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Wladimir I. Lenin 19050920 Brief an S. I. Gussew

Wladimir I. Lenin: Brief an S. I. Gussew

[Geschrieben am 7./20. September 1905. Zum ersten Mal veröffentlicht 1926 im „Leninski Sbornik", Nr. 5. Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 276 f.]

20. IX. 1905

Lieber Freund! Dank für den Brief Nr. 3. Wir werden vielleicht einen Teil daraus abdrucken. Sie beginnen die Unterhaltung mit der Redaktion nicht nur über formale Fragen (Satzungen, Beziehungen, Adressen usw.), nicht nur über Korrespondententhemas (diese oder jene Ereignisse sind zu verzeichnen), sondern über den Inhalt Ihrer Ansichten, über Ihre Auffassung unserer Taktik, über die Art, wie gerade Sie diese Taktik in Referaten, Versammlungen usw. anwenden. Derartige Unterhaltungen in Russland wirkender Praktiker mit uns sind für uns äußerst wertvoll, und ich bitte Sie dringend, überall und allenthalben zu erklären, zu erinnern, darauf zu dringen, dass, wer das Zentralorgan als sein Zentralorgan betrachten will (und das muss jedes Parteimitglied wollen), sich nicht nur auf formale Meldungen oder Berichte beschränken darf, sondern vor allem mit uns eben sprechen muss nicht für die Presse, sondern um einen Ideenkontakt herzustellen, um mit der Redaktion über die Durchführung seiner Ansichten zu sprechen. Wer diese Rücksprachen als Spielerei betrachtet, der ist dem stumpfsinnigen Praktizismus verfallen, der will die prinzipielle, ideologische Seite unserer ganzen praktischen Arbeit und der ganzen Agitation dem Zufall überlassen, denn ohne einen klaren, durchdachten ideologischen Inhalt artet die Agitation in Phrasentum aus. Und für die Ausarbeitung eines klaren ideologischen Inhalts genügt die Mitarbeit am Zentralorgan allein nicht, da ist noch eine gemeinsame Erörterung darüber notwendig, wie die Praktiker diese oder jene These verstehen, wie sie diese oder jene Ansichten in der Praxis durchführen. Sonst wird die Redaktion des Zentralorgans in der Luft hängen, sie wird nicht wissen, ob ihre Propaganda angenommen wird, ob sie ein Echo findet, wie das Leben sie abändert und welche Korrekturen und Ergänzungen notwendig sind. Sonst werden die Sozialdemokraten auf jene Stufe sinken, wo eben der Schriftsteller schreiben und der Leser lesen wird. Das Bewusstsein des Parteikontaktes ist bei uns noch schwach, man muss es mit Wort und Beispiel kräftigen.

Ich werde versuchen, Ihr Beispiel zu verwerten, und einen Teil Ihres Briefes abdrucken.1 Wir stimmen im Allgemeinen mit Ihnen überein (Ihre Gedanken begegnen sich mit den meinen in den „Zwei Taktiken"). Mir scheint nur, dass Sie die Menschewiki unnötigerweise für die Worte tadeln: Vorbereitung der Massen zum Aufstande. Wenn es auch ein Fehler ist, so ist er doch nicht grundlegend.

Ich drücke fest Ihre Hand

Ihr Lenin

1 Der Brief Gussews wurde in Nr. 20 des „Proletarij" vom 27. September/10. Oktober 1905 auszugsweise abgedruckt. Dem Briefe wurde eine von Lenin geschriebene kurze Einleitung „Von der Redaktion" mit der Überschrift „Sprechsaal der Leser" vorausgeschickt, worin es heißt: „Wir veröffentlichen Auszüge aus dem Briefe eines Genossen, der Mitglied eines Komitees unserer Partei ist. Dieser Genosse ist einer von den wenigen, die nicht nur für das Zentralorgan korrespondieren, sondern auch über ihre Auffassung der Taktik, über die Art, wie sie dieselbe durchführen, plaudern. Ohne solche Unterhaltungen, die überhaupt nicht von vornherein für die Presse bestimmt sind, ist die allgemeine Herausarbeitung einer einheitlichen Parteitaktik nicht möglich. Ohne einen solchen Meinungsaustausch mit den Praktikern kann die Redaktion einer im Ausland erscheinenden Zeitung niemals die Stimme der ganzen Partei wirklich wiedergeben. Deshalb veröffentlichen wir die Meinungsäußerung eines nur mit einem kleinen Teil der neuen Literatur bekannten Genossen, um womöglich eine größere Zahl praktisch tätiger Genossen zu ähnlichen Unterhaltungen und zum Meinungsaustausch über alle Parteifragen aufzumuntern.

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