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Wladimir I. Lenin 19051201 Die Waage schwankt

Wladimir I. Lenin: Die Waage schwankt

[Nowaja Schisn", Nr. 16, 18. November/1. Dezember 1905. Gezeichnet: N Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 8, S. 537 f.]

Der Zustand, den Russland durchlebt, wird oft mit dem Wort Anarchie bezeichnet. In Wirklichkeit drückt diese falsche und verlogene Bezeichnung nur aus, dass es im Lande keine gefestigte Ordnung gibt. Der Krieg des neuen, freien Russland gegen das alte, feudal-absolutistische ist auf der ganzen Linie im Gange. Der Absolutismus ist schon nicht mehr imstande, die Revolution zu besiegen, die Revolution ist noch nicht imstande, den Zarismus zu besiegen. Die alte Ordnung ist zerschlagen, sie ist aber auch noch nicht vernichtet; die neue, freie Ordnung besteht, ohne anerkannt zu sein, und hält sich halb versteckt, auf Schritt und Tritt von den Schergen des autokratischen Regimes verfolgt.

Eine solche Lage der Dinge kann noch eine ganze Weile fortdauern; sie wird unvermeidlich von Erscheinungen der Unbeständigkeit und des Schwankens auf allen Gebieten des sozialen und politischen Lebens begleitet werden. In diesem trüben Wasser werden nun unvermeidlich jene Leute zu fischen versuchen, die der Freiheit feindlich gesinnt sind und sich jetzt aus Kriegslist als Freunde der Freiheit aufspielen. Dieses Zwischenstadium wird aber um so sicherer zum vollen und entscheidenden Sieg des revolutionären Proletariats und Bauerntums führen, je länger es andauern wird. Denn nichts klärt auch die unwissendsten Massen in Stadt und Land in solchem Maße auf, nichts rüttelt auch die Gleichgültigsten und Schläfrigsten in solchem Maße auf, wie diese sich in die Länge ziehende Zersetzung des Absolutismus, der von allen gerichtet ist und diese seine Verurteilung selbst anerkannt hat.

Was besagen die jüngsten politischen Ereignisse, der neue große Streik der Post- und Telegraphenangestellten, das Umsichgreifen der Gärung und der revolutionären Organisation in der Armee und sogar in der Polizei, der Sieg des unaufgeklärten und durch Disziplin zusammengehaltenen Militärs über die Freiheitsarmee in Sewastopol, der noch nie dagewesene Kurssturz der Staatspapiere? Sie besagen, dass der Absolutismus seine letzten Pfeile verschießt, seine letzten Reserven verausgabt … Sogar die Börse, die alleruntertänigste, die bürgerlich-feige und nach dem Ende der Revolution bürgerlich lechzende Börse glaubt nicht den „Siegern" von Sewastopol Diese Ereignisse besagen, dass das revolutionäre Volk seine Eroberungen unaufhaltsam erweitert, indem es neue Kämpfer erstehen lässt, seine Kräfte übt, die Organisation verbessert, dem Siege entgegengeht, unaufhaltsam wie eine Lawine vorwärts schreitet.

Die Waffe des politischen Streiks vervollkommnet sich; diese Waffe lernen jetzt neue Reihen von Arbeitskräften handhaben, ohne die die zivilisierte Gesellschaft nicht einen einzigen Tag existieren kann. Die Erkenntnis von der Notwendigkeit der Freiheit nimmt in Armee und Polizei weiter zu und bereitet neue Herde des Aufstandes, ein neues Kronstadt, ein neues Sewastopol vor.

Die Sieger von Sewastopol haben kaum Grund zum Jubeln. Der Aufstand der Krim ist besiegt. Der Aufstand Russlands ist unbesiegbar.

Mögen sich denn die sozialdemokratischen Arbeiter auf noch größere Ereignisse vorbereiten, die ihnen ungeheure Verantwortung auferlegen werden!

Mögen sie nicht vergessen, dass nur die festgefügte sozialdemokratische Partei das Proletariat Russlands Hand in Hand mit dem sozialdemokratischen Proletariat der gesamten Welt zum Siege führen kann!

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