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Wladimir I. Lenin 19051013 Brief an S. I. Gussew

Wladimir I. Lenin: Brief an S. I. Gussew

[Geschickt von Genf nach Odessa. Zum ersten Mal veröffentlicht 1926 im „Leninski Sbornik", Nr. 5. Nach Werke Band 36, Berlin 1962, S. 343-347]

13. X. 05

Lieber Freund! Die Resolution des Odessaer Parteikomitees über den gewerkschaftlichen Kampf („Beschlüsse" Nr. 6 oder 5, es ist unklar1; im Brief Nr. 24. Datiert September 1905) scheint mir in hohem Grade fehlerhaft. Ich glaube, dass sich dieser Fehler auf natürliche Weise dadurch erklärt, dass man sich von dem Kampfe gegen die Menschewiki hinreißen lässt, aber man darf doch nicht ins entgegengesetzte Extrem verfallen. Und die Resolution fällt gerade in dieses andere Extrem. Ich möchte mir daher erlauben, die Resolution des Odessaer Komitees kritisch zu untersuchen, und bitte die Genossen, meine Einwände zu erwägen, die keineswegs durch den Wunsch zu nörgeln hervorgerufen sind.

Die Resolution enthält drei (nicht nummerierte) Teile in der Motivierung und fünf (nummerierte) Teile in der eigentlichen Resolution. Der erste Teil (Ausgangspunkt der Motivierung) ist durchaus gut: „In allen Erscheinungsformen des Klassenkampfes des Proletariats die Führung" auf sich nehmen und „diese Aufgabe", den Gewerkschaftskampf zu leiten, „niemals vergessen". Vortrefflich. Weiter der zweite Punkt: „In erster Linie" wird da die Aufgabe der Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes gestellt, und dadurch wird (Punkt 3 oder Schluss der Motivierung) „die Aufgabe der Führung des gewerkschaftlichen Kampfes des Proletariats unvermeidlich an die zweite Stelle gerückt". Das ist, meiner Ansicht nach, theoretisch unrichtig und taktisch falsch.

Unrichtig ist die theoretische Nebeneinanderstellung zweier Aufgaben, als wären sie gleichwertig, als lägen sie auf der gleichen Ebene: die „Aufgabe der Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes" und die „Aufgabe der Führung des gewerkschaftlichen Kampfes". Die eine Aufgabe stehe angeblich an erster Steile, die andere an zweiter Stelle. Wenn man das sagt, vergleicht man Dinge verschiedener Art und stellt sie nebeneinander Der bewaffnete Aufstand ist im gegebenen Augenblick ein Mittel des politischen Kampfes. Der Gewerkschaftskampf ist eine der ständigen, beim Kapitalismus immer notwendigen, zu allen Zeiten unerlässlichen Äußerungen der ganzen Arbeiterbewegung. Engels unterscheidet an einer von mir in „Was tun?" zitierten Stelle drei Grundformen des proletarischen Kampfes: den ökonomischen, den politischen und den theoretischen – also den gewerkschaftlichen, den politischen und den theoretischen (wissenschaftlichen, ideologischen, philosophischen). Wie kann man eine dieser Grundformen des Kampfes (die gewerkschaftliche) in eine Reihe stellen mit der Methode einer anderen Grundform des Kampfes im gegebenen Augenblick? Wie kann man den ganzen gewerkschaftlichen Kampf als „Aufgabe" in eine Reihe stellen mit einem gegenwärtigen Mittel des politischen Kampfes, das bei weitem nicht das einzige ist? Das ist eine ganz ungereimte Sache, etwa von der Art der Addition eines Zehntelbruchs mit einem Hundertstelbruch, ohne sie vorher auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Nach meiner Ansicht müssen diese beiden (der zweite und der dritte) Punkte der Motivierung beseitigt werden. Mit der „Aufgabe der Führung des gewerkschaftlichen Kampfes" kann man nur die Aufgabe der Führung des ganzen politischen Kampfes überhaupt und die Aufgabe der Führung des gesamten ideologischen Kampfes überhaupt in eine Reihe stellen, keineswegs aber diese oder jene aufgeworfenen Teil- und Gegenwartsaufgaben des politischen oder ideologischen Kampfes. Diese beiden Punkte müssten durch den Hinweis ersetzt werden, dass der politische Kampf, die Aufklärung der Arbeiterklasse über die Gesamtheit der sozialdemokratischen Ideen und die Notwendigkeit, zur Schaffung einer geschlossenen, wahrhaft sozialdemokratischen Bewegung unbedingt eine enge, unzerreißbare Verbindung aller Erscheinungsformen der Arbeiterbewegung zu erstreben, keinen Augenblick vergessen werden dürfen. Dieser Hinweis könnte den zweiten Punkt der Motivierung bilden. Der dritte könnte in der Feststellung der Notwendigkeit bestehen, vor einer engherzigen Auffassung und engherzigen Gestaltung des Gewerkschaftskampfes, wie sie von der Bourgeoisie eifrig verbreitet werden, zu warnen. Ich schlage natürlich keinen Resolutionsentwurf vor und berühre nicht die Frage, ob es zweckmäßig ist, darüber gesondert zu sprechen; ich untersuche einstweilen nur, welcher Ausdruck eures Gedankens der theoretisch richtige wäre.

Taktisch stellt die Resolution in ihrer gegenwärtigen Form die Aufgabe des bewaffneten Aufstandes sehr ungeschickt. Der bewaffnete Aufstand ist die höchste Form des politischen Kampfes. Zu seinem Erfolge vom Standpunkte des Proletariats, d.h. zum Erfolge des proletarischen, nur von der Sozialdemokratie geführten, und nicht eines anderen Aufstandes ist weitgehende Entfaltung aller Seiten der Arbeiterbewegung notwendig. Die Aufgabe des Aufstandes der Aufgabe der Führung des gewerkschaftlichen Kampfes gegenüberzustellen, ist daher absolut unrichtig. Dadurch wird die Aufgabe des Aufstandes herabgesetzt, verkleinert. Statt Fazit und Krönung der ganzen Arbeiterbewegung in ihrer Gesamtheit zu sein, wird der Eindruck einer Sonderstellung der Aufgabe des Aufstandes erweckt. Es ist, wie wenn zwei Dinge verwechselt würden: die Resolution über den Gewerkschaftskampf im Allgemeinen (von diesem Thema handelt die Resolution des Odessaer Komitees) und die Resolution über die Verteilung der Kräfte bei der gegenwärtigen Arbeit des Odessaer Komitees (dahin entgleist eure Resolution und das ist etwas ganz und gar anderes).

Ich gehe zu den nummerierten Punkten des im engen Sinne resolutiven Teiles über.

Ad. I. Die „Illusionen zerstören", „die sich an die Gewerkschaften knüpfen" das geht noch an, obwohl es besser wegzulassen wäre. Erstens gehört das zu den Motivierungen, in denen der unauflösliche Zusammenhang aller Seiten der Bewegung nachgewiesen werden muss. Zweitens wird nicht erwähnt, welche Illusionen. Aber wenn man das schon einfügt, so muss hinzugefügt werden: die bürgerlichen Illusionen über die Möglichkeit der Befriedigung der wirtschaftlichen und sonstigen Bedürfnisse der Arbeiterklasse in der kapitalistischen Gesellschaft.

„…ihre (der Verbände?) Beschränktheit im Verhältnis zu den Endzielen der Arbeiterbewegung unablässig zu unterstreichen". Das sieht so aus, als wenn alle Gewerkschaften „beschränkt" wären. Und wie steht es mit den sozialdemokratischen Gewerkschaften, die mit der politischen Organisation des Proletariats verbunden sind? Der Schwerpunkt liegt nicht darin, dass die Gewerkschaften „beschränkt" sind, sondern dass man diese eine Seite der Bewegung (und weil sie nur eine Seite der Bewegung ist, ist sie beschränkt) mit den anderen verbindet. Also entweder weglassen, oder wiederum die Notwendigkeit erwähnen, den Zusammenhang dieser einen Seite mit allen anderen herzustellen und zu befestigen, die Gewerkschaften mit sozialdemokratischem Inhalt, mit sozialdemokratischer Propaganda zu erfüllen, sie in die gesamte sozialdemokratische Arbeit hereinzuziehen usw.

Ad. II. Ist gut.

Ad. III. Es ist aus den erwähnten Gründen nicht richtig, die Aufgaben der Gewerkschaften der „vornehmsten und allernächsten Aufgabe" des bewaffneten Aufstandes gegenüberzustellen. Über den bewaffneten Aufstand braucht in der Resolution zum Gewerkschaftskampf nicht gesprochen zu werden, denn er ist ein Mittel jener „Niederwerfung des zaristischen Absolutismus", die in Punkt II behandelt wird. Die Gewerkschaften könnten die Basis, aus der wir die Kraft für den Aufstand schöpfen werden, erweitern, so dass es, wie bereits gesagt, unrichtig ist, das eine dem andern gegenüberzustellen.

Ad. IV. Einen „energischen ideologischen Kampf gegen die sogenannte Minderheit führen", gegen die Rückkehr zum „Ökonomismus" „in der Gewerkschaftsfrage". Ist das für eine Resolution des Odessaer Komitees nicht zu allgemein? Klingt das nicht übertrieben? In der Presse ist ja keine einzige Resolution aller Menschewiki über die „Gewerkschaften" einer Kritik unterzogen worden. Es wurde lediglich darauf hingewiesen, dass sie von den Liberalen gelobt werden wegen der Tendenz, diese Frage mit mehr Eifer als Verstand zu betreiben. Aber hieraus ist nur die Folgerung zu ziehen, dass wir in der Sache „mit Verstand" eifern müssen, aber eifern müssen wir unbedingt auch. Nach meiner Ansicht muss man entweder diesen Punkt ganz weglassen und sich darauf beschränken, vor Beschränktheit zu warnen und die Bekämpfung der Tendenz der Bourgeoisie und der Liberalen, die Aufgaben der Gewerkschaften zu entstellen, anzuführen – oder man muss diesen Punkt besonders und im Zusammenhang mit irgendeiner bestimmten Resolution der Menschewiki formulieren (mir sind solche Resolutionen im Augenblick nicht bekannt; vielleicht sind bei euch im Süden irgendwelche Akimowschen aufgetaucht).

Ad. V. Ist recht gut. Die Worte „und wenn möglich die Führung" würde ich durch „und die Führung" ersetzen. Wir tun alles „wenn möglich". Die Einfügung dieses Wortes an dieser Stelle und nur hier wird die falsche Deutung hervorrufen, dass wir die Führung weniger erstreben usw.

Nach meiner Ansicht müsste man sich im Allgemeinen davor hüten, den Kampf gegen die Menschewiki in dieser Frage zu übertreiben. Gerade jetzt werden wahrscheinlich bald die Gewerkschaftsverbände zu entstehen beginnen. Man darf nicht abseits stehen, man darf vor allem nicht zu der falschen Auffassung Anlass geben, dass man abseits stehen soll, sondern man muss vielmehr bestrebt sein, teilzunehmen, Einfluss auszuüben usw. Es gibt ja eine besondere Schicht von Arbeitern, die Älteren, Verheirateten, die jetzt im politischen Kampf furchtbar wenig, aber im gewerkschaftlichen sehr viel leisten werden. Man muss diese Schicht ausnutzen und ihre Schritte auf diesem Gebiete nur lenken. Es ist für die russische Sozialdemokratie wichtig, in der Gewerkschaftsfrage gleich von Anfang an den richtigen Ton anzuschlagen und auf diesem Gebiete sofort eine Tradition sozialdemokratischer Initiative, sozialdemokratischer Teilnahme, sozialdemokratischer Führung zu schaffen. Natürlich können die Kräfte in der Praxis nicht ausreichen, aber das ist eine ganz andere Frage. Übrigens: wenn man es fertig bringt, alle verschiedenartigen Kräfte auszuwerten, so werden sich auch für die Gewerkschaftsverbände immer welche finden. Es haben sich doch Kräfte gefunden, eine Resolution über die Gewerkschaften zu schreiben, d.h. sie ideologisch zu leiten, und das ist ja die Hauptsache.

Ich drücke Ihnen die Hand und bitte Sie, mir die Bestätigung dieses Briefes und Ihre Gedanken über ihn mit ein paar Worten zu schreiben.

Ihr N. Lenin

1 Die Resolution des Odessaer Komitees über den gewerkschaftlichen Kampf war den Akten des früheren Archivs des Polizeidepartements über die Odessaer Organisation beigelegt. Diese Resolution trägt die Überschrift „Beschluss des Odessaer Komitees, Nr. 5". Datiert ist sie vom September 1905. Unter der Resolution steht die Unterschrift: „Odessaer Komitee der SDAPR." Wir bringen ihren vollen Wortlaut:

In Erwägung, dass die Sozialdemokratie in allen Erscheinungsformen des Klassenkampfes des Proletariats die Führung übernimmt und darum auch den gewerkschaftlichen Kampf der Arbeiterklasse führen muss, ohne je diese Aufgabe zu vergessen;

dass anderseits die politische Lage, wie sie sich heute in Russland gestaltet hat, der Partei in erster Linie die Aufgabe stellt, den bewaffneten Aufstand zur Niederwerfung des zaristischen Absolutismus und zur Eroberung der demokratischen Republik zu organisieren;

dass infolgedessen die Aufgaben der Führung des gewerkschaftlichen Kampfes des Proletariats unvermeidlich an die zweite Stelle gerückt wird; –

erachtet das Odessaer Komitee in der Frage der Gewerkschaften für notwendig:

I. In unserer Propaganda und Agitation alle Illusionen zu zerstören, die sich an die Gewerkschaften knüpfen, und ihre Beschränktheit im Verhältnis zu den Endzielen der Arbeiterbewegung unablässig zu unterstreichen;

II. Dem Proletariat klar zu machen, dass eine breite und fest gegründete Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung unter dem absolutistischen Regime undenkbar und dass zu einer solchen Entwicklung vor allem der Sturz des zaristischen Absolutismus erforderlich ist;

III. In der Propaganda und Agitation unablässig zu unterstreichen, dass die vornehmste und dringendste Aufgabe des kämpfenden Proletariats die sofortige Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes zur Niederwerfung des zaristischen Absolutismus und die Eroberung der demokratischen Republik ist;

IV. Einen energischen ideologischen Kampf gegen die sogenannten „Menschewiki" zu führen, die in der Gewerkschaftsfrage zu dem beschränkten, unrichtigen Gesichtspunkt des „Ökonomismus" zurückkehren, der die Aufgaben der Sozialdemokratie einschränkt und die Entfaltung der proletarischen Bewegung aufhält;

V. Alle Maßnahmen zu treffen, um der Sozialdemokratie in allen neu entstehenden und bereits bestehenden legalen und illegalen Gewerkschaften den Einfluss und womöglich die Führung zu sichern…"

Diese Resolution war von S. I. Gussew geschrieben und vom Komitee genehmigt. Die von Lenin angeführte „Entschließung Nr. 6" war eine Resolution über die Unterstützung der Bauernbewegung.

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