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Wladimir I. Lenin 19050114 Der Fall Port Arthurs

Wladimir I. Lenin: Der Fall Port Arthurs

[„Wperjod" Nr. 2 1./14. Januar 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 57-66]

Port Arthur hat kapituliert. Dieses Ereignis ist eine der größten Begebenheiten der modernen Geschichte. Diese drei Worte, die der Telegraph gestern nach allen Ecken und Enden der zivilisierten Welt trug, rufen einen erschütternden Eindruck hervor, den Eindruck einer ungeheuren und schrecklichen Katastrophe, eines Unglücks, das sich in Worten schwer ausdrücken lässt. Die moralische Stärke eines mächtigen Reiches bricht zusammen; das Prestige einer jungen Rasse, die noch nicht die Möglichkeit hatte, sich gebührend zu entfalten, verblasst. Einem ganzen politischen System wird das Urteil gesprochen, eine lange Reihe von Prätensionen wird abgebrochen, kraftvolle Anstrengungen brechen in sich zusammen. Natürlich war der Fall Port Arthurs schon lange vorauszusehen, schon lange beruhigte man sich mit Worten, tröstete man sich mit immer bereit gehaltenen Phrasen. Aber die greifbare, brutale Tatsache zerschlägt die ganze konventionelle Lüge. Jetzt lässt sich die Bedeutung des vollzogenen Zusammenbruchs nicht mehr abschwächen. Zum ersten Mal ist die alte Welt durch eine nicht wieder gutzumachende Niederlage erniedrigt worden, die ihr von der so geheimnisvollen und anscheinend jugendfrischen, seit gestern erst zur Zivilisation berufenen neuen Welt beigebracht wurde."

So schrieb unter dem unmittelbaren Eindruck des Ereignisses eine solide europäische bürgerliche Zeitung. Und man muss zugeben, es ist ihr nicht nur gelungen, plastisch die Stimmung der ganzen europäischen Bourgeoisie auszudrücken; durch den Mund dieser Zeitung spricht der wirkliche Klasseninstinkt der Bourgeoisie der alten Welt, die von den Erfolgen einer neuen bürgerlichen Welt beunruhigt ist, die aufgeregt ist durch den Zusammenbruch der russischen Militärmacht, die lange als die sicherste Stütze der europäischen Reaktion galt. Kein Wunder, dass selbst die am Kriege unbeteiligte europäische Bourgeoisie sich dennoch erniedrigt und bedrückt fühlt. Sie war so sehr gewohnt, die moralische Stärke Russlands mit der militärischen Stärke des europäischen Gendarmen zu identifizieren. Für sie war das Prestige der jungen russischen Rasse untrennbar mit dem Prestige einer unerschütterlich starken, die gegenwärtige „Ordnung" treu beschützenden Zarengewalt verbunden. Kein Wunder, dass die Katastrophe des regierenden und kommandierenden Russlands der gesamten europäischen Bourgeoisie „furchtbar" erscheint: diese Katastrophe bedeutet eine ungeheure Beschleunigung der weltkapitalistischen Entwicklung, eine Beschleunigung der Geschichte, und die Bourgeoisie weiß sehr gut, weiß nur zu gut, sie weiß es aus bitterer Erfahrung, dass eine solche Beschleunigung die Beschleunigung der sozialen Revolution des Proletariats ist. Die westeuropäische Bourgeoisie hatte sich in der Atmosphäre des langjährigen Stillstandes, unter den Fittichen des „mächtigen Kaiserreiches", sicher gefühlt, und da wagt es plötzlich eine „geheimnisvolle, jugendfrische" Macht, diesen Stillstand zu durchbrechen und diese Stützen zu zerstören.

Ja, die europäische Bourgeoisie hat allen Grund, zu erschrecken. Das Proletariat hat allen Grund, sich zu freuen. Die Katastrophe unseres ärgsten Feindes bedeutet nicht nur das Herannahen der russischen Freiheit. Sie prophezeit auch einen neuen revolutionären Aufschwung des europäischen Proletariats.

Aber warum und in welchem Maße stellt der Fall Port Arthurs tatsächlich eine historische Katastrophe dar?

Vor allem springt die Bedeutung dieses Geschehnisses für den Fortgang des Krieges in die Augen. Das Kriegsziel der Japaner ist in der Hauptsache erreicht. Das progressive, fortgeschrittene Asien hat dem rückständigen und reaktionären Europa einen nicht wieder gutzumachenden Schlag versetzt. Zehn Jahre früher war dieses reaktionäre Europa, mit Russland an der Spitze, durch die Zertrümmerung Chinas durch das junge Japan in Unruhe versetzt worden und es hatte sich zusammengeschlossen, um Japan die besten Früchte seines Sieges zu entreißen. Europa schützte die geschichtlich gewordenen Beziehungen und Privilegien der alten Welt, es schützte sein Vorrecht, sein durch Jahrhunderte geheiligtes uraltes Recht auf die Ausbeutung der asiatischen Völker. Die Rückeroberung Port Arthurs durch Japan ist ein Schlag gegen das ganze reaktionäre Europa. Sechs Jahre lang besaß Russland Port Arthur, es wendete Hunderte und Aberhunderte von Millionen Rubel auf für strategische Eisenbahnen, für die Anlegung von Häfen, für den Bau neuer Städte, für die Verstärkung der Festung, die von allen von Russland bestochenen und vor Russland kriechenden europäischen Zeitungen als uneinnehmbar gepriesen wurde. Die Militärschriftsteller sagten, Port Arthur sei sechsmal so stark wie Sewastopol. Und siehe da, das kleine, bisher von allen verachtete Japan erobert in acht Monaten diese Feste, während England und Frankreich zusammen für die Eroberung von Sewastopol allein ein ganzes Jahr gebraucht hatten. Dieser militärische Schlag ist nicht wieder gutzumachen. Die Frage der Vorherrschaft auf dem Meere – die Haupt- und Grundfrage des gegenwärtigen Krieges – ist entschieden. Die russische Flotte im Stillen Ozean, die zu Beginn des Krieges mindestens ebenso stark, wenn nicht stärker als die japanische war, ist endgültig vernichtet, der Flotte ist die Operationsbasis selbst entzogen und dem Geschwader Roschdestwenskis bleibt nichts übrig, als nach nutzloser Verschwendung neuer Millionen, nach dem großen Sieg der grimmen Panzerschiffe über die englischen Fischerboote, schimpflich zurückzukehren. Der materielle Verlust Russlands allein an Schiffen wird auf 300 Millionen Rubel geschätzt. Noch wichtiger aber ist der Verlust von etwa zehntausend der besten Marinemannschaft, der Verlust einer ganzen Landarmee. Viele europäische Zeitungen bemühen sich jetzt, die Bedeutung dieser Verluste abzuschwächen, sie ereifern sich dabei bis zur Lächerlichkeit, und gehen so weit, zu sagen, dass Kuropatkin nun „erleichtert" und von der Sorge um Port Arthur „befreit" sei! Das russische Heer ist auch von einer ganzen Armee befreit. Die Zahl der Gefangenen beträgt, nach den letzten englischen Angaben, 48.000 Mann, und wie viel Tausende sind in den Schlachten bei Kin-Tschou und vor der Festung selbst zugrunde gegangen. Die Japaner setzen sich endgültig in den Besitz von ganz Liaotung, gewinnen einen Stützpunkt von unermesslicher Bedeutung, von dem aus sie auf Korea, China und die Mandschurei einen Druck ausüben können, bekommen für den Kampf gegen Kuropatkin eine kampferprobte Armee von 80.000 bis 100.000 Mann frei, die dazu noch im Besitz einer riesigen schweren Artillerie ist, deren Heranbringung an den Schaho-Fluss ihnen ein erdrückendes Übergewicht über die russischen Hauptstreitkräfte geben wird.

Die absolutistische Regierung soll, wie die ausländischen Zeitungen melden, beschlossen haben, den Krieg um jeden Preis fortzusetzen und Kuropatkin ein Heer von 200.000 Mann zu schicken. Es kann sehr wohl sein, dass der Krieg sich noch lange hinzieht, aber seine Hoffnungslosigkeit ist schon jetzt offensichtlich und jedes Hinausziehen wird nur die unzähligen Leiden verschärfen, die das russische Volk deshalb trägt, weil es das Joch des Absolutismus noch auf seinem Nacken duldet. Die Japaner haben auch bisher schneller und reichlicher als die Russen ihre Truppen nach jedem größeren Gefecht verstärkt. Jetzt aber, da sie die völlige Herrschaft zur See und die völlige Vernichtung einer der russischen Armeen erreicht haben, werden sie imstande sein, doppelt so viel Verstärkungen heranzuschaffen wie die Russen. Die Japaner haben bisher die russischen Generale immer wieder geschlagen, trotzdem ihre ganze beste Artillerie durch den Festungskrieg in Anspruch genommen war. Jetzt haben die Japaner die volle Konzentration ihrer Kräfte erreicht, und die Russen haben nicht nur für Sachalin, sondern auch für Wladiwostok zu fürchten. Die Japaner haben den besten und am dichtesten bevölkerten Teil der Mandschurei besetzt, wo sie das Heer auf Kosten des eroberten Landes und mit Hilfe Chinas verpflegen können. Die Russen aber müssen sich immer mehr auf den Proviant beschränken, der aus der Heimat herangeschafft wird, und eine weitere Vergrößerung der Armee wird für Kuropatkin infolge der Unmöglichkeit der Anfuhr genügenden Proviants bald unmöglich werden.

Aber der militärische Zusammenbruch, den der Absolutismus erlitten hat, gewinnt noch größere Bedeutung als Anzeichen für das Scheitern unseres ganzen politischen Systems. Unwiederbringlich sind jene Zeiten dahin, wo die Kriege von Söldnern oder von Vertretern einer dem Volke halb entfremdeten Kaste geführt wurden. Die Kriege werden jetzt von den Völkern geführt – selbst ein Kuropatkin beginnt jetzt, nach dem Zeugnis von Nemibowitsch-Dantschenko, zu begreifen, dass diese Wahrheit nicht nur für Stilübungen von Bedeutung ist. Die Kriege werden jetzt von den Völkern geführt, und deswegen tritt heute besonders deutlich die große Eigenschaft des Krieges hervor: dass er in der Tat vor den Augen von Millionen und Abermillionen Menschen jenes Missverhältnis zwischen Volk und Regierung aufdeckt, das bis dahin nur einer kleinen denkenden Minderheit sichtbar gewesen ist. Die Kritik des Absolutismus seitens aller fortgeschrittenen Russen, seitens der russischen Sozialdemokratie, seitens des russischen Proletariats, ist jetzt durch die Kritik der japanischen Waffen bestätigt worden, so sehr bestätigt, dass die Unmöglichkeit, unter dem Absolutismus zu leben, immer mehr selbst von denen empfunden wird, die nicht wissen, was der Absolutismus bedeutet, und selbst von denen, die es wissen und von ganzer Seele den Absolutismus aufrechterhalten möchten. Die Unvereinbarkeit des Absolutismus mit den Interessen der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung, mit den Interessen des ganzen Volkes (abgesehen von einer Handvoll Bürokraten und Magnaten) hat sich klar gezeigt, sobald das Volk in der Tat, mit seinem eigenen Blut, für den Absolutismus die Rechnung bezahlen sollte. Durch sein dummes und verbrecherisches Kolonialabenteuer ist der Absolutismus in eine Sackgasse geraten, aus der nur das Volk selbst sich befreien kann, und nur um den Preis der Zerstörung des Zarismus.

Der Fall Port Arthurs zieht eine der gewaltigsten historischen Bilanzen jener Verbrechen des Zarismus, die von Anfang des Krieges an in Erscheinung zu treten begannen und die jetzt in noch größerem Maße noch unaufhaltsamer in Erscheinung treten werden. Nach uns die Sintflut! – so räsonierte jeder kleine und große Alexejew, ohne daran zu denken, ohne daran zu glauben, dass die Sintflut wirklich kommen wird. Die Generale und Feldherren erwiesen sich als talentlos, als Nullen. Die ganze Geschichte des Feldzuges von 1904 war, nach dem autoritativen Zeugnis eines englischen Militärschriftstellers (in den „Times"), eine „verbrecherische Vernachlässigung der elementaren Grundsätze der See- und Landstrategie". Die zivile und die militärische Bürokratie erwies sich als ebenso schmarotzerhaft und feil, wie zu den Zeiten der Leibeigenschaft. Das Offizierskorps erwies sich als ungebildet, unentwickelt, unvorbereitet, ohne engen Zusammenhang mit den Soldaten und ohne deren Vertrauen. Die Finsternis, die Unwissenheit, das Analphabetentum, die Verschüchtertheit der Bauernmasse offenbarten sich mit erschreckender Deutlichkeit bei dem Zusammenstoß mit einem fortschrittlichen Volke in einem modernen Kriege, der ebenso notwendig ein hochqualifiziertes Menschenmaterial erfordert, wie die moderne Technik. Ohne aufgeweckte Soldaten und Matrosen mit eigener Initiative ist im modernen Krieg ein Erfolg unmöglich. Keine Ausdauer, keine Körperkraft, keine herdenmäßige Geschlossenheit im Massenkampf vermag in der Epoche der kleinkalibrigen Schnellfeuergewehre, der Maschinengewehre, der komplizierten technischen Ausrüstung auf den Schiffen, der aufgelösten Schützenlinie in den Landgefechten das Übergewicht zu verleihen. Die Militärmacht des absolutistischen Russlands hat sich als eine Attrappe erwiesen. Der Zarismus offenbart sich als ein Hindernis für die moderne, auf der Höhe der neuesten Anforderungen stehende Organisation des Kriegswesens, desselben Kriegswesens, dem sich doch der Zarismus mit ganzer Seele hingab, auf das er am meisten stolz war, dem er ungezählte Opfer darbrachte, ohne sich im Geringsten um die Opposition des Volkes zu kümmern. Ein aufgeputzter Leichnam – als das erwies sich der Absolutismus auf dem Gebiete der Außenverteidigung, der ihm nächstliegenden und sozusagen liebsten Spezialität. Die Ereignisse haben bestätigt, wie recht jene Ausländer hatten, die sich lustig machten, wenn sie mit ansahen, wie Dutzende, ja Hunderte Millionen Rubel vergeudet wurden zum Ankauf und Bau prächtiger Kriegsschiffe, und die darauf hinwiesen, dass diese Ausgaben nutzlos seien, wenn man nicht mit modernen Schiffen umzugehen versteht, wenn die Leute fehlen, die mit Sachkenntnis sich der neuesten Errungenschaften der Kriegstechnik zu bedienen verstehen. Sowohl die Flotte wie die Festung, die Feldbefestigungen wie die Landarmee haben sich als rückständig und völlig untauglich erwiesen.

Der Zusammenhang zwischen der militärischen Organisation eines Landes und seiner ganzen wirtschaftlichen und kulturellen Struktur war noch nie so eng wie heutzutage. Der militärische Zusammenbruch musste daher zum Beginn einer tiefgreifenden politischen Krise werden. Der Krieg eines fortgeschrittenen Landes mit einem rückständigen hat auch diesmal, wie schon so oft in der Geschichte, eine große revolutionäre Rolle gespielt. Und das klassenbewusste Proletariat, das ein erbarmungsloser Gegner des Krieges, dieses unvermeidlichen und unzertrennlichen Begleiters aller Klassenherrschaft überhaupt ist, kann die Augen nicht verschließen vor dieser revolutionären Aufgabe, die die japanische Bourgeoisie durch die Zertrümmerung des Absolutismus erfüllt. Das Proletariat steht jeder Bourgeoisie und allen Äußerungen der bürgerlichen Ordnung feindlich gegenüber, aber diese Feindschaft enthebt es nicht der Pflicht, zwischen den historisch fortschrittlichen und den reaktionären Vertretern der Bourgeoisie zu unterscheiden. Es ist deshalb durchaus verständlich, dass die konsequentesten und entschiedensten Vertreter der revolutionären internationalen Sozialdemokratie, Jules Guesde in Frankreich und Hyndman in England, ohne Umschweife ihre Sympathie für Japan, das den russischen Absolutismus prügelt, zum Ausdruck brachten. Bei uns in Russland haben sich natürlich Sozialisten gefunden, die sich auch in dieser Frage konfus zeigten. Die „Rewoluzionnaja Rossija" hat Guesde und Hyndman eine Rüge erteilt und erklärt, ein Sozialist könne nur für das werktätige Japan, das Japan des arbeitenden Volkes, nicht aber für das bürgerliche Japan sein1. Diese Rüge ist ebenso albern, als wollte man einen Sozialisten verdammen, weil er die freihändlerische Bourgeoisie als fortschrittlich im Vergleich zu der schutzzöllnerischen anerkennt. Guesde und Hyndman haben die japanische Bourgeoisie und den japanischen Imperialismus nicht in Schutz genommen, aber sie haben in Bezug auf den Zusammenstoß zweier bürgerlicher Länder die historisch-fortschrittliche Rolle des einen der beiden richtig festgestellt. Die Gedankenverwirrung der „Sozialrevolutionäre" war natürlich das unvermeidliche Resultat der Verständnislosigkeit unserer radikalen Intellektuellen gegenüber dem Klassenstandpunkt und dem historischen Materialismus. Die Konfusion konnte auch bei der neuen „Iskra" nicht ausbleiben. Anfangs verzapfte sie Phrasen über „Frieden unter allen Umständen". Sie beeilte sich dann, sich zu „korrigieren", als Jaurès anschaulich gezeigt hatte, wessen Interessen, der progressiven oder der reaktionären Bourgeoisie, eine quasi-sozialistische Kampagne zugunsten des Friedens überhaupt dienen müsse. Sie ist schließlich bei banalen Erörterungen darüber angelangt, wie unangebracht es sei, auf den Sieg der japanischen Bourgeoisie zu „spekulieren" (!!?), und darüber, dass der Krieg ein Unglück sei, „unabhängig davon", ob er mit einem Siege oder einer Niederlage des Absolutismus ende2.

Nein. Die Sache der russischen Freiheit und des Kampfes des russischen (und des (internationalen) Proletariats um den Sozialismus hängt sehr stark von den militärischen Niederlagen des Absolutismus ab. Diese Sache hat durch den militärischen Zusammenbruch, der allen europäischen Ordnungshütern Schrecken einjagt, viel gewonnen. Das revolutionäre Proletariat muss unermüdlich gegen den Krieg agitieren und immer daran denken, dass die Kriege unausrottbar sind, solange sich die Klassenherrschaft überhaupt hält. Mit banalen Phrasen über den Frieden à la Jaurès kann man der unterdrückten Klasse nicht helfen, die für den bürgerlichen Krieg zwischen zwei bürgerlichen Nationen nicht verantwortlich ist, die alles tut, um jede Bourgeoisie überhaupt zu stürzen, die die Unermesslichkeit des Volkselends auch während der „friedlichen" kapitalistischen Ausbeutung kennt. Aber indem wir gegen die freie Konkurrenz kämpfen, dürfen wir nicht vergessen, dass sie im Vergleich zur halb feudalen Gesellschaftsordnung fortschrittlich ist. Indem wir gegen jeden Krieg und jede Bourgeoisie kämpfen, müssen wir in unserer Agitation die fortschrittliche Bourgeoisie von dem feudalen Absolutismus streng unterscheiden, müssen wir immer die große revolutionäre Rolle des historischen Krieges feststellen, dessen unfreiwilliger Teilnehmer der russische Arbeiter ist.

Nicht das russische Volk, sondern der russische Absolutismus hat diesen Kolonialkrieg begonnen, der sich in einen Krieg zwischen der alten und der neuen bürgerlichen Welt verwandelt hat. Nicht das russische Volk, sondern der Absolutismus hat eine schimpfliche Niederlage erlitten. Das russische Volk hat durch die Niederlage des Absolutismus gewonnen. Die Kapitulation Port Arthurs ist der Prolog zur Kapitulation des Zarismus. Der Krieg ist noch lange nicht beendet, aber in seinem Fortgang verstärkt jeder Schritt die unermessliche Gärung und Empörung im russischen Volke und bringt uns dem Moment eines neuen großen Krieges näher, des Volkskrieges gegen den Absolutismus, des Krieges des Proletariats für die Freiheit. Nicht umsonst ist die sonst so ruhige und nüchterne europäische Bourgeoisie so erregt, die von ganzer Seele liberale Zugeständnisse des russischen Absolutismus begrüßen würde, die aber die russische Revolution als den Auftakt zur europäischen Revolution mehr als das Feuer fürchtet.

Etwa denselben Wert“ – (schreibt eines dieser nüchternen Organe der deutschen Bourgeoisie3 – „hat die vielfach fest eingewurzelte Anschauung, dass der Ausbruch einer Revolution in Russland eine pure Unmöglichkeit sei. Auch diese Ansicht wurde und wird mit allerhand Beweisgründen verfochten. Kenner des russischen Reiches melden sich zum Wort und weisen hin auf die träge Unbeweglichkeit der Bauernschaft, auf ihre treue Anhänglichkeit an den Zaren, auf ihre Abhängigkeit von den Geistlichen. Man erklärt, dass die extremen Elemente unter den Unzufriedenen nur ein kleines Häuflein seien, die wohl Putsche und Attentate, aber keine allgemeine Erhebung hervorrufen könnten. Der großen Masse der Unzufriedenen fehle es an Organisation, an Waffen, vor allem aber an dem Willen, ihre eigene Haut zu Markte zu tragen. Und zu alledem sei der gebildete Russe bloß bis etwa zu seinem dreißigsten Lebensjahre revolutionär gesinnt, darüber hinaus fühle er sich in dem warmen Neste einer staatlichen Anstellung durchaus behaglich, und der größte Teil der Heißsporne mache schließlich leichten Herzens eine Umwandlung zum Tschinownik mit allen seinen Fehlern durch."

Viele Anzeichen deuteten jedoch darauf hin, dass jetzt eine jähe Wandlung eingetreten sei. Heute sprächen von der Revolution in Russland schon nicht mehr allein die Revolutionäre, sondern auch jeder „Schwärmerei" abholde, solide Ordnungsstützen. Das Blatt verweist auf den Brief des Fürsten Trubezkoi an den Minister des Innern, der gegenwärtig durch die gesamte ausländische Presse läuft, und fährt fort:

Es muss doch also die Sorge und Befürchtung vor einer Revolution eine tatsächliche Grundlage haben. Freilich, dass etwa die Bauern in Russland zu den Heugabeln greifen würden, um die Einführung einer Verfassung zu erzwingen, daran denkt kein Mensch. Aber werden denn Revolutionen überhaupt vom flachen Lande gemacht? … Seit dem Emporwachsen der Großstädte sind es fast immer diese gewesen, welche die revolutionären Bewegungen trugen. Und auch in Russland gärt und brodelt es in den Städten von Süden nach Norden und von Osten nach Westen. Niemand vermag heute vorauszusagen, wie die Dinge schließlich verlaufen werden, aber so viel ist sicher, dass die Zahl derjenigen, die eine Revolution in Russland für ausgeschlossen erachten, von Tag zu Tag geringer wird. Bricht aber eine ernstliche Revolution aus, so ist es mehr als fraglich, ob die durch den ostasiatischen Krieg geschwächte Autokratie dem Ansturm wird standhalten können."

Jawohl. Die Autokratie ist geschwächt. Die Ungläubigsten beginnen an die Revolution zu glauben. Der allgemeine Glaube an die Revolution ist bereits der Beginn der Revolution. Für ihre Fortführung sorgt die Regierung selbst durch ihr Kriegsabenteuer. Für die Unterstützung und Ausbreitung eines ernstlichen revolutionären Ansturms wird das russische Proletariat sorgen.

1 Die Redaktion der französischen sozialistischen Zeitung „Mouvement Socialiste" („Sozialistische Bewegung") hatte sich an prominente Sozialisten verschiedener Länder mit der Bitte gewandt, ihre Ansicht über den russisch-japanischen Krieg zu äußern, darunter auch an Guesde und Hуndman. Das Organ der Sozialrevolutionäre „Rewoluzionnaja Rossija" schrieb in Nr. 46 vom 5./18. Mai 1904 in einer Notiz: „Der russisch-japanische Krieg und der internationale Sozialismus" u. a. folgendes: „Jules Guesde schreibt ,Irgendein Schwanken ist unmöglich. Im Interesse des Friedens für Frankreich und die ganze Welt, im Interesse der Befreiung Russlands selbst muss man gegen Russland, für Japan sein' … Die Antwort Hyndmans ist ein einziger Dithyrambus auf Japan Uns will es scheinen, dass schon die Fragestellung, bei der die Antwort, und obendrein die eines Sozialisten lauten kann: ,Ich bin gegen Russland, ich bin für Japan' grundfalsch ist. Wir sind vielmehr der Ansicht, dass alle Sozialisten lediglich für ein Japan des arbeitenden Volkes sein können und dürfen und deshalb gegen das ,imperialistische Japan' sein müssen."

2 In einem Flugblatt „Wer soll siegen", gezeichnet von der Redaktion der „Iskra" (undatiert), hieß es u. a.: „Siegt in diesem Kriege Russland, so wird es einen Sieg des Zaren und seiner Helfershelfer gleichermaßen über ganz Russland, über die Arbeiterklasse und über die Bourgeoisie sein. Siegt Japan und zerschmettert es Russland, so wird es ein Sieg der Bourgeoisie über die zaristische Regierung sein, worauf sie dann miteinander ein Bündnis schließen und ihre vereinten Kräfte gegen die Arbeiterklasse richten werden. Also für die Arbeiterklasse ist weder der volle Sieg Russlands noch seine Zerschmetterung durch Japan von Vorteil, obwohl die Wahrheit gesagt, keinerlei Zerschmetterung Russland mehr Schaden zufügen kann, als ihm jeder Tag der Existenz des Absolutismus zufügt. Doch die Arbeiterklasse braucht überhaupt nicht zwischen dem Sieg des Absolutismus und der Zerschmetterung Russlands zu wählen. Wenn auch das kleinere Übel, so wird ihr diese Zerschmetterung doch, wie wir gesehen haben, Leiden genug bringen. Was braucht also die Arbeiterklasse, was ist für sie von Vorteil? Sie braucht vor allem die Beendigung des Krieges. Sie braucht Frieden unter allen Umständen."

Das Auftreten von Jaurès, von dem Lenin hier spricht, war ein Artikel von ihm unter der Überschrift „Gegen den Krieg" in Nr. 182 der „Humanité". Die „Iskra" reagierte auf diesen Artikel von Jaurès in ihrer Nr. 56 vom 20. Oktober/2. November 1904 mit einem Artikel von Dan unter der gleichen Überschrift.

3 Die hier folgenden Zitate sind der „Vossischen Zeitung" entnommen (aus dem Artikel „Die Sorge vor der Revolution" in Nr. 9 dieser Zeitung vom 6. Januar 1905, Morgenausgabe).

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