eine rechtlose Nation niederdrückt, sondern außerdem noch unter einem Joch, das sie der elementaren Bürgerrechte beraubt. Je drückender dieses Joch ist, um so gebieterischer ist die Notwendigkeit einer möglichst engen Vereinigung der Proletarier der verschiedenen Nationalitäten, da ohne diese Vereinigung ein siegreicher Kampf gegen diese Unterdrückung nicht möglich ist. Je eifriger der räuberische zaristische Absolutismus bestrebt ist, Zwietracht, Misstrauen und Feindschaft unter den von ihm unterdrückten Nationalitäten zu säen, je widerwärtiger seine Politik der Aufhetzung der unaufgeklärten Massen zu bestialischen Pogromen ist, um so mehr haben wir Sozialdemokraten die Pflicht, dafür zu wirken, dass sich alle zersplitterten sozialdemokratischen Parteien der verschiedenen Nationalitäten zu einer einheitlichen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands verschmelzen.

Der 1. Parteitag unserer Partei, der im Frühling 1898 stattfand, stellte sich das Ziel, diese Einheit zu verwirklichen. Um jeden Gedanken eines nationalen Charakters der Partei auszuschließen, nannte sie sich nicht „Russisch", sondern „Russländisch"2. Die Organisation der jüdischen Arbeiter – der „Bund" – trat der Partei als autonomer Teil bei. Leider wurde von diesem Augenblick an die einheitliche Zusammenfassung der jüdischen und nichtjüdischen Sozialdemokraten in einer Partei unmöglich gemacht. Unter den Führern des Bund verbreiteten sich nationalistische Ideen, die zu der ganzen Weltanschauung der Sozialdemokratie in krassem Widerspruch stehen. Anstatt die Annäherung der jüdischen Arbeiter an die nichtjüdischen zu erstreben, begann der Bund den Weg ihrer Loslösung von diesen zu beschreiten, indem er auf seinen Kongressen die Sonderstellung der Juden als Nation betonte. Anstatt die Arbeit des 1. Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Russlands in der Richtung einer noch festeren Vereinigung des Bund mit der Partei fortzusetzen, unternahm der Bund Schritte zu einer Lostrennung von der Partei. Zunächst trat der Bund aus der einheitlichen Auslandsorganisation der SDAPR aus und gründete eine selbständige Auslandsorganisation. Und als sich dann der 2. Parteitag unserer Partei im Jahre 1903 mit bedeutender Stimmenmehrheit weigerte, den Bund als einzigen Vertreter des jüdischen Proletariats anzuerkennen, trat der Bund auch aus der SDAPR aus. Er beharrte fest darauf, dass er nicht nur der einzige Vertreter des jüdischen Proletariats sei, sondern dass er außerdem in seiner Tätigkeit in keiner Weise territorial beengt werden dürfe. Es versteht sich, dass der 2. Parteitag der SDAPR solche Bedingungen nicht annehmen konnte, weil in einer ganzen Reihe von Gebieten, z.B. in Südrussland, das organisierte jüdische Proletariat der allgemeinen Parteiorganisation angehört. Ohne darauf Rücksicht zu nehmen, trat der Bund aus der Partei aus und zerstörte so die Einheit des sozialdemokratischen Proletariats, ungeachtet der Arbeit, die auf dem 2. Parteitag gemeinsam geleistet wurde, und trotz des Programms und des Organisationsstatuts der Partei.

Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands hat auf ihrem 2. und 3. Parteitag ihrer unerschütterlichen Überzeugung Ausdruck gegeben, dass dieser Austritt aus der Partei ein schwerer und bedauerlicher Fehler des Bund ist. Dieser Fehler des Bund ist das Resultat seiner prinzipiell unhaltbaren nationalistischen Ansichten, das Resultat des unbegründeten Anspruches auf das Monopol der alleinigen Vertretung des jüdischen Proletariats, aus dem sich unvermeidlich das föderalistische Organisationsprinzip ergibt, und das Resultat der jahrelangen Politik der Trennung und Absonderung von der Partei. Wir sind überzeugt, dass dieser Fehler verbessert werden muss und mit dem weiteren Wachstum der Bewegung unbedingt verbessert werden wird. Wir betrachten uns als ideell einig mit dem jüdischen sozialdemokratischen Proletariat. Unser Zentralkomitee führte nach dem 2. Parteitag keine nationalistische Politik, sondern bemühte sich um die Bildung von solchen Komitees (poljessisches, nordwestliches), die alle Arbeiter eines Ortes, sowohl die jüdischen als auch die nichtjüdischen, in ein Ganzes zusammenfassen. Auf dem 3. Parteitag der SDAPR wurde eine Resolution über die Herausgabe von Literatur in jiddischer Sprache gefasst. Mit der Durchführung dieser Resolution beginnend, drucken wir jetzt in jiddischer Sprache die vollständige Übersetzung des Berichtes vom 3. Parteitag, der russisch bereits erschienen ist. Aus diesem Bericht werden die jüdischen Arbeiter – sowohl jene, die gegenwärtig unserer Partei angehören, als auch jene, die vorübergehend außerhalb derselben stehen – ersehen, wie die Entwicklung unserer Partei vor sich geht. Die jüdischen Arbeiter werden aus diesem Bericht ersehen, dass unsere Partei bereits aus jener inneren Krise herauskommt, unter der sie nach dem 2. Parteitag zu leiden hatte. Sie werden ersehen, welches die tatsächlichen Bestrebungen unserer Partei sind und wie ihr Verhältnis zu den anderen nationalen sozialdemokratischen Parteien und Organisationen ist, ebenso wie das Verhältnis der Gesamtpartei und ihrer Zentralinstanz gegenüber den einzelnen Teilen, aus denen sie besteht. Endlich werden sie daraus ersehen – und das ist das Wichtigste –, welche taktischen Direktiven der 3. Parteitag der SDAPR für die Politik des ganzen klassenbewussten Proletariats im gegebenen revolutionären Zeitpunkt ausgearbeitet hat.

Genossen! Es nähert sich die Zeit des politischen Kampfes gegen den zaristischen Absolutismus, des Kampfes des Proletariats für die Freiheit des proletarischen Strebens zum Sozialismus. Schwere Prüfungen harren unser. Von unserem Klassenbewusstsein und unserer Schulung, von unserer Einigkeit und Entschlossenheit hängt der Ausgang der Revolution in Russland ab. So lasst uns denn kühner und einmütiger an die Arbeit gehen, lasst uns alles, was in unseren Kräften steht, tun, damit die Proletarier der verschiedenen Nationalitäten unter der Führung der wirklich einigen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands der Freiheit entgegengehen!

Die Redaktion des Zentralorgans der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands

1 In der vom 3. Parteitag der SDAPR angenommenen „Resolution über die Propaganda und Agitation" wurde es im letzten Punkt als unumgänglich bezeichnet, dass sich das Zentralkomitee „die Herausgabe propagandistischer und agitatorischer Literatur in jiddischer Sprache und in anderen Sprachen angelegen sein lasse und sich zu diesem Zwecke, wenn notwendig, mit den örtlichen Komitees ins Einvernehmen setze". Bald nach dem 3. Parteitag wurde von Lenin das Vorwort zu der Broschüre geschrieben, die den Bericht und die Resolutionen enthielt. Sie erschien Ende September 1905. Dem Abdruck des Leninschen Vorworts in der russischen Ausgabe des vorliegenden Bandes lag der in der Broschüre enthaltene jiddische Text zugrunde, da das Manuskript Lenins bis jetzt nicht aufgefunden werden konnte. Die deutsche Übersetzung erfolgte aus dieser russischen Übersetzung.

2 „Russkij" = „russisch" im Sinne der russischen Nation; „Rossijskij" = russisch im Sinne des russischen Reiches, also etwa „russländisch". Wir übersetzen daher durchgängig „SDAPR (Russlands)". Die Red.

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